49. Tunnelblick

Der Tag nach dem Gewitter hielt angenehme Temperaturen bereit. Das Dorf erwachte zu neuem Leben. In den Tagen der Hitze glich Bergen einer Geisterstadt, nun brandete hektische Betriebsamkeit auf. Überall wurden die Vorkehrungen für den morgigen Lichterabend getroffen. In den Straßen summte es vor Aufregung. Die letzten für Kerzen geeigneten Behälter wurden vom Dachboden geholt, Lichterketten entrollt und so manche traditionelle Weihnachtsbeleuchtung umgewidmet. In 36 Stunden sollte das ganze Dorf bei Sonnenuntergang in neuem Glanz erstrahlen.

 

Yella beschloss, jeden Ferientag, der ihr noch blieb, wie einen Festtag zu behandeln. Nach den heißen Tagen entzückte sie selbst der Gegenwind auf dem Fahrrad. Zum ersten Mal passierte sie den Zeeweg, ohne zwanghaft nach der Unfallstelle zu suchen. Es gab in Bergen so viel mehr zu sehen und zu erleben.

 

Sie frühstückten am Strand poffertjes. Mit Blick auf das aufgewühlte, tiefblaue Meer schmeckten die dicken Minipfannkuchen, die mit einer Lage Puderzucker und schmelzender Butter serviert wurden, großartig. Die Luft fühlte sich klar und rein an. Yella genoss die herrlich frische Nordseebrise, während Leo und Nick stritten, wer wie viele der klebrigen Picker mit Hollandflagge, die als Gabeln dienten, bekam. Sie beruhigten sich erst, als sie im Aquarium angekommen waren, das gleich neben dem Strand lag.

Yella hatte ihren Söhnen in glühenden Farben von der Unterwasserwelt vorgeschwärmt, die sie erwartete. Noch immer stand ihr lebhaft vor Augen, wie sie als Kind mit Doro durch einen magischen Wassertunnel getobt war, während hungrige Haie sie umkreisten.

Die Wahrheit war ernüchternd. Der Tunnel existierte ebenso wenig wie die Haie. Stattdessen lief eine Brücke, die ihr so gar nicht bekannt vorkam, über einen Teich, in dem fleischfressende Piranhas herumschwammen. Als sie googelte, stellte sie fest, dass es die Unterwasserwelt in Bergen tatsächlich gab. Allerdings im norwegischen Bergen. War sie auf diese Bilder gestoßen, als sie das Internet nach Spuren ihres Vaters durchforstete? Hatten sich in den vergangenen Jahren die Ergebnisse ihrer Google-Suche als Wahrheit im Kopf festgesetzt? In Norwegen war sie jedenfalls noch nie gewesen und ganz bestimmt nicht gemeinsam mit Doro.

Yella war irritiert. Wie hatte es der Tunnel in die eigene Erinnerung geschafft? Waren die Vorwürfe ihrer Mutter am Ende berechtigt? Lag sie wirklich falsch? Wie sehr durfte sie ihrem eigenen Gedächtnis trauen? Was, wenn die Frau eine Ausgeburt ihrer kindlichen Fantasie war? Vielleicht war es die Nachbarin gewesen? Irgendetwas Harmloses, das sich über die Jahre zu einem Geschwür entwickelt hatte?

Leo und Nick bekamen von ihrer Irritation über den fehlenden Unterwassergang nichts mit. Sie waren vollauf damit beschäftigt, lebende Rochen zu streicheln und sich vor den Reptilien zu gruseln, sodass ihnen nicht weiter auffiel, dass Yellas Ankündigungen, was sie im Aquarium erwartete, kaum mit der Wirklichkeit übereinstimmten.