Helen konnte keinen klaren Gedanken fassen. In ihr tobten Wut, Verwirrung, Trauer und Unglaube. Wer war im Recht? Wer sagte die Wahrheit? Wer spielte eine Rolle? Wer log? Wieso war ihr Leben so unübersichtlich?
Ziellos fuhr sie im strömenden Regen durch die Straßen von Bergen. Kinder tanzten in den Pfützen und genossen die kühle Dusche. Sie war den Tränen nahe. Wäre nicht das Konzert mit Milou gewesen, sie wäre sofort abgereist. Helen konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Vater eine Affäre gehabt hatte. Es passte nicht in das Bild, das sie sich bislang von ihrem Vater gemacht hatte. Johannes Thalberg war alleine im Auto gewesen, als er verunglückte. Es gab keinen einzigen Beweis, dass die mysteriöse Besucherin tatsächlich existierte.
Yella hatte sie angelogen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass auch ihre große Schwester nicht die Wahrheit gesagt hatte. Wo war sie wirklich in der Nacht gewesen? Mehr als jemals zuvor hoffte sie auf Milou. Doros Jugendfreundin war ihre letzte Hoffnung, Klarheit zu bekommen. Sie war es nicht gewöhnt, Dinge halb fertig und unerledigt zurückzulassen.
Leider war es nicht einfach, eine Unterkunft zu finden. Noch nicht einmal für eine Nacht. Im Hochsommer waren alle Hotels ausgebucht.
»Wir haben leider nichts frei«, hörte sie wieder und wieder.
Nach ein paar vergeblichen Versuchen im Zentrum von Bergen gab Helen ihre Suche auf und lenkte den Wagen in Richtung Alkmaar. Die Scheibenwischer hatten Mühe, den Wassermassen, die aus dem Himmel niederbrachen, Herr zu werden. Die Sicht war schlecht, ihre Koordination mäßig. Sie war zu aufgewühlt, um Spur zu halten. Warum hatte sie sich nur ins Auto gesetzt? Rechts und links spritzte Wasser hoch. Ein Fahrradfahrer schoss aus einer Nebenstraße hervor. Ihr hektisches Bremsmanöver mündete in eine Rutschpartie. Helen verlor endgültig die Kontrolle über das Fahrzeug. Für einen Moment fürchtete sie, in voller Fahrt an einem der imposanten Bäume der Eeuwigelaan zu enden. Genauso wie ihr Vater geendet war. War auch er durcheinander gewesen? In seelischer Aufruhr? Hatte er geahnt, dass das Leben, wie er es kannte, vorbei war? Weil seine Tochter ihn mit einer anderen Frau überrascht hatte? Mit zittrigen Beinen gelang es ihr, den Wagen in letzter Sekunde zum Stehen zu bringen. Vor ihr im Schein des Lichtkegels leuchtete ein bunter Wegweiser, der mit Luftballons geschmückt war: Cultuurdorp.
Helen suchte Unterschlupf und Rat bei ihrer Zwillingsschwester. Vielleicht zum ersten Mal im Leben.
»Du musst Madame Jeanette um Hilfe fragen«, sagte Philomena, als Helen komplett durcheinander, bis auf die Knochen durchnässt und bibbernd auf dem Gelände des Kulturdorfs auftauchte.
»Ich mache dich gleich mit ihr bekannt.«
Die einem Nomadenzelt nachempfundene Jurte, die sie gemeinsam mit Amelie bewohnte, war geräumiger als gedacht. Ein paar Freunde chillten auf zwei altersschwachen Sofas. Helen sah sich neugierig um: Wer von den Anwesenden hörte wohl auf den seltsamen Namen?
Was auf den ersten Blick aussah wie ein einfaches Zelt, entpuppte sich bei Regen und Unwetter als gemütliche Unterkunft. Draußen zuckten Blitze, drinnen war es mollig warm. Viel Privatsphäre genoss man nicht in ihrer kreisrunden Hütte, aber mit einem Kühlschrank, einer eigenen Dusche und Toilette gehörte Amelies zeitliche Behausung eindeutig in die Kategorie Glamping.
Philomena bereitete mit hochrotem Kopf Roti zu, während der Regen ununterbrochen auf das Dach trommelte.
