Yella fühlte sich ziemlich kosmopolitisch, als sie sich am entscheidenden Tag Richtung Amsterdam aufmachten. Die Arbeitswelt ihrer Schwester war so viel spannender als ihr Berliner Alltag zwischen Reisekostenabrechungen und Papierkram. Es gefiel ihr, in die Theaterwelt hineinzuschnuppern und Teil eines kreativen Prozesses zu sein. Mit ein bisschen Glück schafften es Doros Entwürfe auf die ganz große Opernbühne. Und sie selbst hatte einen klitzekleinen Anteil daran. Skeptisch wurde sie erst, als sie die Adresse las.
»Hotel Goudfazant? Du bist in einem Hotel verabredet?«
Doro zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht haben sie ein großes Foyer.«
»In Me-too-Zeiten klingt das äußerst dubios.«
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Doro. »Stell es dir wie ein Casino vor. Alles auf Rot. Heute muss nur noch die richtige Farbe fallen.«
Ein einziger Auftrag würde reichen, das Atelier zu retten und die ausstehenden Löhne zu bezahlen, hatte Doro ihr erklärt.
An der ersten Brücke in Alkmaar ging es bereits schief. Hitzestau! Ausgerechnet jetzt! Yella und Doro lernten, dass holländische Brücken es zu warm haben konnten. Bei Asphalttemperaturen an die fünfzig Grad dehnten sich die Stahlkonstruktionen so gefährlich aus, dass sie blockieren konnten. Eine extra eingerichtete Pumpstation spülte aus dem Kanal Wasser auf die Straße, um den Öffnungsmechanismus der Brücke runterzukühlen und einen reibungslosen Schiffsverkehr zu garantieren. Für Autos Richtung Amsterdam ging es nur noch im Schritttempo voran. Sie erreichten ihr Ziel mit gehöriger Verspätung.
Der Name des Etablissements ließ auf ein verstaubtes Hotel schließen. Nichts war weniger wahr. Das Hotel Goudfazant war nicht einmal ein Hotel, sondern ein ebenso riesiges wie hippes Lokal im nördlichen Teil Amsterdams. Die ehemalige Garage mit ihren gläsernen Toren lag direkt am IJ , einem Wasserarm, der die Grachtenstadt mit dem Rheinkanal auf der einen und dem Meer auf der anderen Seite verband. Auf der gegenüberliegenden Wasserseite lagen der Bahnhof Amsterdam Centraal und die historische Innenstadt mit ihren Grachten.
Die Sonne knallte erbarmungslos auf die industriell geprägte kade. Sehnsuchtsvoll blickte Yella den Schiffsriesen hinterher, die über die Wasserstraße Richtung Nordsee fuhren, um von dort in alle Welt aufzubrechen. Die schwer beladenen Frachter zogen malerisch an der menschenleeren Terrasse vorbei. Nach den letzten Tagen mit tropischen Temperaturen wagte sich niemand mehr an die Tische auf dem schattenlosen Kai. Der Wind wehte ihr wie ein Föhn heiße Luft ins Gesicht.
Yella und Doro waren bereits durchgeschwitzt, als sie den imposanten Innenraum erreichten, wo sie eine Klimaanlage, knallrote Stühle und mit weißem Damast ausstaffierte, eingedeckte Tische erwarteten. Ein alter Volvo auf einer Hebebühne erinnerte mitten im Restaurant an die ehemalige Bestimmung der Halle. Unter der meterhohen Decke sorgte ein gigantischer Kronleuchter aus Hunderten Flaschen für Licht. Yella sog beeindruckt die einmalige Atmosphäre ein. Ihre Schwester hatte einen großartigen Job, der sie an außergewöhnliche Orte führte. Gut ging es ihr dennoch nicht. Leichenblass blieb sie im Gang stehen.
»Das wird nichts«, presste Doro hervor. »Lass uns noch mal über die Entwürfe gehen.«
»Jetzt?«, fragte Yella. »Zwei Minuten vorher?«
»Wir müssen absagen. Ich habe nur diese eine Chance, wenn ich die vermassele, ist es vorbei mit meinem Atelier.«
Auf den letzten Metern verlor ihre große Schwester endgültig die Nerven.
Auf ihrem Handy ging eine Nachricht ein. Wir sitzen am Fenster. Links vom Eingang.
