Ein paar Kilometer vom Strand entfernt wachte Helen in einem unbekannten Leben auf. Einen Moment lang versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, an Amelies Stelle zu sein. Als Kinder waren sie einander nie besonders nahe gewesen, als Erwachsene noch viel weniger. Jetzt lebte sie zum ersten Mal Amelies Leben. Und das auch noch in den ungewohnt bunten Klamotten ihrer Schwester. Ein Blick auf die Uhr offenbarte ihr, dass die Sonne sie viel zu früh geweckt hatte. Das Licht des frühen Morgens drang durch den Rauchabzug an der Spitze des Zeltes. Mühsam erhob sie sich von der Matratze auf dem Boden. Sie fühlte sich erdenschwer, verkatert und unglücklich. Bis sie sich aus der Jurte schälte und mitten in der Natur stand.
Die Morgensonne tupfte zartes Rot auf die sanften Hügel. Vor ihr lag die Wiese mit den Schafen, dahinter erhoben sich die Dünen. Der Wind schlich sachte durch die hohen Gräser und schüttelte die Blumen wach. Sie sog den besonderen Geruch ein, der typisch für die Momente nach einem Gewitter war. Als Chemikerin hätte sie genau erklären können, wie dieser besondere Duft zustande kam. Sie hätte etwas von Sauerstoffatomen, von energiereicher Strahlung, freien Radikalen und Ozon erzählen können. Stattdessen atmete sie einfach nur die frische Seeluft ein.
Amelie und Philomena lagen vor dem Zelt unter dicken Wolldecken. Sie hatten ihren Schlafplatz für Helen geräumt, um nach dem Regen die Nacht zusammengekuschelt auf der Wiese im Freien zu verbringen.
»Wir wollten sowieso draußen schlafen«, sagte Amelie. »Wegen der Sternschnuppen.«
Die Perseiden waren ein jährlich wiederkehrendes Ereignis.
»Wenn man eine Sternschnuppe sieht, darf man sich etwas wünschen«, hatte Amelie geschwärmt. »Und im August fallen die Wünsche zu Hunderttausenden vom Himmel.«
»Viele warten auf die Sternschnuppennacht«, sagte Philomena. »Aber wenn es dann bewölkt ist, ist man verloren. Die Kunst ist, schon an den Tagen davor in den Himmel zu schauen. Wenn man auf der sicheren Seite sein will, muss man jede Gelegenheit nutzen, um ein bisschen Glück zu erhaschen.«
Was Amelie sich wohl wünschte? Ihre Art zu leben, dokumentierte eindringlich, wie wenig ihr materielle Dinge bedeuteten.
Während Amelie auf dem Holzofen heißen Kaffee kochte, suchte Helen gemeinsam mit Philomena die Frühstückseier, die ihre Hühner auf dem Gelände gelegt hatten.
Ein Huhn stolzierte hocherhobenen Hauptes über die Festwiese.
»Das ist Lotte«, erklärte Philomena. »Lotte, sag Guten Morgen zu Helen.«
Philomena hatte die Wirkung von Prosecco auf nüchternen Magen. Wie immer sprudelte sie über vor Energie. Lotte flanierte unbeeindruckt an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Offenbar war sie so was wie der Platzhirsch, denn alle Hühner duckten sich ängstlich vor ihr weg.
»Lotte ist ein bisschen egozentrisch«, erklärte Philomena.
»Kannst du die Hühner auseinanderhalten?«, staunte Helen.
»Sie heißen alle Lotte«, erklärte Philomena. »Jedenfalls diese Woche.«
»Ihr ändert den Namen?«
»Natürlich«, sagte Philomena.
»Natürlich?«
»Ja.«
Helen starrte Philomena einfach nur an.
»Weil …?«, sagte sie schließlich.
»Es sind Therapiehühner«, sagte Philomena. »Du kannst sie buchen.«
Helen kratzte sich am Hinterkopf. Bei Philomena wusste man nie, ob sie einen von morgens bis abends hochnahm.
»Und was macht so ein Huhn dann?«, fragte sie belustigt.
