Die Temperatur war kurz vor dem Siedepunkt.
»Ich koche«, brüllte Nick von seinem Kindersitz im Auto.
Empört hielt er die geschmolzenen Gummibärchen hoch, die sie im Schwimmbad erworben hatten.
Als Yella die Tür zur Villa Vlinder öffnete, spürte sie sofort die aufgeheizte Stimmung. Die Hitze des späten Nachmittags hing in dem Haus fest wie Spinnenweben. Helen fächerte sich mit einem Blatt Papier Luft zu. Amelie und Lucy klebten mit betretenen Mienen buntes Papier auf die leeren Gläser, die Philomena ihnen vorbeigebracht hatte.
»Wir sind fast fertig«, sagte Lucy und wies auf den Karton mit den eingefärbten Gläsern. Sonderlich glücklich klang sie nicht.
Leo war beeindruckt von den farbenfrohen Kreationen: »Damit können wir in den Himmel zu Opa leuchten«, sagte er, ohne die betretenen Mienen zu registrieren.
Die Bezeichnung war fast schmerzhaft. Johannes Thalberg war nie ein Opa gewesen und würde nie ein Opa sein. Die Sommerschwestern lebten schon länger ohne als mit ihm, und Doro war kurz davor, ihn im Alter zu überrunden. Yella erinnerte sich schlagartig an die Atmosphäre, die herrschte, als sie am Morgen nach dem Sturm ins Wohnzimmer kam und sofort spürte, dass etwas Schlimmes passiert war. Gewitterstimmung hatte im Raum gehangen. Man spürte das Unheil, bevor es über einem zusammenbrach.
Im Hintergrund räumte Doro geräuschvoll die Spülmaschine aus. Sie gab sich nicht die geringste Mühe, Geschirr und Töpfe pfleglich zu behandeln. Es klirrte und knallte. Niemand wagte, ihr etwas entgegenzusetzen.
»Ihr dürft oben auf meinem Handy was anschauen«, sagte Yella zu den beiden Jungen, die johlend verschwanden.
»Was ist passiert?«, fragte Yella in die quälende Stille hinein.
Doro antwortete nicht. Sie lief wortlos an Yella vorbei und suchte ihre Sachen zusammen.
»Der Auftrag ist an die Konkurrenz gegangen«, sagte Helen.
»Die ›Undine‹?«
»Doro hat es heute Morgen gehört.«
»An die Konkurrenz? Wieso?«
»Das kannst du vielleicht besser erklären«, sagte Doro. »Ich war bei deinem supertollen Treffen nicht dabei.«
Yella hörte nur zu deutlich den Vorwurf aus ihren Worten heraus. Sie hatten den Auftrag nicht bekommen? Nachdem sie sich fast einig gewesen waren?
»Es lief gut«, wiederholte sie verwundert.
»Ach ja?«, fragte Doro mit beißendem Unterton.
»Sie liebten deine Entwürfe. Sie haben bereits Pläne gemacht.«
Yella verstand die Welt nicht mehr. Hatte ihr Gefühl für die Situation sie so getrogen? Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis sie realisierte, dass Helen von Anfang an recht gehabt hatte. Sie hätte sich raushalten sollen. Warum hatte sie sich von Doro einwickeln lassen? Warum hatte sie sich überhaupt in Doros Probleme hineinziehen lassen? Aber es war bereits zu spät.
Doro ging in den Angriffsmodus über: »Ich habe gleich gesagt, dass wir noch nicht fertig sind. Warum musstest du dich unbedingt vordrängeln?«
»Weil du mich darum gebeten hast.«
»Du hättest mich vor mir selbst schützen müssen. Du hättest sehen müssen, dass der Vorschlag nicht präsentabel war.«
»Die Kostüme sind großartig.«
»Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir die ›Undine‹ noch einmal gründlich überarbeitet. Ein paar Tage mehr und das Desaster wäre uns erspart geblieben.«
Helen presste die Lippen aufeinander. Keine der Schwestern wagte es, irgendetwas einzuwerfen. Keine der Schwestern verteidigte sie. Sahen Amelie und Helen das etwa genauso wie Doro? Alles, was Yella für ihre Schwester getan hatte, sprach nun gegen sie.
