48. Ein neuer Morgen

Die Sonne schien Yella ins Gesicht. Mühsam erhob sie sich, taperte ins Badezimmer, putzte wie automatisiert die Zähne und war fast verblüfft: Die Sommerschwestern waren endgültig implodiert und die Sonne war dennoch aufgegangen. Sie hatte endlich ausgesprochen, was ihr so lange auf der Seele gelegen hatte, und sie hatte überlebt. Ein Blick auf den Kalender offenbarte, dass sie allesamt den Todestag ihres Vaters verpasst hatten. Der große Streit hatte alles überdeckt und verhindert, dass sie auch nur einen Augenblick an seinem Jahrestag innegehalten hatten. Ein wenig schuldbewusst beschloss sie, später eine Kerze für ihn anzuzünden.

 

»Een, twee, drie, vier …«, riefen zwei Jungenstimmen fröhlich.

Ihre Söhne lagen im Pyjama auf dem Sofa und amüsierten sich königlich über Graf Zahl, der auf Niederländisch zählte. Die beiden kannten das Lied von einer alten CD , die sie auf Davids altersschwachem Player abspielten. Begeistert übten sie die Zahlen von eins bis acht. Ihre Fröhlichkeit rührte Yella.

Ihre Schwesternwelt war endgültig kaputt, aber sie lebte trotzdem weiter. Sie betete die Leitsätze herunter, die sie sonst beim frühmorgendlichen Jogging im Park begleiteten. Sie hatte die einfachen Regeln gegen die Angst verinnerlicht: Wenn du Hundegebell hörst, weiterlaufen, wenn Stimmen nach dir rufen, einfach weiterlaufen. Wenn du ein Ziel erreichen willst, geh weiter. Dasselbe galt am Morgen nach dem großen Streit: Wenn du glücklich sein willst, sing mit. So laut du kannst.

Es hatte so viel Lebenskraft gekostet, die Wahrheit zu verstecken. Einmal ausgesprochen, fiel eine unendliche Last von ihr ab. Der schlimmste Fall, vor dem sie zwanzig Jahre lang Angst gehabt hatte, war eingetreten. Ihre Familie war mit einem einzigen letzten Knall auseinandergebrochen. Es fühlte sich an wie eine enorme Befreiung. Ihr war, als hätte der Vater den Griff gelockert. Er hatte keine Macht mehr über sie.

Als sie David anrief, hörte er ihr zu, ohne sie auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.

»Weißt du, wer sie war?«, fragte David.

»Nein«, sagte Yella. »Ich weiß nicht einmal, ob sie wichtig war.«

»Deine Mutter glaubt dir nicht?«

»Glaubst du mir?«, fragte Yella.

»Dein Leben ist besser als mein Roman«, antwortete er ausweichend.

Aber es war keine Geschichte. Oder vielleicht doch? So genau wusste sie das nicht mehr. Die Sturmfrau, wie sie die geheime Besucherin insgeheim nannte, glich einem Geist, der in ihr Leben hineingeschwebt war. Mit jedem Jahr, das verstrich, ohne dass sie über die Frau sprach, verblasste sie ein bisschen mehr. So weit, dass sie nach über zwanzig Jahren manchmal selbst nicht mehr wusste, ob die Begegnung je stattgefunden hatte.

»Henriette war außer sich«, sagte sie.

»Ich bin auf deiner Seite«, tröstete David.

»Ist das so?«, fragte Yella.

»Natürlich«, sagte David.

»Manchmal fühlt es sich nicht so an«, gab Yella ehrlich zu.

»Unsere Beziehung ist eben wie der Ikea-Schrank im Schlafzimmer«, sagte David. »Wacklig, immer in Gefahr, bei allzu heftigen Erschütterungen zusammenzubrechen, aber letztlich doch enorm widerstandsfähig.«

Yella lachte auf. Das Ungetüm war ihre erste gemeinsame Anschaffung gewesen. Das Schrankmonster sollte 2 Meter 45 hoch sein, maß in Wirklichkeit jedoch 2 Meter 47. Nach dem beherzten Einsatz einer Säge passte der Kasten endlich unter die Decke. Sie hatten mit Bier auf ihr Wunderwerk angestoßen, bis sie feststellten, dass sie die Schiebetüren vergessen hatten; die hätten als Erstes eingehängt werden müssen. Es dauerte Stunden, bis sie das Möbel wieder auseinandergenommen hatten. Der Koloss war nicht nur windschief, sondern von Anfang an instabil. Vielleicht galt für Familien dasselbe wie für Wandschränke? Wenn einem am Anfang entscheidende Fehler unterliefen, konnte nie mehr etwas Stabiles und Schönes entstehen.