»Nichts. Es ist ein Huhn, es macht gar nichts. Es ist einfach nur Huhn«, sagte Philomena mit gespielter Empörung.
Helen ahnte, dass sie jedes Gesprächsduell mit Philomena verlieren würde.
»Und was mache ich?«, fragte sie.
»Für einen kleinen Beitrag benennen wir die Hühner in Doro um, und du kannst sie nach Herzenslust rumkommandieren.«
Sie grinste über das ganze Gesicht.
Helen lachte laut auf. Philomena schaffte es immer wieder, sie zum Lachen zu bringen. Sie wünschte sich, sie könnte sich eine Scheibe von ihrer anarchischen Weltsicht abschneiden.
»Das hast du erfunden«, sagte sie.
»Ja«, antwortete Philomena. »Aber wir könnten es ausprobieren. Vielleicht hilft es.«
»Und die Eier?«
Philomena blickte sich panisch um, bevor sie Helen verstohlen in die Büsche zog. Im Schutz dichter Büsche hatte sie in einer Holzkiste Eierkartons versteckt.
»Nicht verraten«, sagte Philomena. »Sie wollen die ausgedienten Hühner schlachten.«
»Du kaufst die Eier im Supermarkt?«, fragte Helen amüsiert.
»Sie legen seit Monaten keine Eier mehr. Aber das muss ja niemand wissen.«
»Geht das nicht alles viel zu schnell?«, hatte Helen gefragt, als sie zum ersten Mal hörte, dass Amelie ihr bisheriges Leben aufgeben und nach Bergen zu Philomena ziehen wollte.
»Ich bin eben keine Theoriefanatikerin wie du«, war ihre Antwort gewesen. »Ich muss jemanden küssen, um herauszufinden, was ich fühle.«
Jetzt verstand Helen nur zu gut, was Amelie anzog. Bei den Thalbergs war alles anstrengend und erdenschwer, bei Philomena federleicht. In ihrer Gegenwart wirkte jedes Problem lösbar.
»Ich glaube, Lotte ist ein toller Name«, sagte sie.
Sie war dabei, eine neue Helen zu entdecken. Sie half sogar den Mitarbeitern bei der Vorbereitung des Lichterabends.
»Warum hast du so lange über die Nacht geschwiegen?«, griff Helen das schmerzhafte Thema vom Vortag wieder auf.
Amelie konzentrierte sich auf ihre Bastelarbeit, als habe sie die Frage nicht gehört. Helen kannte die Antwort längst. Es war das Gefühl von Schuld, das sie alle quälte.
»Ich hatte solche Angst, dass Doro was passiert ist«, sagte Amelie. »Ich habe zum Fenster rausgeschaut, und da stand jemand, im Fenster, im Haus gegenüber. Bei jedem Blitz konnte ich die Gestalt sehen.«
Tränen tropften auf das Seidenpapier, das die Farbe abgab. Ihre Hände färbten sich grün.
»Als ich das offene Fenster sah, dachte ich wirklich, die Hexe von gegenüber ist bei uns eingebrochen und hat Doro mitgenommen.«
Sie schüttelte den Kopf über ihre kindlichen Ängste, die sich an Doros Schauergeschichten entzündet hatten.
»Wenn ich mutiger gewesen wäre, vielleicht würde unser Vater noch leben.«
Sie war nicht in der Lage, weiterzusprechen.
»Glaubst du die Geschichte mit der Frau?«
Amelie zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht wissen. Es ändert nichts an meiner Beziehung zu Papa.«
Helen sah das anders. Ohne die Ablenkung von morgendlichen Schwimmstunden und der ständig anwesenden Neffen kreisten ihre Gedanken endlos um Yellas Aussagen. Wie hing das alles zusammen? Die mysteriöse Besucherin? Der Vater? Die Drohung? Yellas Aussagen und Doros eigenartiges Verhalten? Eines war sicher: Es gab jemanden im Dorf, der mehr wusste. Sie konnte es kaum erwarten, auf Milou zu treffen. Wenn es jemanden gab, der ihr Auskunft über die Bunkerparty geben konnte, war es Doros alte Freundin.