Die Hitze hatte das Dorf fest im Griff. Helen zählte die Tage bis zum Lichterfest. Doro oder Yella? Eine der Schwestern, das hatte sie deutlich im Gefühl, sagte nicht die Wahrheit. Doch sie hatte noch einen Trumpf in der Hinterhand: Milou und ihren Auftritt beim Lichtjesavond.
Aber wie um alles in der Welt überstand sie die Wartezeit? Sie fühlte sich fiebrig. Während Yella und Doro die warmen Temperaturen genossen, rang Helen permanent um Atem. Bei kalten Temperaturen konnte man sich mit warmer Kleidung wappnen. Hitze dagegen war man hilflos ausgeliefert. Helen war dankbar über jeden Hauch Wind, der Richtung Dorf wehte. Und jeden neuen Hinweis.
Auf dem Rückweg vom Schwimmunterricht legte sie an der brandweer einen schnellen Halt ein. Dutzende Kinder sprangen unter einem Feuerwehrschlauch herum. Während Leo und Nick in der Pfütze tobten, erkundigte sie sich nach Kollegen, die schon länger im Dienst waren. Keiner der Anwesenden war alt genug, um beim Einsatz auf dem Zeeweg dabei gewesen zu sein.
»Du musst beim Lichtjesavond vorbeikommen«, wurde ihr erklärt, »da kommen alle Ehemaligen an der Wache zusammen.«
So schwer es ihr fiel, sie musste sich gedulden.
Nachmittags am Strand war es so voll, dass sie kaum einen Platz für die Handtücher fanden. Auf der Zufahrtsstraße zum Meer stauten sich Wochenendausflügler und Urlauber. In Bergen aan Zee schwitzten die Verkehrsregler in der gnadenlosen Sonne und versuchten, ganz und gar unentspannte Strandbesucher nach Egmond, Hargen aan Zee oder Camperduin umzuleiten. Sämtliche Parkplätze waren besetzt, die Gemüter kochten. An den Strandaufgängen fand man kaum Platz für sein Fahrrad. Unfassbar, wie viele Menschen mit Zweirädern in den Dünen unterwegs waren.
Selbst in der Nacht kühlte es nicht mehr ab. Die Luft staute sich in den Schlafzimmern im oberen Stock. Helen quälte sich durch die Nacht. Ihre Haut klebte feucht am Laken. Nichts half mehr: kein warmer Tee, keine kalte Dusche, keine feuchten Handtücher um die Waden. Nach einer halben Stunde begannen das Schwitzen und Stöhnen von Neuem.
Spaß hatte nur eine. Die Mücke, die Helen seit Tagen jede Nacht drangsalierte und über sie herfiel, sobald es ihr gelungen war, beinahe einzuschlafen. Oder war es eine ganze Familie, die sich zum nächtlichen Büfett verabredet hatte? Die Mücken waren wie ihre Gedanken. Sobald sie zur Ruhe kam, summte es um ihren Kopf herum. Die aggressiven Blutsauger wähnten sich vermutlich in einem Actionfilm, wenn Helen, bewaffnet mit Geschirrtuch, Fliegenklatsche und Kopfkissen, allabendlich auf die Jagd ging.
»Ein Team internationaler Forscher hat herausgefunden, dass Mücken Dubstep hassen«, wusste Paul, mit dem sie eine nächtliche Standleitung unterhielt. »DJ Skrillex schlägt Autan um Breiten. Vor allem das Lied Scary Monsters and Nice Sprites sorgt dafür, dass die Biester weniger stech- und paarungslustig sind«, erzählte er. »Hat in der Süddeutschen gestanden.«
»Aber wer kann schon bei hämmernden Elektrobeats schlafen?«, lachte Helen, als sie das Lied auf ihrem Handy anspielte.
»Ich frage mich, wie in aller Welt die Forscher das herausgefunden haben«, sagte Helen. »Haben sie den Mücken die Charts vorgespielt?«
Ein paar Tage lang herrschte eine Art Stellungskrieg. Jede der Schwestern kochte im eigenen Saft. Bis jetzt hatte der gemeinsame Urlaub nur wenig zur Entspannung beigetragen. Über Mittag verbarrikadierte sich die ganze Familie jeweils im Haus. In der Hitze saßen sie alle aufeinander. Helen bemalte mit Leo und Nick Gläser für den Lichtjesavond. Sie vermied es, kritische Themen vor den Kindern anzusprechen. Leo und Nick waren immer um sie herum.
Doro verzweifelte über ihrer Arbeit. Schon am frühen Morgen rannen Tränen der Erschöpfung über ihre Wangen.
»Kannst du mal einen kritischen Blick draufwerfen?«, sagte Doro. »Beim letzten Mal hattest du so gute Ideen.«
Yella schob einen Stuhl neben Doro.
»Danke, dass du dich um Lucy gekümmert hast«, sagte Doro. »Ich hasse mich, wenn ich so ungehalten bin. Die drohende Pleite macht mich fertig.«
Zwischen Helen und Doro blieb die Stimmung dagegen eisig. Kritisch beobachtete Helen, wie die beiden in die Opernwelt abtauchten. Sie hatten eine gemeinsame Aufgabe, während sie außen vor blieb.
In ein paar Stunden schaffte Yella es, Doro aufzumuntern und allmählich den Papierhaufen in eine Präsentation zu verwandeln.
»Es ist ganz einfach«, sagte sie, während sie versuchte, die losen Figurinen in eine Ordnung zu bringen. »Welcher Entwurf gehört zu welchem Schauspieler und welcher Szene?«
Helen begriff, dass Doro für jede einzelne Rolle so viele Ideen entwickelt hatte, dass sie ganz vergessen hatte, dass sie pro Szene nur ein Kostüm brauchte und nicht etwa sechs.
Yella hatte den Überblick und Ideen, wie man aus den losen Einfällen etwas zaubern konnte. Hier ein paar Veränderungen, dort ein paar Extrazeichnungen und Ergänzungen.
Als Doro aufstand und die ordentlichen Stapel sah, die Yella zusammengestellt hatte, stand ihr die Verblüffung ins Gesicht geschrieben. Beeindruckt blätterte sie durch ihre Entwürfe:
»Ich hatte fast vergessen, wie gut ich bin«, sagte Doro.
»Gern geschehen«, sagte Yella.
Doro lachte und umarmte Yella dankbar.
»Du musst bei dem Termin dabei sein«, sagte sie. »Du bist mein Maskottchen. Wenn du in der Nähe bist, geht es mir gleich viel besser.« Helen verkniff sich jeden Kommentar. Wie lange würde diese Allianz standhalten?