»Warum musstest du mich zwingen?«, sagte Doro. »Ich wollte den Termin absagen.«
»Es ist also meine Schuld, dass du den Auftrag nicht bekommen hast?«
Doro beantwortete die Frage nicht. Yella verstand auch so. Dachte Doro wirklich, dass es einzig und alleine Yellas Fehler war, dass die Präsentation nicht angekommen war. Ihr schwindelte, als ihr die Konsequenzen klar wurden. Bis an ihr Lebensende würde sie von der gesamten Familie für den Niedergang von Doros Studio verantwortlich gemacht werden.
»Sie wollte dir nur helfen«, sprang Helen ihr zur Seite. »Ohne Yella wärst du nie fertig geworden.«
Yella war ihr dankbar, dass sie ihr das »Siehst du, ich habe es dir von Anfang an gesagt« ersparte.
»Pack dein Zeug, Lucy«, sagte Doro. »Wir fahren nach Hause.«
Ihre Worte donnerten auf Lucy runter. Sie war eingeschüchtert, aber versuchte es noch einmal mit Gegenwehr.
»Ich habe keine Lust auf Köln. Mir gefällt es hier.«
»Aber mir nicht«, sagte Doro.
»Ich habe Leo und Nick versprochen, mit ihnen ins Aquarium zu gehen. Und wir wollten noch Trampolin springen. Und ich will beim afzwemmen dabei sein. Und die Surfer haben eine Party und der Lichterabend …«
In ihrer ungestümen Wut fegte Doro den Karton mit den fertigen Gläsern vom Tisch. Yella probierte vergeblich, das Schlimmste zu verhindern. Mit riesigem Geschepper gingen die Kunstwerke auf dem harten Steinboden zu Bruch.
»Lichtjesavond fällt aus. Bedank dich bei deiner Tante Yella«, ätzte Doro. »Wir müssen nach Köln und sehen, was zu retten ist.«
Yella hob hilflos die Arme.
»Darf ich hierbleiben, Yella?«, bettelte Lucy, während sie in den Scherben nach heilen Gläsern suchte. »Ich will nicht den Rest meiner Ferien zu Hause eingesperrt verbringen.«
»Sie kann gerne bleiben«, sagte Yella unsicher.
Doro hielt inne. Sie erstarrte geradezu. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Der harmlose Satz flirrte in der Luft zwischen ihnen. Yella war im Auge des Sturms angekommen. Der letzte Moment der Ruhe, bevor Orkan Doro neuen Atem holte. Ihre große Schwester schoss auf Yella zu und baute sich vor ihr auf.
»Was genau ist dein Problem, Yella Thalberg?«
Yella wand sich. »Ein Kind mehr oder weniger macht wirklich nichts aus. Lucy ist herzlich willkommen.«
»Natürlich ist sie das. Du willst alles haben, was ich habe. Meine Tochter. Meine Arbeit. Mein Leben.«
Yella sank getroffen zusammen, doch Doro war noch nicht fertig. »Dein ganzes Leben hechelst du mir in den Nacken. Ich habe gesagt, dass ich nicht präsentieren will. Warum musst du dich in alles einmischen?«
Yella versuchte, sich zu wehren.
»Schon damals musstest du deine Nase in meine Angelegenheiten stecken. Du wusstest genau, dass ich auf Frenkie stand. Und was machst du? Du knutschst heimlich mit ihm. Nur um zu beweisen, dass du mindestens so toll bist wie ich.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ich war zuerst mit Frenkie befreundet.«
»Doro, das ist doch egal«, mischte Helen sich aus dem Hintergrund ein. »Das sind doch olle Kamellen.«
»Sind es nicht. Frenkie ist der Grund, warum unser Leben so beschissen gelaufen ist. Es ist alles Yellas Schuld.«
»Was soll das, Doro? Hör auf«, mischte nun auch Amelie mit.
Doch Doro verstieg sich immer weiter, bis ihre Wut in einem einzigen, vernichtenden Satz mündete: »Wenn Yella sich nicht dauernd einmischen würde, könnte unser Vater noch leben!«
Yella sank in sich zusammen, als hätte eine Kugel sie getroffen.
Helen horchte auf.
Doro wütete weiter: »Du wolltest wissen, was unseren Vater in der Nacht aus dem Haus trieb, Helen. Frag Yella. Die weiß es am allerbesten.«
Yella wand sich.
Doro nahm ihr die Aufgabe ab.