Der Rückzug war abgeschnitten. Doro rannte Richtung Toilettentrakt.
Als Yella ihr folgte, hörte sie, wie ihre Schwester sich übergab. Die Mischung aus zu viel Arbeit, mentalem Druck und Hitze gab ihr nun den Rest.
»Geh du hin«, forderte sie Yella mit schwacher Stimme auf. »Ich habe dich gehört am Telefon. Du kannst meine Ideen so viel besser erklären.«
Sie debattierten so lange, bis keine andere Wahl mehr blieb.
Irgendwas dazwischengekommen?, schrieben ihre Gesprächspartner. Wir haben nicht ewig Zeit.
»Du musst den Termin übernehmen. Mach es für mich«, bettelte Doro.
Zögernd nahm Yella Mappe und Modell an sich.
Wieder drehte sich Doros Magen um.
»Du musst mir helfen, bitte, Yella«, insistierte Doro. »Ich schaffe das heute nicht.«
Yellas Herz schlug bis zum Hals als, sie das Restaurant betrat. Links vom Eingang war nur ein einziger Tisch besetzt. Das musste der Opernmann sein. Benedikt Bergmann wandte ihr den Rücken zu. Er sprach angeregt und gestenreich mit dem Ober und benahm sich so relaxed, als befände er sich im heimischen Wohnzimmer. Seine Haltung verriet nicht die geringste Anspannung. Warum auch? Er war schließlich derjenige, der den Auftrag vergab, sie die Bewerberin. Es ging um große Summen, zwölf Monate Arbeit für ein ganzes Studio und die Existenz ihrer Schwester. Wie um alles in der Welt sollte sie Doros Abwesenheit überzeugend begründen?
Normalerweise war Yella immer nur für die Hintergrundarbeit zuständig. Die große Bühne gehörte anderen. Jetzt stand sie ganz alleine vor einer Herkulesaufgabe. Dreißig Schritte bis zum Tisch. Dreißig Schritte, in denen sie Helens Stimme hörte, die zugleich ihre eigene war. »Das kann nicht gut gehen. Das wird nicht gut gehen. Du kannst nur verlieren.«
Yella atmete tief durch. Sie hatte das Treffen für Doro akribisch vorbereitet und versucht, so viel wie möglich an Extrainformationen über den weltberühmten Opernregisseur herauszufinden. Im Büro erstellte sie häufiger Dossiers für ihren Chef, der ein Weltmeister darin war, selbst geheimste Vorlieben von potenziellen Kunden via Google aufzuspüren und bei der Planung von Treffen zu berücksichtigen. Sie kannte die Vita des Opernmannes, die sie für Doro aufbereitet hatte, in- und auswendig.
Was hatte sie zu verlieren? Sie würde alles daransetzen, ihrer Schwester aus dem Schlamassel zu helfen.
Nervös trat sie an den Tisch.
»Yella«, stellte sie sich vor. »Ich bin Doro Thalbergs persönliche Assistentin.«
Der Mann wandte sich vom Ober ab. Yellas Kinnlade fiel herunter.
»Martin«, sagte der attraktive Mann, der wohl in ihrem Alter war. »Ich bin Benedikt Bergmanns persönlicher Praktikant.«
Irritiert setzte sie sich. Der Mann im teuren, schmal geschnittenen Anzug und schwarzen Oberhemd war garantiert kein Praktikant. Machte der sich lustig über sie?
»Wollt ihr gleich bestellen?«, fragte der Ober.
»Wir warten noch auf Herrn Bergmann?«, fragte Yella unsicher.
»Nicht nötig«, sagte ihr Gegenüber.
Yella sah ihn fragend an.
»Er kommt nicht«, sagte der angebliche Praktikant. »Affenpocken. Sehr ansteckend.«
Er grinste frech, als ob das alles ein großes Spiel war.
»Und was ist es bei Doro? Was hält die fabelhafte Frau Thalberg davon ab, uns mit ihrer Anwesenheit zu beglücken?«
»Fischvergiftung«, improvisierte Yella.
»Fischvergiftung«, prustete der Mann hervor, als ob sie einen Witz gemacht hätte. »Der ist gut.«
»Wir haben an einem Imbiss am Strand gegessen, das war ein Fehler«, ergänzte Yella überflüssigerweise.
