37. Bilder im Kopf

Helen verließ das Haus, noch bevor die Schwestern wach waren. Die frühe Uhrzeit des Schwimmkurses machte ihr nichts aus. Sie liebte den morgendlichen Trip zum Hallenbad in Alkmaar genauso wie Nick und Leo. Die Wartezeit in der Kantine, die sie traditionell mit Pinguin Rudolf verbrachte, blieb eine Herausforderung für sie. Die Sonne knallte schon am frühen Morgen gnadenlos durch die großen Fensterfronten. Sie fühlte sich wie eine Echse, die in ihrem Terrarium zur Schau gestellt wurde. Kein Wunder, dass die Reptilien immer nur regungslos dösend auf einem Stein verharrten. Jede kleine Bewegung führte zu einem Schweißausbruch. Die chlorschwere Luft raubte ihr den Atem, das endlose Warten den Verstand. Google blieb als treuer Freund an ihrer Seite. Ihre letzte Hoffnung war, dass irgendwo noch Material lagerte, das noch nicht digitalisiert worden war. Eine Internetsuche ergab, dass das Regionalarchiv von Alkmaar und der Gemeinde Bergen zehn Minuten vom Schwimmbad entfernt lag.

 

Der enorme Klinkerbau mit den hohen Sprossenfenstern und dem imposanten Portal erinnerte sie an ihre Schulzeit. Schon damals zog sie die Bibliothek dem Pausenhof vor. Helen fühlte sich wohl in Studiensälen. Alleine und mit einem gewissen Sicherheitsabstand unter Menschen zu sein, hatte ihr immer gefallen und Bibliotheken zu einem vertrauten und integralen Bestandteil ihres Lebens gemacht. Gierig sog sie diesen leisen Hauch von Vanille ein, der überall in der Luft hing, als würde das in den Büchern verarbeitete Holz in extremer Zeitlupe vor sich hin kompostieren. Helen liebte die konzentrierte Stille, das Geräusch von Seiten, die leise umgeblättert wurden, und Fingern, die über Tastaturen glitten. Bibliotheken öffneten Portale zu aufregenden, fremden Welten und gestatteten einem, Dingen auf den Grund zu gehen. Sie war noch lange nicht fertig mit Sturm Ira. Und mit den Datenbanken.

 

Ein junger Mitarbeiter half ihr, die Geheimnisse der fremdsprachigen Suchmaske zu enträtseln. Sie war jetzt schon froh, dass dieses Archiv, das zum Teil auch online zu durchsuchen war, einen Präsenzdienst unterhielt. Es hätte sie Stunden gekostet, sich durch die unbekannte Sprache zu wuseln.

»Zoeken bedeutet suchen. Und wenn du Zeitungen einsehen willst, rufst du kranten auf«, erklärte er ihr. Helen kannte das Wort vom Zeitungskiosk, wo neben dem Boulevard-Blatt De Telegraaf das NRC Handelsblad, Algemeen Dagblad und Trouw auch De Volkskrant verkauft wurde. Volkszeitung hieß das demnach. Und in Bergen gab es immer auch das Noordhollands Dagblad, das jetzt ihre vorrangige Quelle war. Auf einem Zettel notierte sie die wichtigsten niederländischen Worte: storm, ongeluk, dodelijk, slachtoffer. Sturm, Unglück, tödlich, Opfer.

»Wenn du Fragen hast, jederzeit. Kaffee?«

Helen nickte. Die Kombination aus Adrenalin und Koffein würde ihre Dauermüdigkeit hoffentlich im Zaum halten.

»Fotos findest du unter beelden «, schob er nach.

Helen schrak zusammen. Alleine die Vorstellung, dass im Archiv womöglich Fotoaufnahmen existierten, die den Unfall ihres Vaters dokumentierten, verursachte ihr einen leichten Panikanfall.

Sie lebte bereits seit zwanzig Jahren mit dem Ausgang des Unfalls. Sie kannte das Ergebnis. Wovor hatte sie Angst? Sie erinnerte sich daran, wie sie in jenem letzten Holland-Familienurlaub »Der Herr der Ringe« verschlungen hatte. Ihr Vater hatte die Bücher als Kind geliebt und wollte das Leseerlebnis mit ihr teilen: »Eigentlich bist du noch ein bisschen zu jung«, hatte er gesagt. »Aber es ist deine letzte Chance, Tolkiens Welt alleine kennenzulernen. Wenn die Verfilmung rauskommt, wirst du nie wieder Frodo, Sauron, Elben und Orks aus dir heraus erschaffen können. Du wirst bereits wissen, wie die Fabelwesen aussehen. Weil ein neuseeländischer Regisseur deiner Fantasie jeden Spielraum nimmt.«

Den ganzen Sommer hatten sie die drei grünen, von ihrem Vater zerlesenen Bände überallhin begleitet. Ihre Schwestern hatten sich am Strand vergnügt, während sie ihren Sommer in Mittelerde verbrachte. Als gegen Weihnachten die ersten Filmposter von »Der Herr der Ringe: Die Gefährten« an Plakatwänden aufgetaucht waren, waren Tolkiens Fantasiewelten in ihrem Kopf komplett und der Vater tot gewesen.

Johannes Thalberg hatte um die Macht von Bildern gewusst, die sich auf immer im Gedächtnis festsetzen. Jetzt war sie auf dem umgekehrten Weg unterwegs: aus der Fantasie in die Realität. Fakten halfen ihr in schwierigen Situationen, den Überblick zu bewahren. Sie hielt nichts davon, Dinge im Ungewissen zu lassen. Die Geheimnisse, da hatte sie keinen Zweifel mehr, hatten sie krank gemacht.

