Im Hallenbad war Party angesagt. Über dem Fünfzig-Meter-Becken schaukelten bunte Girlanden, Discomusik hämmerte durch die Halle. Menschen hatten schon immer Musik: zum Tanzen, Heiraten, Sterben. In Holland gab’s Musik zur Schwimmprüfung. Auf der Tribüne am Beckenrand versammelten sich ganze Großfamilien, um die Diplome in aller Ausführlichkeit zu feiern. In einem Land mit so viel Wasser war afzwemmen eine ganz große Sache. Yella war als Einzige ohne Gefolge gekommen. An ihrer Seite Rudolf, der Terrorpinguin. Wie traurig, dass David diesen Moment verpasste. Mehr als je zuvor hatte sie das Gefühl, dass sie zusammengehörten. Ich freue mich auf dich, schrieb sie.
Yella zückte ihre Kamera, als ihre beiden Jungs mit zwei Dutzend weiteren Kindern unter donnerndem Applaus Einzug in die Halle nahmen. Sie trugen Hosen, T-Shirts, Schuhe und jeder eine leere Plastiktüte, in der sie nach der Schwimmübung in voller Montur ihre nassen Sachen deponieren konnten.
Im blitzenden Licht erkannte Yella überrascht Helen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Beckens Platz genommen hatte. Sofort stiegen Tränen in ihr auf. Nie im Leben hätte sie erwartet, dass ihre Schwester trotz aller Differenzen erscheinen würde. Es rührte sie, dass sie für ihre Neffen da war. Mehr noch: Helen hatte eine Tröte und feuerte Leo und Nick begeistert an.
Yella sendete eine Nachricht an ihre Schwester: Du bist eine großartige Tante.
Meine Neffen sind großartig, textete Helen zurück.
Es tut mir leid, schrieb Yella. Ich war überfordert.
Ich auch, schrieb Helen zurück. Ich bin es noch.
Yella war gerührt davon, dass Helen über ihren eigenen Schatten gesprungen war.
Helen gab zu, dass sie lange mit sich gekämpft hatte. Die Vergangenheit war, wie der Name schon sagte, vergangen. Sie konnte getrost eine Stunde ruhen. Man hatte immer nur ein Leben und verpasste ein anderes. Sie wusste, welches Leben sie auf keinen Fall verpassen wollte.
Leo und Nick machten ihre Sache großartig. Sie hielten sich mit ihren nassen Klamotten an der Wasseroberfläche und bewiesen eindrucksvoll, dass sie sich selbst bei einem unfreiwilligen Bad in irgendeinem holländischen Kanal an den Rand retten konnten. In Berlin war Leo am Schwimmkurs gescheitert, in Alkmaar hatte er innerhalb kürzester Zeit Grundkenntnisse in allen vier Schwimmarten erworben. Genauso wie sein kleiner Bruder. Trommelwirbel ertönte. Der Höhepunkt: Tauchen durch einen Reifen. Yella hielt den Atem an, als sie sah, wie viel Kraft es die Kinder kostete, überhaupt unter Wasser zu kommen. Leo verlor im Tiefen die Orientierung und paddelte in die verkehrte Richtung. Einmal, zweimal, gleich drei Mal scheiterte er an dem Reifen. Ein Kind nach dem anderen nahm souverän das Unterwasserhindernis. Selbst der jüngere Nick führte seinem großen Bruder vor, wie man die Aufgabe anpackte. Mit jedem missglückten Versuch wurde Leo panischer. Zitternd klammerte er sich an den Beckenrand, sein Blick starr auf Yella gerichtet. Ihr Herz brach, so verzweifelt sah er aus. Helen gestikulierte von der gegenüberliegenden Seite der Tribüne aufgeregt in Yellas Richtung. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was Helen vorschlug. Yella versetzte dem neben ihr sitzenden Rudolf einen Stoß. Mit einem jämmerlichen Laut kugelte er von der Bank.
»Go, Leo, go«, schrie Helen von der anderen Seite und klatschte rhythmisch.
Die ganze Halle stimmte ein, um Leo, der als Letzter in zwei Meter Tiefe durch den Ring schwimmen musste, anzufeuern. Der Siebenjährige holte neu Atem und verschwand unter Wasser. Als er wieder auftauchte, jubelte ihm die ganze Halle zu. Ein donnernder Tusch hallte durch das Schwimmbad.
Stolz wie Oskar nahmen Leo und Nick von ihrem Schwimmlehrer die Urkunden in Empfang. Ihre Namen wurden mit einer Begeisterung in der Schwimmhalle ausgerufen, als hätten sie soeben einen neuen olympischen Rekord aufgestellt.
Yella zerfloss vor Rührung, Helen auf der anderen Seite erging es nicht anders. Sie lachten, während die Tränen über ihre Wangen rollten.
Yella machte tausend Fotos von Leo und Nick, die stolz mit ihren in Plastik eingeschweißten Diplomen posierten. Helen befestigte blinkende Buttons an den T-Shirts ihrer Neffen. Unter dem Licht leuchtete rhythmisch eine Schrift auf: Hiep! Hiep! Hoera! Ik heb mijn zwemdiploma gehaald. Hurra, ich habe mein Schwimmdiplom geschafft.
»Ich habe immer gewusst, dass ihr es schafft«, sagte sie.
»Hast du Zeit zu reden?«, fragte Yella schüchtern.