Der Mann gab sich nicht die geringste Mühe, auch nur so zu tun, als würde er ihre Ausrede glauben.
»Großartig«, sagte »Praktikant« Martin amüsiert. »›Undine‹, Unterwasserwelt, Fischvergiftung. Sehr gut. Klingt auch viel glaubwürdiger als Affenpocken. Ich habe es Benedikt gleich gesagt, dass er damit nicht durchkommt. Viel zu dick aufgetragen.«
Yella wurde nicht schlau aus ihrem Gesprächspartner. War das ein Test? Eine Provokation? Sie wusste alles über den berühmten Regisseur und nichts über seinen aalglatten, arroganten Ersatzmann. Sie versuchte, mit Anekdoten Zeit zum Denken zu schinden.
»Ich hatte früher mal Fische«, erzählte sie. »Die sind immer gestorben. Mein Vater hat die Fische heimlich ersetzt. Ich habe ihm nie verraten, dass ich wusste, was er tat. Das war eine gute Lektion fürs Leben.«
Die Geschichte war geklaut von David. Es war eine Anekdote aus seiner Jugend, die den Aufhänger zu seinem ersten, rasend erfolgreichen Roman geliefert hatte.
»Ich schlage vor, wir nehmen uns an meinem Vater ein Vorbild. Wir tun einfach so, als wüssten wir nicht, dass wir nur die Ersatzmannschaft sind.«
Sie holte die Mappe heraus und schob sie dem Theatermann hin. Er machte nicht die geringsten Anstalten, sie zu öffnen.
»Ich bin so froh, dass Doro nicht gekommen ist«, sagte er. »Das zeigt, dass auch sie nicht mehr davon ausgeht, dass wir bei ›Undine‹ zusammenkommen. Das spart uns beiden jede Menge Ärger.«
»Und Doros neueste Entwürfe?«
»Passen leider nicht in Bergmanns Regiekonzept.«
»Wie bitte?«, fragte Yella. Sie verschluckte sich fast an ihrem Wasser.
»Doros Vertrag beinhaltet ein Nachbesserungsrecht. Ich nehme die Unterlagen an mich und dann haken wir das unselige Kapitel ab.«
Yella sank in sich zusammen. Ludwig hatte immer davor gewarnt. Doro hatte sich längst ins Abseits befördert. Es war vollkommen gleichgültig, was Yella hier präsentierte. Der Regisseur hatte keinerlei Interesse mehr, mit Doro zusammenzuarbeiten.
»Jetzt essen wir erst einmal«, schlug Yella vor. »Auf Kosten unserer Chefs. Das Teuerste, was der Laden zu bieten hat. Wenn sie uns schon für nichts herschicken, sollen sie wenigstens bluten.«
Yella begriff, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte. Dieser Mann hatte sie bereits abgeschrieben. Aufgeben kam für sie dennoch nicht infrage. Unterschätze nie die Macht eines Vorzimmers! Wie oft war ihr dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, wenn ihr ein Firmenkunde am Telefon blöd kam. Es gab keine besseren Verbündeten, wenn es darum ging, das Ohr von Vorgesetzten zu erreichen. Dieser arrogante Kerl fungierte als Wachhund, der für seinen Chef ungewünschte Besucher wegbiss. Und er war so vertraut mit ihm, dass er es wagen konnte, seine Notlüge zu offenbaren. Dieser Schnösel war der Schlüssel zum Erfolg. Da konnte er noch so oft behaupten, dass er der Praktikant war, und sich hinter einer Mauer aus absurder Ehrlichkeit und schroffer Ablehnung verstecken.
»Ach, das macht gar nichts«, sagte Yella und nahm die Mappe wieder an sich. »Es hat dem ganzen Atelier so viel Spaß gemacht, in die ›Undine‹-Welt einzutauchen. Da kann jeder von uns eine Menge mitnehmen.«
Ihr Gegenüber untersuchte mit der Gabel fein säuberlich seine Vorspeise: Rote Bete mit karamellisierten Zwiebeln, dickem Joghurt und Kreuzkümmel.
