39. Der zweite Anlauf

Es war wie immer. Stundenlang hatte Helen sich durch die Nacht gekämpft und war erst am frühen Morgen eingeschlafen. Zwei Stunden später weckte sie lautes Gehämmer. Um der Hitze zu entgehen, verschoben die Nachbarn ihre Vorbereitungen für den Lichtjesavond in die ersten Stunden des Tages.

Als sie mit Leo und Nick zum Schwimmen aufbrach, bemerkte sie, dass überall im Dorf gewerkelt wurde. Auch Amelie hatte zu viel mit Vorbereitungen zu tun, um sich bei den Schwestern blicken zu lassen. Zum Glück lenkte die Aussicht, dass das Dorf bald in neuem Glanz erstrahlen würde, die Kinder so ab, dass Leo die Ausrede, die Helen sich ausgedacht hatte, um Rudolfs Abwesenheit zu erklären, schluckte. »Pinguine vertragen keine Hitze«, sagte sie. »Und Chlor schon gleich gar nicht. Er hat sich geweigert, mitzukommen.«

Leo nickte ernst. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie hartnäckig Rudolf bei der Durchsetzung seiner Interessen sein konnte.

Noch sechs Tage bis zum afzemmen. Noch sechs Tage bis zur großen Lichtershow. An der Größe der Drahtrollen, die in den Gärten bereitlagen, um für den Lichterabend gespannt und behängt zu werden, ließ sich der Ehrgeiz der jeweiligen Bewohner ablesen. Ganz offensichtlich hatten manche freigenommen, um ihr Haus herzurichten. Oder zumindest den Nachbarn zur Rechten und Linken zu übertrumpfen. Im Supermarkt tobten bereits seit Tagen Schlachten um die letzten Teelichter, die in großen Mengen herangeschafft wurden und doch nie genug waren.

»Wir müssen auch endlich anfangen«, sagte Leo.

Die von Philomena gelieferten leeren Gläser standen noch immer ungenutzt im Schuppen.

 

Helen hielt im Ortskern. Die Schlange vor dem Bäcker wirkte wenig einladend. Jeden Tag, so schien es, trugen die Dorfbewohner weniger Kleidung. Am Zeitungsstand dominierten Worte wie Hittegolf und Tropisch weer die Schlagzeilen. Auf den Terrassen rund um die Ruïnekerk rangelten Touristen darum, wer den Schattenplatz als Erstes gesehen hatte. Die sonst so beliebten Tische in der Sonne blieben unbesetzt. Eine Gruppe Senioren badete beim Kaffeetrinken ihre Füße in einem Planschbecken, während ihr Gettoblaster niederländische Schlager über den Platz brüllte. Eine der Rentnerinnen war mit einer quietschgrünen Wasserpistole ausgerüstet und schoss auf Leo und Nick, während Helen krentenbollen besorgte.

Die Hitzewelle steuerte ihrem Höhepunkt entgegen. Auf dem Weg ins Schwimmbad versperrte ihnen ein Feuerwehrauto den Weg. Nick bewunderte die Männer, die die Rasenfläche rund um die Ruinenkirche aus riesigen Schläuchen bewässerten.

»So was will ich später auch mal machen«, sagte Nick beeindruckt.

In der Nähe des Schwimmbads versammelte sich eine Gruppe Kinder, um todesmutig von der Brücke in die Hoornse Vaart zu springen, einen der Kanäle aus dem 17. Jahrhundert, der Alkmaars Rolle als Handelszentrum festigte.

»Können wir hier üben?«, schrie Nick. »Das Schwimmbad ist langweilig.«

Helen starb schon jetzt tausend Tode bei der Vorstellung, dass Nick sich von irgendwelchen Brücken in unbekannte Gewässer stürzte.

»Erst dein Schwimmabzeichen«, sagte sie.

»Diplom«, korrigierte Nick.

»Zwemdiploma«, ergänzte Leo, der bereits ein paar niederländische Brocken aufgeschnappt hatte.

In Holland verlieh man angesichts der nationalen Bedeutung von Schwimmfertigkeiten den Abzeichen diesen hochtrabenden Namen, der in Deutschland eher akademische Abschlüsse andeutete.

»Nächstes Jahr dann«, sagte Nick voller Überzeugung.

Helen gab sich keinen Illusionen hin. Schwimmabzeichen waren nur ein winziges Puzzleteil in einer Welt voller Gefahren. Vermutlich war es eine Lebensaufgabe, sich um diese beiden Wesen Sorgen zu machen. Für Yella, für David, aber vor allem auch für ihre Tante Helen, die so gerne Gefahren kalkulierte.

 

Während Leo und Nick lernten, im Wasser zu treiben, zu schweben, zu sinken, sich unter Wasser zu orientieren und zu drehen, probierte Helen, wieder festen Boden unter ihre Füße zu bekommen. Nach ihrem ersten Schock über das Foto fand sie sich wieder im Regionalarchiv ein. Genauso wie Rudolf. Der nette Mitarbeiter des Archivs hatte das Kuscheltier auf dem Parkplatz gefunden. Der Pinguin kauerte auf dem Empfangstresen. Er sah herzzerreißend unglücklich aus und trug ein Schild auf dem Bauch: Ik zoek mijn familie. Ich suche meine Familie.

