36. Offene Fragen

Helen machte es sich im nächtlichen Garten gemütlich, wo es angenehm kühl war. Sie hatte keine Lust, sich weiter mit Paul über ihre eigenen Befindlichkeiten auseinanderzusetzen. Manche Menschen lösten Kreuzworträtsel zum Zeitvertreib, sie rekonstruierte seit Tagen fein säuberlich die Ereignisse der letzten 48 Stunden ihres Vaters. Die Unfallgeschichte half ihr, sich abzulenken von dem nagenden Gefühl, dass sie irgendetwas Grundsätzliches in ihrem Leben verändern musste, wenn sie wollte, dass das Verhältnis zu ihren Schwestern sich verbesserte. Fakten, so sagte sie sich, schafften Sicherheit.

Alles hatte damit angefangen, dass Yella zu spät vom Strand gekommen war. Mit einer deutlichen Fahne. Ihr Vater war rasend vor Wut gewesen, als Yella, anstatt sich zu entschuldigen, darüber verhandelte, am nächsten Tag auf eine Party zu gehen.

Am Abend hatte dicke Luft geherrscht, die sich auch am nächsten Tag noch nicht geklärt hatte. Spielte diese Party irgendeine Rolle?

Im Schein der Terrassenbeleuchtung sammelte Helen zum wiederholten Mal Gründe, warum ihr Vater das Haus verlassen haben könnte. Was konnte so wichtig sein, dass man es auf keinen Fall aufschieben durfte? Wenn sie ausschloss, dass es pure Sensationsgier war, die ihn vor die Tür gelockt hatte, blieb eigentlich nur eine Möglichkeit. Es musste eine Art Notfall gewesen sein, der ihn geradezu gezwungen hatte, sich noch einmal auf den Weg zu machen. Wollte er jemanden besuchen? Einen befreundeten Maler vielleicht? Brauchte jemand seine tatkräftige Hilfe? Beim Auspumpen des Kellers? Beim Schleppen von Sandsäcken, die das Eindringen von Wasser verhindern sollten? Bei der Beseitigung von Sturmschäden?

Die Firma ihres Großvaters stellte klinische Geräte her. Ihr Vater hatte Maschinenbau studiert und verfügte vermutlich nur über medizinische Basiskenntnisse. Sie vermutete, dass er weder für ärztliche noch für praktische Notfälle gerüstet war. Was, wenn der Unfall etwas mit seiner eigenen Gesundheit zu tun hatte? Hatte er sich nicht wohl gefühlt? War er zur Apotheke gefahren? Zu einem Arzt? Hatte er im Wagen einen epileptischen Anfall erlitten? Einen Herzinfarkt? Irgendeinen allergischen Schock? Aber warum war er dann Richtung Bergen aan Zee unterwegs gewesen? Ärzte fand man eher im anderen Teil des Dorfes.

Und dazu war ihr Vater immer kerngesund gewesen.

Es musste, so schloss sie, jemanden gegeben haben, der ihn um Hilfe gebeten hatte. Jemanden, der bei der Beerdigung geschwiegen hatte. Jemanden, der bis heute schwieg. Es musste einen Mitwisser geben. Sie dachte wieder an den Mann, der heimlich Fotos von ihnen machte.

Vielleicht musste sie das Thema von einer anderen Seite einkreisen. Gab es vielleicht doch Zeugen? Einen zweiten Wagen, der in den Unfall verwickelt gewesen war?

Mit wem war ihre Mutter eigentlich im Theater gewesen? Sie erinnerte sich an die Freundinnen ihrer Mutter: Caroline, Marga, Eveline, Louise. Leider war der Campingplatz eine Welt ohne Nachnamen. Sie wusste, dass Louise die Mutter von Milou war, Doros Freundin. Aber wie um alles in der Welt sollte sie das enorme Patrizierhaus der Familie wiederfinden? Bei jedem Besuch in Amsterdam staunte sie, wie man sich in dieser Stadt überhaupt orientieren konnte. Ohne Pauls architektonisch geschultes Auge sahen die Grachtenhäuser und Kanäle alle gleich aus. Beim Googeln kam sie mit den Vornamen allein nicht weiter.

Von ihren Schwestern erwartete sie keine Hilfe. Doro vergrub sich in Arbeit, Amelie blendete den Unfall komplett aus und Yella versuchte seit Tagen, ihr so gut es ging auszuweichen. Helen konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich auch deswegen so sehr um Doro bemühte. Sie vermittelte ihr ununterbrochen den Eindruck, viel zu beschäftigt zu sein, um den Faden ihres Gesprächs neu aufzunehmen. Jede der Schwestern ging auf ihre spezielle Weise einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus dem Weg. Am Ende blieb wieder nur Sturm Ira, seufzte sie.

 

Als Helen die Haustür öffnete, fiel ihr auf, dass in dem verfallenen Anwesen gegenüber noch Licht brannte. Auf einmal überrollte sie das unbestimmte Gefühl, dass dort drüben eine verwandte Seele wohnte. Ein menschenscheues Individuum, das sich nicht aus der Deckung wagte. Ein stummer Beobachter, der neugierig war und bestimmt hundert Fragen hatte, aber sie nicht persönlich zu stellen wagte. Sie winkte unbestimmt in die Richtung der Überwachungskameras. Von einem Schlaflosen zum anderen.