»Wir haben die Geschichte als Parabel über die Klimakatastrophe gelesen. Deshalb arbeiten wir nur mit Rohstoffen, die aus Meeresabfall recycelt sind.«
Verblüfft blickte der Theatermann von seinem Teller auf und musterte sie, als merke er erst jetzt, dass er mit einer ernsthaften Gesprächspartnerin konferierte. Zum ersten Mal fiel seine Maske aus Zynismus und Desinteresse. Der Fisch hatte angebissen. Jetzt musste sie ihn nur noch ein bisschen zappeln lassen.
»Undine ist gekleidet in Nylonfäden, als hätte sie sich in den Fischernetzen verfangen. Die Natur ist längst nicht mehr intakt.«
Ein Bild von Benedikt Bergmann, der sich als Freiwilliger gemeldet hatte, um beim Aufräumen des Nordseestrands mitzuhelfen, inspirierte sie dazu, Doros durchsichtige Müllkreationen in einen theoretischen Kontext einzubetten. Yella führte alles an, was sie beim Korren von Pieter gelernt hatte.
»Undines Welt ist auch im Wasser in Gefahr. Sie ist eine moderne Frau. Man muss sie nur modern lesen«, sagte Yella. »Auf der Suche nach einer Bildsprache haben wir vollkommen neue Materialien entdeckt.«
»Zeig mal«, sagte er.
Yella dachte nicht im Traum daran, sich so leicht geschlagen zu geben.
»Das Atelier hat bereits Anfragen aus Paris. Die Modebranche ist heftig an unseren Entwürfen interessiert.«
Er streckte ungeduldig die Hand aus.
»Natürlich exklusiv, versteht sich. Sie wollen den Scoop.«
»Wir haben ein Nachbesserungsrecht im Vertrag«, sagte Martin.
Sie reichte ihm scheinbar widerstrebend die Mappe.
»Ganz unverbindlich«, sagte Yella. »Wir sind schon mit anderen Parteien im Gespräch. Deswegen die Fischvergiftung, du verstehst?«
Er blätterte, ohne ein einziges Wort zu sagen. Seine Finger strichen behutsam über die Materialprobe. Und dann holte Yella ihren Trumpf heraus. Ein Minimodell des Kleides. Doro hatte in stundenlanger Kleinarbeit die Reste der PET -Flaschen zu einem neuen Stoff gewoben und geformt. Doros neue Undine trug ein voluminöses Kleid, das sich aus feinen Plastikfäden zusammensetzte. Die durchsichtigen Fäden wirkten wie Wasser, das mitten in der Bewegung gefroren war. Ein schwebender Wassergeist, eine erstarrte Welle, eine Schaumgeborene. In ihrem Abfallkleid verfing sich, was das Meer an Schätzen zu bieten hatte. Glitzernde Scherben ergänzten die Illusion.
Yella fühlte sich wie in der Schule, kurz vor Herausgabe der alles entscheidenden Mathearbeit. Sie konnte sein hartnäckiges Schweigen nicht deuten.
Er urteilte nicht, sondern stellte eine Unzahl von Fragen. In der nächsten halben Stunde verwandelte sich ihr Gegenüber von einem arroganten Theatermann in einen zugewandten Sparringspartner.
»Ich habe zwei Sitzungen mit Doro und Ludwig ausgehalten«, sagte er. »Ich war auf das Schlimmste vorbereitet. Aber manchmal ist die Zweitbesetzung besser als das Original.«
»Es sind ganz alleine Doros Entwürfe«, sagte Yella. »Ich bin nur der Ersatzfisch.«
»Das sehe ich«, sagte er. »Aber ich höre etwas anderes. Und was ich höre, macht mir Spaß.«
Er griff zum Telefon.
»Kommst du mal rüber?«, fragte er. »Nein, Doro ist nicht da. Jemand anderes aus dem Betrieb hat die Aufgabe übernommen. Es lohnt sich.«
»Wer kommt jetzt?«, fragte Yella.
»Benedikt natürlich. Dafür sind wir doch da.«
Er bestellte eine Flasche Wein. Als der fast zwei Meter lange Theatermann mit großer Geste reinkam und jeden mit Handschlag begrüßte, erkannte sie sofort, dass diese beiden weit mehr waren, als Praktikant und Regisseur. Sie hatte einen Etappensieg errungen, jetzt mussten Doros Entwürfe überzeugen.