51. Einmal Zwilling, immer Zwilling

Helen verbrachte den Tag im Cultuurdorp. Sie hatte nur eine einzige Aufgabe. Überleben. Um sie herum herrschte Betriebsamkeit. Vorräte wurden neu bestückt, Holz für das Feuer vorbereitet, die Bühne umgebaut, jemand zimmerte einen neuen Schrank, einer der Wagen wurde neu gestrichen.

 

Der beste Weg, mit den eigenen Dämonen umzugehen, war, sie mit Arbeit zu betäuben. Helen half Amelie, Waren einzuräumen: In einem winzigen Laden boten sie zum Verkauf an, was der alternative Minibauernhof produzierte. Neben Philomenas Eiern, die hier heimlich eine zweite Verkaufsrunde erlebten, gab es Marmelade, vegane Aufstriche, selbst gebackenes Brot, Salben und Kräutertees. Es gab sogar eine Schütte, wo man selbst Würmer ernten konnte, um zu Hause biologische Abfälle zu verarbeiten.

»Der Ökosupermarkt in Wuppertal war nie wirklich überzeugend. Dubiose Lieferanten, zu wenig Regionales und immer noch zu viel Verpackung. Hier versuchen wir, so autark und nachhaltig wie möglich zu leben und unseren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern«, erklärte Amelie. »Was wir nicht produzieren, versuchen wir so regional wie möglich zu kaufen.«

Helen starrte auf die Eier von Philomena.

»Es geht nicht darum, alles perfekt hinzubekommen«, sagte Amelie. »Es geht um einen Anfang.«

Ganz offensichtlich verzieh sie Philomena alles. Selbst kleine Lügen.

Helen packte den ganzen Tag über wie selbstverständlich mit an. Untätigkeit war ihr ein Gräuel. Dima kehrte gerade von einer Wildkräutertour zurück und verabschiedete seine Kursteilnehmer.

»Auf dem Militärgelände hat die Natur sich über Jahrzehnte ungestört entwickelt«, erklärte Amelie. »Hier gibt es eine Vielzahl von Pflanzen, die anderswo längst ausgerottet sind. Und Dima macht daraus Cremes.«

Helen untersuchte interessiert die Tuben.

»Da stehen nicht einmal die Bestandteile drauf«, sagte die geübte Chemikerin.

»Ist jedes Mal anders«, sagte Dima. »Ich weiß auch nicht so genau, was ich tue.«

Helen verkniff sich jeden Kommentar. Sie wusste um die endlosen Testreihen, zu denen Kosmetikunternehmen verpflichtet waren. Helen wollte immer alles wissen, Amelie lieber nichts. Die Wahrheit lag möglicherweise dazwischen.

»Jeder hier hat mindestens ein Talent, das er in die Gemeinschaft einbringt. Meins ist gute Laune«, sagte Amelie und strahlte. »Und ich verbanne jeden aus meinem Leben, der mir erklärt, dass so eine Haltung naiv ist.«

Amelies Telefon meldete sich. »Eine Sprachnachricht von Philomena«, sagte sie ein wenig verlegen. Amelie errötete beim Abhören.

»Sie sagt immer die nettesten Dinge«, erklärte sie. »Sie findet selbst die Sommersprossen auf meinem Handrücken toll. Und dass mein Name in ihrem enthalten ist. Das kann kein Zufall sein, sagt sie.«

Amelie schwankte sichtbar zwischen Skepsis und Geschmeicheltsein. Die Hartnäckigkeit, mit der Philomena ihr ihre Liebe erklärte, imponierte ihr. Gewöhnt an Zweifler, Zauderer und Zweitbeziehungen, war sie ganz offensichtlich überwältigt davon, dass sich jemand mit vollem Enthusiasmus für sie entschied.

»Am Anfang dachte ich, ich liebe an ihr vor allem, dass sie so verliebt ist. Der einzige Weg, rauszufinden, ob da mehr ist, war, nach Bergen umzuziehen.«

»Weißt du es jetzt?«, fragte Helen.

»Ich nenne es verliebte Freundschaft«, sagte Amelie. »Vielleicht taugt das am Ende mehr als die große Liebe. Es ist auf jeden Fall lustiger.«

 

Helen genoss den Tag an der Seite ihrer Schwester. Sie war überrascht, wie perfekt sie im Alltag des Kulturdorfs harmonierten. Sie wusste nicht einmal, dass sie handwerkliches Geschick hatte. Gemeinsam unterstützten sie Dima dabei, aus Abfallholz ein neues Regal für seine Tuben und Tiegel zu zimmern. Der Ukrainer staunte, wie effizient die beiden Hand in Hand arbeiteten. Während er ständig im Weg stand, schien Helen immer zu ahnen, wann sie Amelie Nägel, Hammer oder Säge anreichen musste.

»Wir sind eben ein eingespieltes Team«, sagte Amelie fröhlich.

Helen wollte schon widersprechen. Wann hatten sie das letzte Mal etwas zu zweit unternommen? Doch Amelie lieferte bereits die Erklärung für diese Vertrautheit.

