38. Undine

Yella lehnte sich entspannt zurück. Bis die Jungs vom Schwimmen zurückkehrten, hatte sie endlich einmal die Muße, sich nur um sich selbst zu kümmern. Mit einem Glas Eistee und Amelies herrlichen Haferkeksen kuschelte sie sich in das Sofa in der Gartenlaube. Hier im Schatten ließen sich die steigenden Temperaturen gerade noch aushalten.

Yella nahm sich das Libretto von »Undine« vor. Sie las von einer Liebe, die in einer Sturmnacht entstand. Von einer Frau, die dem Meer entsprungen war und hoffte, durch den irdischen Geliebten zu einer Seele zu gelangen. Doch das gemeinsame Glück war nur von kurzer Dauer. Als der Gatte seine neue Liebe verrät, muss Undine in ihr Wasserreich zurückkehren. Sie nimmt grausam Rache. Der Wasserkönig bestraft den untreuen Liebhaber der Tochter und reißt den Menschengatten in die Tiefen des Meeres hinab. Der Mann bezahlt für die Liebe, die im Sturm geboren wurde, mit dem Tod. Was für ein Drama: eine Liebe, die für alle Beteiligten im Desaster geendet war.

Ein Stück weiter arbeitete Doro am Terrassentisch, um der Oper ein modernes Antlitz zu geben. Yella tauchte immer weiter in die kühle Welt der Wassergeister ein. Fasziniert öffnete sie einen von Doros Kunstbänden. Auf eindrucksvollen Gemälden entstieg der Elementargeist wieder und wieder dem Wasser: zart, verschämt und zauberhaft. Die leichenblasse Figur mit den langen roten Haaren zog sie auf unwiderstehliche Weise in den Bann. Sie begriff nie genau, wie Erlebtes in die Kreationen ihrer Schwester einfloss. Sie hegte einen ungeheuerlichen Verdacht. Hatte sie etwa ein lebendiges Vorbild für ihre Undine?

 

Doros Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Sie horchte auf und erwartete jeden Moment, Doros Stimme zu hören. Doch ihre Schwester ließ das Telefon einfach klingeln. Das nervtötende Geräusch erstarb. Yella versuchte, sich wieder ihrem Buch zu widmen. Drei Minuten später begann das Spiel von vorne. Wie sollte sie sich unter diesen Umständen auf die Geschichte von Liebe, Betrug und Tod konzentrieren? Mit jedem Telefonklingeln stieg Yellas Blutdruck. Genervt verließ sie ihre gemütliche Höhle.

»Musst du nicht drangehen?«, fragte sie leicht irritiert.

Doro schüttelte den Kopf: »Auf keinen Fall.«

»Vielleicht ist es was Wichtiges«, sagte Yella.

»Ich kann nur arbeiten oder telefonieren, aber sicher nicht beides.«

Doro zeichnete und klebte. Neben ihr standen zig leere Wasserflaschen. Yella sah, dass sie Kleider für die Undine entwarf. Hatte sie diese Figur nicht schon längst abgehakt? Fing sie tatsächlich wieder von vorne an?

»Mit ein bisschen Weghören erledigen sich manche Dinge von alleine«, sagte Doro.

»Dann stell es wenigstens ab.«

»Geht nicht«, sagte sie. »Ich warte auf einen dringenden Anruf.«

Das Telefon meldete sich erneut.

»Unbekannte Nummer«, sagte Doro. »Vielleicht ist das der Stoffhändler. Ich brauche unbedingt die Preisangaben und Liefermöglichkeiten.«

Doro traute sich offenbar nicht, dranzugehen. Zu groß war wohl das Risiko, einen ihrer Gläubiger an die Strippe zu bekommen. Sie hielt Yella wortlos ihr Telefon hin.

»Kostümatelier Thalberg«, sagte Yella. »Sie sprechen mit Yella. Was kann ich für Sie tun?«

»Bist du das, Yella?«, sagte eine bekannte Stimme.

»Mama?«, rief Yella überrascht.

Doro ging sofort in Abwehrstellung. Sie wedelte wie eine Wahnsinnige mit den Händen, um deutlich zu machen, dass sie auf keinen Fall mit ihrer Mutter sprechen wollte.

»Wie geht es dir und Thijs?«, fragte Yella. »Wo seid ihr?«

»Ich brauche Doro«, sagte sie.

»Sie ist leider nicht da.«

»Gib sie mir«, sagte ihre Mutter scharf.