Zögernd tippte sie das Wort Unfall in die Maske: ongeluk AND Bergen aan Zee. Sie stieß als Erstes auf ein vergilbtes Betkärtchen, das zwei Jungen gewidmet war, die 1945 in den Dünen in einen ehemaligen deutschen Bunker eingedrungen und auf eine Landmine gestoßen waren.

Sie atmete tief durch und fügte den Namen des Sturms hinzu, um die Suche weiter einzugrenzen. Das Noordhollands Dagblad hatte ausführlich berichtet. Auch über den Unfall.

Bergen, 2. August 2001. Sturm Ira hat auch in Bergen ein Todesopfer gefordert. Hilfskräfte wurden in der Nacht zu Donnerstag zum Zeeweg gerufen, nachdem ein morgendlicher Jogger in den Dünen ein Auto bemerkt hatte. Einmal vor Ort, entdeckte ein Mitarbeiter der Feuerwehr den Fahrzeughalter, der offenbar aus dem Wagen geschleudert worden war. Der Mann hatte während des Sturms die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Der Zeeweg wurde für den motorisierten Verkehr gesperrt, was die Bergungsarbeiten in Bergen aan Zee nachhaltig behinderte. Unfallexperten haben die Ermittlungen aufgenommen. Das Opfer ist von Mitarbeitern von Laatste Rust abgeholt und ins MCA gebracht worden.

Laatste Rust, letzte Ruhe, stand auch auf den Anzügen der Mitarbeiter des Beerdigungsinstitutes. Und MCA bedeutete Medisch Centrum Alkmaar, wo er wohl in der forensischen Abteilung landete. Mit zitternden Fingern scrollte sie weiter und erschrak. Nach über zwanzig Jahren Vorbereitung traf sie die Konfrontation mit der Wirklichkeit unerwartet hart. Das drastische Foto raubte ihr den Atem. Schockiert starrte Helen auf die körnige Aufnahme vom Unfallort, die offenbar in den frühen Morgenstunden entstanden war. Noch hing leichter Dunst über dem Gras und den sandigen Dünen.

Der demolierte dreireihige VW -Bus hatte einen Zaun umgefahren und war sicher 15 Meter weit in die Dünen hineingerast. Von wegen Straßenrand! Der Wagen war viel weiter vom Weg abgekommen, als sie sich das vorgestellt hatte. Wie ein hilfloser Käfer reckte die Familienkutsche drei Räder in den Himmel. Das vierte lag als dunkler Fleck in einer Senke. Ganz offensichtlich hatte ihr Vater sich mehrmals überschlagen. Die Fahrertür des Autowracks stand einladend offen.

Dahinter, ein ganzes Stück entfernt vom Wagen, erkannte sie im Dünengras einen länglichen weißen Fleck. Ihr Magen rebellierte, doch sie zwang sich hinzusehen. Dort, unter einer hellen Plane, lag zweifelsohne der tote Körper ihres Vaters.

Helen wandte den Blick entsetzt ab. Aber es war bereits zu spät. Die Szene hatte sich für immer auf ihre Netzhaut gebrannt. Der Schmerz überrollte sie, rau und roh, als wäre der Unfall gestern erst geschehen. Warum nur hatte sie sich auf diese überflüssige Suche eingelassen? Warum hatte sie überhaupt je angefangen, Fragen zu stellen? Sie hätte auf ihre Schwestern hören sollen. Welchen Sinn hatte es, in die Geschehnisse rund um den Unfall einzusteigen? Sie erhob sich, ihre Beine gaben nach.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte eine Stimme.

Helen nickte. Dabei spürte sie keinen Boden mehr unter sich.

»Das ist die Hitze«, sagte sie.

Trauer, das hatte sie bereits sehr früh gelernt, ließ sich nicht teilen. Nicht mit Fremden, nicht mit Freunden, am allerwenigsten mit der Familie. Nie im Leben würde sie ihren Schwestern dieses Bild zumuten. Jede der Thalberg-Frauen ging auf ihre eigene individuelle Weise mit dem Tod des Vaters um. Helens Strategie war immer gewesen, niemanden mit ihren Problemen zu behelligen. Sie konnte jetzt nicht zusammenbrechen. Zehn Minuten von hier warteten zwei unschuldige Jungen darauf, ihr nach der Schwimmstunde in die Arme zu fallen, um ihr atemlos von ihren neuesten Erfolgen zu berichten.

»Mir geht es gut«, stammelte sie und verließ den Lesesaal, ohne sich weiter um den freundlichen Mitarbeiter zu kümmern.

 

Die Hitze draußen traf sie wie eine Wand. Helen taumelte benommen Richtung Auto. Zutiefst erschöpft ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen. Neben ihr blitzte der unvermeidliche Pinguin sie giftig an. Leo hatte vollkommen recht. An Rudolf klebte das Unheil wie Pech. Mit so einem Kuscheltier im Schlepptau konnte keiner glücklich werden. Nicht einmal Helen. In einer Aufwallung blinder Wut prügelte sie auf Rudolf ein, bevor sie das Ungeheuer aus dem offenen Fenster schleuderte. Tränen rannen über ihr Gesicht. Zum ersten Mal seit Jahren weinte sie um ihren Vater. Um das Leben, das er verpasst hatte. Um die Familie, die mit ihm im Straßengraben gestorben war. Und um die Helen, die sie vielleicht hätte werden können.