»Der sieht so abgeliebt aus«, sagte der Angestellte, »irgendjemand ist sicher todtraurig, dass er seinen Pinguin verloren hat.«

Helen sank in sich zusammen. Rudolf stand ihr in Hartnäckigkeit in nichts nach.

»Der gehört uns«, sagte Helen. »Leider.«

Sie nahm Rudolf an sich und atmete tief durch. Am gestrigen Tag hatte sie sich von einem Foto aus dem Feld schlagen lassen. Im zweiten Anlauf würde ihr das nicht mehr passieren.

 

Helen blätterte durch das Noordhollands Dagblad, das sich noch Tage nach dem Sturm ausführlich mit Ira beschäftigte. Besonders interessierte sie ein Artikel, in dem Dorfbewohner und Touristen berichteten, wie sie die Nacht erlebt hatten. In dem Artikel erzählte die sechzehnjährige Milou van Beek von ihren Abenteuern. Wir hatten eine Sturmparty, erzählte sie. Wir waren vollkommen sicher in unserem Bunker, leider haben unsere Eltern das ganz anders gesehen. Wir haben alle mächtig Ärger bekommen. Aber der Ärger war es wert.

Helen atmete schwer durch. Milou van Beek? Sie googelte den Namen und stieß sofort auf die Mutter. Louise van Beek. Ein Artikel über eine Benefizveranstaltung im Amsterdamer Theater Carré bewies, dass sie die richtige Familie gefunden hatte. Ein paar Klicks weiter entdeckte sie eine Todesanzeige. Louise van Beek war vor acht Jahren verstorben. Weitere Informationen fand sie nicht mehr, alleine einen winzigen Hinweis: Eine Milou van Beek war Mitglied eines Chors, der am Lichtjesavond in der Ruinenkirche auftrat. Kein Zweifel möglich. Das musste ihre Milou sein, Doros beste Freundin vom Camping. Und dieser Hinweis auf die Sturmparty: Wie viele Feste hatte es wohl gegeben in der Nacht? War das dieselbe Party, zu der Frenkie Yella eingeladen hatte?

Weil ihr im Moment nichts Besseres mehr einfiel, googelte sie Frenkie. Doch auch hier kam sie mit dem Familiennamen Visser nicht weiter, den über 50000 Familien in den Niederlanden teilten. Der Vorname schien vor allem mit einem Nationalspieler verbunden, der von Ajax Amsterdam zu Barcelona gewechselt war. Sie vermutete, dass Frenkie nur eine Abkürzung war. Aber wofür?

Wenn sich zwischen den Artikeln über den Fußballer Informationen über einen ehemaligen Surfer versteckten, der seine Urlaube in Bergen verbrachte, war sie nicht in der Lage, sie aufzuspüren.

Und Ärger mit den Eltern? Was war damit wohl gemeint? War ihr Vater dort aufgetaucht? Weil Doro sich heimlich aus dem Haus geschlichen hatte, um zur Party zu gehen? Hatte sie deswegen Schuhe an? Es gab Tausende Bunker an der Küste. Lag dieser in der Nähe des Zeewegs? Leider war in dem Artikel kein Ort vermerkt.

Milou van Beek. Helen notierte aufgeregt den Namen. Endlich hatte sie jemanden außerhalb der Familie gefunden, der ihr eine unabhängige Auskunft über die Nacht erteilen konnte.

 

Als sie nach draußen kam und den Autoschlüssel hervorziehen wollte, entdeckte sie unter dem Scheibenwischer einen Zettel. Was war das? Werbung? Ein Strafzettel? Vorsichtig faltete sie das Schreiben auseinander. Rot op met je stomme vragen. Fuck off, stand da in großer Blockschrift. Verschwinde von hier! Lass uns in Ruhe mit deinen Fragen.

Hektisch sah sie sich um, als könne sie den Übeltäter auf frischer Tat ertappen. Irgendjemandem im Dorf schien es eindeutig nicht zu passen, dass sie im Archiv recherchierte.

Sorgfältig untersuchte sie den Zettel. Er hatte ein ungewöhnliches Format und eine eigentümliche Linierung mit grünen Balken. Vielleicht aus einem niederländischen Schulheft gerissen? Unwillkürlich dachte sie an Thijs’ Exfreundin aus der Bäckerei und die gestohlenen Ventile. Fleur hatte doch einen Sohn. Die Drohgebärde bewies eindringlich, dass längst nicht alle Geheimnisse gelüftet waren. Helen ließ den Zettel in ihrer Jackentasche verschwinden. Die Warnung war für sie der ultimative Beweis, dass sie endlich auf der richtigen Spur war.