44. Sonnenuntergang

»Ab heute gibt es nur noch Urlaub«, sagte Yella.

Sie hatte alle Schwestern zum Picknick am Strand eingeladen. Den halben Nachmittag hatte sie in der Küche gestanden, um Salate, Brote und Getränke vorzubereiten. Yella war zuversichtlich, dass sich die Spannungen nach Doros Abgabe in Luft und guter Laune auflösten.

 

Am abendlichen Strand war es herrlich. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich wohl. Kein T-Shirt, das an ihrem Leib klebte, kein Schweißausbruch bei der kleinsten Bewegung, kein sanftes Garen im eigenen Saft. Endlich ein bisschen Wind.

Das Gewühl des tropischen Sommertages hatte sich aufgelöst. Eine matte Trägheit hing über den versprengten Badegästen. Wer vom Strandtag übrig war, genoss die leichte Brise, die von England her hinüberwehte. Mülltruppen sammelten die Reste des Tages ein. Auf den Terrassen wurden letzte Abendessen und neue Runden Aperol Spritz und Heineken an die Tische gebracht. Tagsüber war hier die Hölle los gewesen, am späten Abend waren nur noch wenige Tische besetzt. Selbst das funkelnde Wasser zog sich zurück. Wie flüssiges Gold schwappten kleine Wellen an den Strand. Leo und Nick planschten in einer seichten Pfütze herum, die sich bei Ebbe gebildet hatte. Am Horizont hob ein Kitesurfer ab. Überall am Strand rückten die Paare näher zusammen. Der romantische Sonnenuntergang am Meer war so magisch wie ihr Zusammensein.

Von den Surfern in ihrer Nähe klang ein niederländischer Schmachtfetzen. André Hazes sang voller Herzblut, Leidenschaft und mit sich überschlagender Stimme über Bloed, zweet en tranen, Blut, Schweiß und Tränen. Amelie kannte den gesamten Text.

»Erste Lektion Einbürgerung«, erklärte sie. »Wenn du Hazes in einer Kneipe hörst, singen früher oder später alle mit. Alle. Selbst die Jüngeren.«

»Hat Philomena dir das beigebracht?«, fragte Yella.

»Spotify«, sagte Amelie. »Ich habe mit der Top 50 Holland geübt. Über Musik lernt man die Sprache am einfachsten.«

Doro thronte schweigend inmitten der Schwestern, noch immer blass. Lucy hatte sich in die Arme ihrer Mutter gekuschelt. Selbstvergessen flocht ihre große Schwester die Haare ihrer Tochter und summte Scarborough Fair mit, das als Nächstes herüberschallte: Manche Lagerfeuerhits starben offenbar nie.

»Das haben wir damals schon gesungen«, sagte Yella. »Remember me to one who lives there, she once was a true love of mine«, fiel sie in den Refrain ein.

Doro reagierte kaum. Sie wirkte erschöpft und angegriffen. Die letzten Wochen hatten ihren Tribut gefordert.

»Ich bin mir immer noch nicht sicher«, sagte sie.

»Es lief großartig«, sagte Yella und stieß Doro aufmunternd in die Seite. »Sie waren wirklich interessiert. Sie wollen sich ganz bald melden.«

Doros Stimmung blieb düster. Sie müsste doch eigentlich froh sein. Warum freute sie sich nicht ein bisschen?

»Du musst ein bisschen Vertrauen haben«, sagte Yella. »Zusammen sind wir Sommerschwestern unschlagbar.«

Doro begutachtete kritisch Lucys halbfertige Frisur und begann von Neuem. Yella kannte diese Unsicherheit von David. Vielleicht war es das Schicksal wirklich kreativer Menschen, niemals so richtig zufrieden mit einem Ergebnis zu sein.

»Ihr hättet das Gesicht des Regisseurs sehen sollen«, erzählte Yella weiter. »Ich bin sicher, wir haben das Ding in der Tasche. Ich habe ein gutes Gefühl.«

Die Gläser stießen gegeneinander. Doro trank nicht mit.

»Ich muss einfach nur ins Bett«, sagte sie.

»Das kann nicht gut gehen«, hatte Helen gewarnt.

»Das muss gut gehen«, sagte Yella.

 

Yella ging mit einem merkwürdigen Gefühl ins Bett und sie stand mit einem seltsamen Gefühl auf.

»Heute bin ich an der Reihe«, sagte sie, als Helen sich am Morgen nach Alkmaar zum Schwimmen aufmachte. Um keinen Preis der Welt wollte sie untätig im Haus sitzen und mit einer nervösen Doro auf den entscheidenden Telefonanruf warten. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um Doro zu helfen. Jetzt waren ihre Kinder dran. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Fortschritte im Schwimmbad zu begutachten. Weiter als bis zur Kantine kam auch Yella nicht. So kurz vor dem Examen ließ die Gruppe keinerlei Zuschauer zu. Sie musste sich noch ein wenig gedulden, bevor sie ans Becken durfte. Nach dem Schwimmen lud sie Nick und Leo zum Eisessen ein, auf dem Rückweg machten sie halt an dem schattenreichen Spielplatz am Pannenkoekenhuis. Bram, der die Hochzeit ihrer Mutter ausgerichtet hatte, begrüßte sie wie alte Freunde. »Ich bin so froh für Thijs und deine Mutter«, sagte er. »Sie sind so glücklich miteinander.«

Während die Jungen sich austobten, tauschte sie sich am Telefon mit David aus.

»Ich will mich beruflich verändern«, sagte sie.

Die Tage mit Doro hatten ihr die Augen geöffnet. Sie hatte sich die letzten Jahre mit einer Arbeit zufriedengegeben, die die Familie ernährte, aber nicht ihren kreativen Kopf befriedigte.

»Es muss in meinem Leben mehr geben als digitale Bezahlsysteme«, sagte sie.

Sie hatte sich so gefreut, mit Nick und Leo am Strand zu liegen und gedankenlos in der Sonne zu braten. Die letzten Tage hatten sie gelehrt, dass es keineswegs Nichtstun war, das sie entspannte, es war die Auseinandersetzung mit Inhalten, die ihren Kopf frei machte. Yella hatte sich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt. Es hatte ihr riesigen Spaß bereitet, ihre Talente in einem kreativen Bereich einzusetzen.

»Du willst Doro Konkurrenz machen?«, fragte David.

Yella zuckte zusammen. Der Satz klang hart. Doro und Yella waren einander so oft in ihrem Leben im Weg gewesen. Hatte David recht?

»So meine ich das nicht«, wehrte sie sich.

Sie würde nie wagen, in Doros allzu große Fußstapfen zu treten. Aber sie sehnte sich nach einer spannenderen Aufgabe.

»Eine Prise Doro täte mir vielleicht ganz gut«, gab sie zu.

»Dann ziehe ich aus«, sagte David lachend.

Sie war ein bisschen gekränkt darüber, dass er nicht verstehen wollte, was sie meinte. Yella hatte in ein fremdes Leben geblickt und in sich einen Funken entdeckt, der ihr klarmachte, dass in ihr so viele Talente schlummerten, die unter einer Decke aus Alltag begraben waren. Jahrelang hatte sie David den Rücken freigehalten. Sollte nicht sie jetzt mal an der Reihe sein?

»Wir sprechen darüber, wenn du wieder da bist«, sagte sie.

Undine hatte einen Denkprozess bei ihr angestoßen. Sie hatte keine Ahnung, wohin ihr Weg führte, aber es fühlte sich gut und richtig an.