»Das ist das Muskelgedächtnis. Wir erinnern uns vielleicht nicht bewusst daran, dass wir die ersten neun Monate unserer Existenz auf allerengstem Raum miteinander verbracht haben, aber unsere Körper haben diese Information auf ewig abgespeichert.«

Die unkonventionelle Interpretation erstaunte Helen. Tatsächlich gelang es ihnen, scheinbar mühelos umeinander herumzutänzeln.

»Ihr seid Weltklasse«, sagte Dima, als sie das Regal am frühen Abend im Laden aufstellten.

Erschöpft ließ er sich auf einen Sitzsack fallen.

»Und jetzt?«, fragte Helen.

»Lust auf einen Drink?«, schlug Amelie vor.

»Aber dann am Meer«, sagte Helen.

»Eure Energie ist unheimlich«, sagte Dima.

»Wir sind einfach nicht so schnell müde«, sagte Amelie.

Helen lachte. Amelie vermochte selbst chronischer Schlaflosigkeit einen positiven Dreh abzugewinnen. Das musste sie sich merken.

 

Nach all der körperlichen Arbeit an der frischen Luft radelten sie einträchtig nebeneinander Richtung Strand, um den ganzen Staub aus der Lunge zu bekommen. Zum ersten Mal legte sie zu dieser späten Stunde den Zeeweg zurück. Eine Hügellandschaft in dunklen Blautönen lag links und rechts von ihr. Der Himmel leuchtete tiefschwarz über ihr. Am Horizont erahnte sie die Lichter der Strandpavillons, die ihre letzten Gäste in die Nacht verabschiedeten.

 

Helen und Amelie ließen sich im kühlen Sand nieder, tranken den mitgebrachten Rosé und starrten schweigend auf das endlose Meer und die Wellen. Auf einmal wandte Amelie ihr den Kopf zu. Helen verstand, ohne dass ihre Zwillingsschwester etwas sagen musste.

»Finde ich auch«, sagte sie.

Fast gleichzeitig sprangen sie auf, entledigten sich mit wenigen Handgriffen ihrer Kleidung und rannten einfach los Richtung Brandung.

 

Die erste Welle verschlug Helen den Atem. Das Wasser der Nordsee war noch kälter, als sie befürchtet hatte. Zitternd tat sie es Amelie gleich und ließ sich mit einem Zug ins kalte Wasser sinken. Was war das? Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Bei ihrem ersten kräftigen Schwimmzug flackerte das Wasser bläulich um sie herum auf. Sofort wurde es ihr warm ums Herz.

»Das ist zeevonk «, rief Amelie begeistert und ließ ihren Arm schnell durch das kühle Nass gleiten. Wo immer sie hingriff, leuchtete die Nordsee auf. Umgeben von Millionen kleinster Tierchen, die sich alleine unter einem Mikroskop zu erkennen gaben, schwamm Helen in einem glitzernden Teppich. Natürlich wusste sie, dass dies eine chemische Reaktion war. Doch im Moment war ihr das egal. Was interessierte sie, dass man das Naturphänomen erklären konnte? Es war pure Magie. Und das Schönste war: Sie erlebte diesen Moment gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester.

 

Später saßen sie zusammen im Dunkeln unter einem riesigen Handtuch.

Ihr Google-Kalender schickte ihr eine Erinnerung. Morgen war der Lichterabend in Bergen mit dem Konzert. Und davor der große Moment, auf den sie den ganzen Urlaub hingearbeitet hatte: Leos und Nicks Schwimmprüfung. Helen stellte das Telefon aus. Sie wollte weder an gestern noch an morgen denken.

Vor ihnen versank das Meer in Dunkelheit, über ihnen funkelten die Sterne. Nirgendwo waren Geräusche zu hören, die von Menschen verursacht wurden: kein Auto, kein Motorrad, keine Stimmen. Nur das Rauschen der Wellen und sie.

Zum ersten Mal, seit sie in Holland angekommen waren, gelang es Helen, alles abzuschütteln. Alle Sorgen, alle Fragen, alle Müdigkeit. Das Leben war kompliziert, die Familie eine Katastrophe, der Augenblick geradezu überirdisch. Helen atmete tief durch. Sie war einfach nur glücklich. Wenn sie ehrlich war, war ihr das improvisierte Leben ihrer Zwillingsschwester immer suspekt gewesen. Sie hatte nie verstanden, warum sie nie »was Richtiges« angefangen hatte. Warum hatte es sie dreißig Jahre gekostet, zu erkennen, wie viel sie von Amelie lernen konnte? Wenn Entscheidungen nicht dem Anspruch genügen mussten, für die Ewigkeit zu gelten, hatte man jeden Tag die Möglichkeit, sich neu zu entdecken. Jeder Fehler wog nur halb so schwer.

»Einmal Zwilling, immer Zwilling«, sagte Amelie in die Stille hinein.

Helen nickte einfach nur. Sie wusste, dass ihre Schwester sie auch ohne Worte verstand.