»Roti ist klassisch Surinam«, klärte Philomena Helen auf: Huhn und Kartoffeln köchelten in trauter Einigkeit in einer scharfen Soße voller exotischer Gewürze.
Amelie nahm Helen in die Arme: »Mach es wie ich«, sagte sie. »Ich habe mich viel zu lange mit dem Verlieren beschäftigt: von Dingen, Menschen, dem roten Faden in meinem Leben. Ich habe beschlossen, nur noch zu finden.«
Mit glänzenden Augen beobachtete sie Philomena, die wie ein Kobold von einem Topf zum anderen tänzelte. Ihr donnerndes Lachen hatte die Kraft von Tintenfischtentakeln. Es zog einen automatisch in ihre Nähe.
»Wenn sie erzählt, bekommt jede Katastrophe eine Pointe«, sagte Amelie.
Philomena nahm nichts ernst: sich selbst nicht, aber auch nicht die Dramen der anderen.
»Ihr solltet mal miterleben, wie es zugeht, wenn meine 36 nächsten Verwandten aufeinandertreffen. Es menschelt eben in der Familie Thalberg. Wie in jeder anderen Familie auch. Ihr seid nichts Besonderes«, stellte sie nüchtern fest.
Sie füllte großzügige Portionen auf zusammengewürfeltes Geschirr.
»Madame Jeanette weiß immer Rat«, sagte sie und überreichte Helen einen übervollen Teller. Huhn und Kartoffeln wurden mit langen Bohnen, dünnen Mehlpfannkuchen und hart gekochtem Ei serviert.
»Müssen wir nicht auf deine Freundin warten?«, fragte Helen.
Philomena schüttelte den Kopf. »Alles da drin«, sagte sie.
Mit dem ersten Bissen begriff Helen, was Philomena meinte. Madame Jeanette, so lernte sie, war keine Person, sondern der Name der typischen Chilisorte aus Surinam, die dem Roti erst den richtigen Pfiff verlieh. Das Gericht war so scharf, dass sämtliche Gedanken mit einer Vollbremsung zum Stillstand kamen. Es schmeckte wunderbar. Vor allem in Gesellschaft.
Philomena war hungrig und verdrückte Essensportionen wie ein Bauarbeiter. Dass sie nicht als kleine runde Kugel durchs Leben ging, lag wohl daran, dass sie immer in Bewegung war.
»Sie ist anders als andere Frauen. Sie redet nie über Diäten, Low Carb und Männer«, flüsterte Amelie. »Das hat mir sofort gefallen.«
Leider hielt die Wirkung von Madame Jeanette nicht ewig an. Beim Abwaschen meldeten sich die drängenden Fragen zurück.
»Stimmt das, was Yella erzählt?«, fragte Helen.
»So eine Affäre hat nichts mit mir zu tun«, sagte Amelie. »Ich will es nicht wissen.«
»Aber ich«, sagte Helen leise. »Es geht nicht um die Affäre, es geht darum, ob wir Sommerschwestern einander vertrauen können.«
»Ich wünschte, ich wäre neun Jahre alt und könnte noch mal von vorn anfangen und alles richtig machen«, seufzte Amelie.
»So ein Unsinn«, mischte Philomena sich ein. »Du musst dir einfach vorstellen, dass du in Wirklichkeit schon 89 bist. Und dann wachst du am Morgen auf und stellst fest, dass du wieder dreißig bist. Du stehst auf und hast auf einmal 59 geschenkte Jahre vor dir. 59 Jahre, in denen du alles richtig machen kannst.«
Mehr noch als das Essen tröstete Philomenas universales Relativierungsvermögen. Helen verstand immer besser, was Amelie an der quirligen Frau liebte. Sie ließ nicht zu, dass man sich in Selbstmitleid suhlte. Sie war wie eine anarchische Pippi Langstrumpf, die sich die Welt machte, wie sie ihr gefiel.
»Es leben heute mehr Leute als jemals gestorben sind. Schon deswegen gibt es rein rechnerisch mehr Gründe, zu feiern, als Gründe, traurig zu sein. Reine Mathematik!«
»Sie ist Weltklasse«, flüsterte Helen Amelie zu.
Zum ersten Mal waren sie sich einig.