Doro fuhr mit Zeige- und Mittelfinger über ihre Kehle, um anzudeuten, was sie mit Yella vorhatte, sollte sie ihr in den Rücken fallen.

»Sie ist im Dorf einkaufen. Kann ich was für dich tun?«

»Es geht um die Steuer.«

»Die Steuer?«, fragte Yella.

Seit wann war Doro kompetent in Steuerangelegenheiten? Das Stichwort genügte Doro, um ihre Taktik zu ändern. Sie nahm Yella das Telefon aus den Händen, stand auf und verzog sich in den anderen Teil des Gartens. Yella blieb irritiert zurück. Hatte Doro Geheimnisse? Was um alles in der Welt besprachen die beiden? Unsere Verbindung ist sturmerprobt. Ganz offensichtlich unterhielten sie noch einen näheren Kontakt als ohnehin schon vermutet.

Yella konnte ihre Neugier nicht bezwingen und schlich näher.

»Am Montag habe ich meinen Termin mit Benedikt Bergmann«, hörte sie ihre große Schwester. »Ich habe den Auftrag so gut wie in der Tasche. Du kannst schon mal die Premiere in deinen Kalender eintragen, Mama. Erste Reihe. Wie immer.«

Sobald sie aufgelegt hatte, klingelte das Telefon sofort wieder.

»Meine ehemalige Assistentin«, sagte Doro mit Blick auf das Display. »Ich fürchte, Ludwig hat auch ihr Gehalt nicht bezahlt.«

Diesmal verzichtete auch Yella darauf, den Anruf entgegenzunehmen.

»Ich bekomme das hin«, beschwor Doro sich selbst. Ihre Stimme brach, Tränen sprangen in ihre Augen. »Ich habe das immer hinbekommen. Es sind acht Leute von mir abhängig. Acht Familien mit vier Kindern. Ich habe überhaupt keine Wahl. Ich muss weitermachen. Nicht für mich. Es geht nicht um mich. Es geht um alle anderen.«

Ein Windstoß wirbelte sämtliche Papiere durcheinander. Überall kullerten leere Wasserflaschen herum. Yella beeilte sich, den Müll einzusammeln und in der Tonne zu entsorgen.

»Halt«, rief Doro. »Die brauche ich noch.«

»Die leeren Flaschen?«

»Werden ein Kostüm für Undine. Ich dachte, wir könnten die Umweltthematik mit reinnehmen.«

Was auf den ersten Blick aussah wie ein unaufgeräumter Terrassentisch, war in Wirklichkeit eine ungeordnete Ideensammlung. Yella schüttelte den Kopf. Überall flogen neue Skizzen und Entwürfe herum.

»Soll ich die Entwürfe, die fertig sind, schon mal in eine Mappe ordnen?«, fragte sie.

»Es ist alles Schrott«, sagte Doro.

»Gestern warst du beinahe fertig«, wunderte sich Yella.

»Das war gestern. Heute ist ein neuer Tag.«

Doro war nicht perfektionistisch, sie war unsicher. Die Absage hatte ihr offenbar schwer zugesetzt.

»Warum bleibst du nicht bei deiner ersten Idee?«, fragte Yella. »Ich fand die Kleider total passend für eine Figur, die aus dem Wasser kommt.«

»Vielleicht fällt mir ja noch was Besseres ein. Es ist meine letzte Chance. Die einzige. Die Entwürfe müssen Bergmann umhauen.«

Yella musterte ihre große Schwester nachdenklich. Wie konnte bei so viel Druck etwas Bahnbrechendes entstehen?

»Das ist wie beim Biathlon«, rechtfertigte sich Doro. »Ludwig schaut das immer: Du bist komplett außer Atem und musst trotzdem ruhig zielen.«

Yella schüttelte den Kopf. Im Büro ihres Chefs hing ein gesticktes Bild mit dem Spruch: »Fertig ist besser als perfekt.« Dasselbe galt auch für Doro.

Das Telefon klingelte wieder.

»Unbekannte Nummer«, sagte Doro.

Sie starrte das Handy an wie das Kaninchen die Schlange.

»Wenn es der Stofflieferant ist, muss ich ihn sprechen«, sagte Doro.

Yella legte ihr Buch endgültig zur Seite.

»Kostümatelier Thalberg«, sagte sie. »Sie sprechen mit Yella. Was kann ich für Sie tun?«