46. Wie kannst du nur?

Blitze zuckten, Donner grollte unheilvoll. Der Wind scheuchte Blätter vor sich her und Menschen ins Haus. Yella raste durch alle Räume, um die Fenster zu schließen, bevor es losging.

Ihr war zum Heulen zumute. Das durfte einfach nicht wahr sein. Der Unfall erschütterte die Familie zum zweiten Mal in ihren Grundfesten. Sie war nach Holland gekommen mit dem klaren Vorsatz, die Vergangenheit endgültig abzuschütteln. Jahrelang war sie am Rand des Abgrunds getänzelt, jetzt fiel sie in ein tiefes Loch.

Yella hatte von Anfang an alles falsch gemacht. ›Undine‹ hatte sie fasziniert. Vielleicht, weil sie sich in der mystischen Geschichte wiedergefunden hatte. Die zauberhafte Oper drehte sich um die Themen ihres Lebens: um Sturmnächte, Verrat und eine Geliebte, die den untreuen Mann in den Tod zog.

Jede der Schwestern, das hatte sie in den vergangenen Tagen begriffen, fühlte sich auf ihre eigene Weise verantwortlich für den Tod des Vaters. Vermutlich selbst Doro. Warum sonst log sie über den Abend? Sie schenkte sich ein Glas von Doros Schnaps ein, als ihr Telefon klingelte.

»Was machst du denn schon wieder?«, bellte ihre Mutter übergangslos ins Telefon.

Doro hatte sie angerufen und über die Geschehnisse des Abends informiert. Henriette Thalberg war empört.

»Wie kannst du so einen Unsinn in die Welt setzen? Dein Vater war der großartigste Ehemann der Welt, eine treue Seele. Wie kannst du es wagen, sein Andenken auf diese ungeheuerliche Weise zu beschmutzen?«

»Weil es die Wahrheit ist«, sagte Yella.

»Was ist bloß los mit dir?«, fragte ihre Mutter. »Warum musst du immer alles kaputt machen?«

Yella schwieg. Sie fühlte sich elendig.

»Ich bin gerade dabei, mich ein bisschen von meiner Krankheit zu erholen. Aber wie kann ich gesund werden, wenn du solche Lügen verbreitest?«

Ihre Vorwürfe mündeten in ein Klagelied darüber, wie schwierig Yella für sie als Mutter war.

»Wie kannst du mir das antun?«, schrie sie.

Dann verstummte ihre Stimme. Auf einmal hatte sie Thijs am Telefon.

»Yella, du musst morgen wieder anrufen. Deiner Mutter geht es nicht gut. Sie darf sich nicht aufregen.«

Er legte auf, bevor sie etwas entgegnen konnte.

 

Draußen setzte der Regen ein. Heftige Gewitter entluden sich über der Nordseeküste. Die kühle Luft brachte keine Erleichterung für Yella. Sie fühlte sich wie im Fieberrausch. Mit einem Mal war sie furchtbar böse auf ihren Vater, der ihr eine tickende Zeitbombe hinterlassen hatte. Warum sorgte er sich mehr um die fremde Frau als um die eigene Familie? Warum hatte er ihr sein Geheimnis anvertraut? Warum war ihre Loyalität zum Vater so übermächtig, dass sie sogar Helen dafür verraten hatte? Yella schämte sich in Grund und Boden, weil sie es nicht gewagt hatte, Helen die Wahrheit zu sagen. Amelie hatte es immer schon gesagt: Die Geschichte mit ihrem Vater war noch längst nicht an ihrem Ende angekommen. Ein Toter vergiftete seit zwanzig Jahren die Beziehungen der Lebenden.