Doch das Versagen lag nicht alleine auf ihrer Seite. Ihre Eltern hatten eine katastrophale Ehe geführt, die bis heute lange Schatten warf. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die glaubte, das Deckmäntelchen des Vergessens über ihre Zeit mit Johannes Thalberg werfen zu können, hatte Yella endlich Verantwortung übernommen: für ihre Lüge und das Monster im heimischen Schlafzimmer. Die Schiebetüren klemmten, krachten und knackten, wann immer sie Kleidung rausholten. Er war geradezu geschwätzig und hatte Charakter. Und das Wichtigste: Das einzigartige Stück gehörte zu ihnen.

»Unser Schrank knirscht im Gebälk, aber er funktioniert. Heute jedenfalls. Morgen sehen wir weiter«, sagte sie sich vor.

 

Yella war nicht besonders gut darin, offene Konflikte auszuhalten. Einen Moment lang war sie sogar versucht, Doro anzurufen. Wenn sie ehrlich war, gab es einen Kern Wahrheit in ihren Vorwürfen. Sie hatte ihre große Schwester immer bewundert, oft sogar beneidet. Sie fand es großartig, in ihr Leben zu schlüpfen. So großartig, dass sie beschlossen hatte, sich beruflich zu verändern. Bislang hatte sie sich nie getraut, ihren kreativen Neigungen nachzugehen. Ein bisschen wie ihr Vater, der aus lauter Sicherheitsdenken zeit seines Lebens freudlos in der väterlichen Firma gearbeitet hatte. Aber Doro hatte auch unrecht.

»Du bist schuld, dass unser Vater tot ist«, hörte sie Doros Stimme.

Diesen Satz würde sie Doro nie im Leben verzeihen. Ebenso wenig wie ihre ständigen Lügen. Aus welchem Grund sagte sie nicht die Wahrheit über die Sturmnacht? Ihre große Schwester wollte immer nur gewinnen, das hieß, dass jeder andere in ihrer Umgebung verlieren musste.

 

Vom Wohnzimmer tönte das Lachen ihrer Kinder. Das fröhliche Geschnatter weckte sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie holte Kekse und den orangefarbenen Karton chocomel, wie der süße Kakao hier hieß, und drei Tassen.

»Ich will auch mitmachen«, sagte sie.

Zufrieden kuschelte sie sich zu Leo und Nick aufs Sofa, wo sie zu dritt eine Wolldecke teilten. Nick lehnte an ihre rechte, Leo an die linke Seite, während sie dem Lied von »Roodkapje« lauschten. Die singende Maus auf dem Fernsehschirm trug ein rotes Kopftuch, was sie selbst für Sprachunkundige als Rotkäppchen zu erkennen gab.

 

Yella lehnte sich entspannt zurück und genoss die Sonnenstrahlen, die durch die große Fensterscheibe auf ihr Gesicht fielen. Im Fernsehen sangen jetzt zwei Bären über Brote mit Erdnussbutter und ihre Söhne lagen in ihrem Arm, warm und vertraut. Nick drückte ihr seinen Schokoladenmund auf die Wange, während Leo die Kekse gerecht in drei Häufchen teilte. Sie hatte nicht verloren. Im Gegenteil. In diesem Moment war Yella einfach nur glücklich. Das Leben bot neben den großen und kleinen Katastrophen so viel Schönes.

Vielleicht konnte sie ihre Herkunftsfamilie nicht mehr ändern, vielleicht würde sie Doro nie wirklich etwas entgegensetzen können, aber sie konnte dafür sorgen, dass Leo und Nick in einer liebevolleren Umgebung groß wurden. Und sie war nicht alleine auf diesem Weg. Davids Abwesenheit hatte einen Anfang und ein Ende. Er würde nach Ablauf seines Stipendiums wieder bei ihnen sein. Sie hatte einen Mann, sie verdiente ihr eigenes Geld, sie war im Urlaub, sie hatte zwei großartige Söhne. Und sie hatte Pläne.