»Yella hat unseren Vater Richtung Strand geschickt. Sie war die Einzige, die wusste, dass ich mit Frenkie auf die Party wollte. Sie hat mich verpetzt, weil sie eifersüchtig war. Und sie ist bis heute eifersüchtig. Auf mich, auf das Leben, das ich führe, auf meine Tochter.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Yella.
»Frag Amelie«, tobte Doro weiter.
Amelie sah panisch Doro an. »Komm, wir vertragen uns. Wir wollen uns nicht schon wieder streiten.«
»Sag es, Amelie«, rief Doro. »Es wird Zeit, dass wir alle Fakten auf den Tisch packen.«
Amelie sah Yella an. Tränen stiegen in ihren Augen auf.
»Es war das Gewitter. Und Doro war nicht in ihrem Bett.«
Sie stockte.
»Ich will die alte Geschichte nicht wieder aufwärmen.«
»Doch, das wirst du«, sagte Doro.
Amelie sah Yella fragend an.
Helen rückte ein Stück von Yella ab, als ahne sie, dass das, was gleich kommen musste, ihre Beziehung verändern würde.
»Ich hatte solche Angst. Es klopfte dauernd an mein Fenster«, sagte Amelie. »Und Doro war verschwunden.«
Sie schnappte nach Luft, als erlebe sie den Panikanfall von damals ein zweites Mal. Ihre Stimme brach. Den drohenden Worten ihrer großen Schwester hatte sie nichts entgegenzusetzen.
»Also hast du Yella nach unten geschickt, um Papa zu holen.«
Amelie erhob sich. »Ich will das nicht. Ich habe mir vorgenommen, nur noch die positiven Dinge in mein Leben zu lassen. Ich will diese alte Geschichte nicht mehr hören.«
Aber ich will es hören, dachte Helen.
Amelie weinte jetzt: »Warum seid ihr überhaupt nach Bergen gekommen? Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen? In dieser Familie kann niemand glücklich werden.«
»Du kannst nicht vor der Wahrheit weglaufen«, meinte Doro.
Yella wehrte sich: »Das stimmt nicht. Ich habe Doro nicht verpetzt.«
Helen versteinerte. Sie hatte ihrer Zwillingsschwester nie wirklich abgenommen, dass sie sich an nichts erinnerte.
Doro nahm Amelie die Entscheidung, ihre Geschichte der Sturmnacht mit ihrer Familie zu teilen, ab. »Amelie hat mir alles erzählt. Wie sie sich in mein Zimmer geflüchtet hat. Und ich war nicht in meinem Bett. Oh, wie gefährlich. Und dann bist du nach unten gegangen, um Papa zu erklären, dass ich mich heimlich davongestohlen habe. Aber ich war nur auf dem Klo, Yella. Mir war schlecht. Die ganze Nacht schon.«
»Ich habe dich nicht verpetzt«, sagte Yella schwach.
Doch Doro war in Fahrt. »Ich habe dich immer beschützt, Yella Thalberg. Ich habe zwanzig Jahre für dich geschwiegen. Und was tust du? Du fällst mir in den Rücken.«
»Stimmt das?«, fragte Helen.
Yella kämpfte mit sich, so wie sie damals mit sich gerungen hatte. Amelie hatte in der Sturmnacht einen regelrechten Panikanfall erlitten. Ihre kleine Schwester hatte am ganzen Leib gezittert, die Augen weit aufgerissen, die Lippen bläulich verfärbt. Die Angst um ihre kleine Schwester hatte sie fast umgebracht. Aber gleichzeitig realisierte sie nur zu genau, in welcher Zwickmühle sie sich befand. Wenn sie ihren Vater alarmierte, würde er nach oben kommen und Doros Abwesenheit bemerken.
»Ich wollte zu Papa«, gab Yella zu.
»Halleluja«, tönte Doro.
»Aber dann kam etwas dazwischen.«
Doro lachte höhnisch auf. »Du kannst nicht zu deiner Schuld stehen. Bis heute nicht.«
Jetzt weinte auch Yella. »Es stimmt«, wiederholte sie. »Ich wollte Papa holen …«
Doro zog ein triumphierendes Gesicht. »Hört, hört. Jetzt kommt es.«
»Aber es kam anders«, sagte Yella.
Die Blicke ihrer Schwestern ruhten erwartungsvoll auf ihr. Yella kämpfte mit sich und entschied, dass der Moment gekommen war, zu erzählen, was sich an dem Abend wirklich zugetragen hatte.
»Ich wollte zu Papa. Aber er war nicht alleine.«
Sie stockte.
»Eine Frau war bei ihm. Während Mama in der Oper war, hatte Papa eine andere Frau im Arm.«
Yella sah immer noch vor sich, wie ihr Vater mit erschrockener Miene die Frau aus seiner Umarmung entlassen hatte.
»Stehst du schon länger hier?«, hatte er gefragt.
»Ja.«
Yella hatte in der Sturmnacht etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen.
»Mach dir keine Sorgen, Yella. Das ist etwas zwischen mir und deiner Mutter. Es kommt alles in Ordnung«, hatte er sie beschworen. »Das hier ist unser kleines Geheimnis. Du musst deinen Schwestern nichts verraten, überlass das mir.«
Die Frau hatte eilig ihre Tasche gegriffen, um das Haus zu verlassen.
Kurz bevor die beiden in den Sturm getreten waren, hatte er sich ein letztes Mal umgedreht und verschwörerisch seinen Zeigefinger über die Lippen gelegt. Sie würde dieses allerletzte Bild ihres Vaters bis ans Ende ihrer Tage mit sich herumtragen. Yella konnte sich nicht erinnern, wie lange sie regungslos auf der Treppe gekauert hatte. Als sie in den oberen Stock zurückkehrte, lag Doro in ihrem Bett, in ihrem Arm Amelie.
»Wo warst du?«, hatte Yella empört gefragt.
»Ich schlafe«, hatte Doro geantwortet.
»Wir haben dich überall gesucht.«
»Ich war den ganzen Abend zu Hause.«
»Und die Party?«
»Was interessiert mich die Party? Ich wollte da sowieso nie hin.«
Doro schwor Stein und Bein, nie weg gewesen zu sein. Bis heute.
»Zwanzig Jahre habe ich mich gefragt, wer die Frau war«, gab Yella stockend zu.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte Helen.
»Am Tag nach dem Sturm?«, fragte Yella. »In den ersten Schock hinein?«
Der ganze Raum, vom Boden bis zur Decke, war gefüllt gewesen mit Trauer und Entsetzen. Kein einziges Wort hätte mehr in das Wohnzimmer gepasst.
»Und später?«, fragte Helen nach.
»Mama war so unglücklich. Ich habe mich nicht getraut, ihr noch mehr Kummer zu bereiten. Und dann war es irgendwie zu spät.«
Zwanzig Jahre hatte sie die Geschichte für sich behalten. Zwanzig Jahre war sie fast daran erstickt. Zwanzig Jahre hatte sie das größte Geheimnis ihres Vaters mit sich getragen und gehütet. Zwanzig Jahre gelogen, um gewissenhaft den letzten Auftrag des Vaters zu erfüllen.
Doro fand als Erste aus der Schockstarre zurück: »So ein Blödsinn, Yella«, sagte sie. »Das denkst du dir aus.«
Und dann wurde sie noch deutlicher. »Du lügst. Und jetzt ziehst du auch noch unseren Vater mit rein. Was willst du damit sagen? Dass er eine Affäre hatte? Unser Vater?«
Yella schwieg. Sie hatte schon viel zu viel gesagt. Doro wütete weiter.
»Feige bist du. Nie die Verantwortung übernehmen. Immer anderen die Schuld geben. Und wenn es niemanden gibt, dann erfindest du schnell eine Affäre. Du solltest Romane schreiben. Du hast viel mehr Talent als David, dir irgendwas aus den Fingern zu saugen.«
Türenknallend verließ Doro das Ferienhaus. Lucy erhob sich wie in Zeitlupe von ihrem Stuhl und trottete kleinlaut hinterher.
Helen sah Yella verletzt an. »Wir wollten ehrlich miteinander umgehen«, sagte sie. Dann fehlten ihr die Worte. Fassungslosigkeit stand in ihrem Gesicht.
»Es stimmt wirklich«, sagte Yella.
»Und woher soll ich wissen, ob du jetzt die Wahrheit sagst?« Helen schüttelte entnervt den Kopf: »Das ist der Grund, warum ich keine Kinder möchte. Ich bin nicht geeignet für eine Familie.«
Sie zog sich in ihr Zimmer zurück. Ein paar Minuten später kehrte sie mit kleinem Gepäck wieder. »Ich suche mir was anderes für heute Nacht«, erklärte sie. »Ich brauche eine Pause.«