53. Sommerregen

Die Wolken hingen dramatisch tief über dem Horizont. Helen war fast froh, dass sie ihre sündhaft teure Regenkleidung nicht umsonst mitgenommen hatte. Yella hatte sich für den gemeinsamen Dünenspaziergang einfach das knallorangefarbene Regencape übergeworfen, das eigentlich zum Fahrradfahren gedacht war.

Zu Hause warteten Nick und Leo ungeduldig darauf, dass die Sonne unterging und das Lichterfest beginnen konnte. Amelie hatte zugesagt, einen Nachmittag auf die Jungen aufzupassen. Zu viel war unausgesprochen zwischen Yella und Helen.

»Du siehst selbst in Funktionskleidung stylish aus«, sagte sie zu Helen, während sie ununterbrochen mit dem Wind kämpfte, der das Cape hochwehte.

»Ich fühle mich wie Marilyn Monroe über dem U-Bahn-Schacht«, sagte sie.

»Wenigstens hast du es luftig«, sagte Helen.

»Nicht in den Gummistiefeln«, sagte Yella. »Da ist es jetzt schon feucht. Zumindest innen.«

Bevor sie sich in nichtssagenden Gesprächen über das Wetter verloren, wagte Helen sich aus der Deckung.

»Mir geht es nicht gut«, sagte Helen. »Schon seit Monaten nicht. Und irgendwie glaube ich, dass das alles mit dem Tod unseres Vaters zusammenhängt.«

Schonungslos ehrlich berichtete sie, was sie unternommen hatte, um den Unfalltod zu rekonstruieren, und was sie bislang herausgefunden hatte. Yella blickte ratlos auf den Zettel, den Helen gefunden hatte: Rot op. Fuck off.

»Du bist etwas auf der Spur«, sagte sie.

Yella hörte aufmerksam zu, was Helen über ihren seltsamen Verfolger zu erzählen wusste.

»Es gibt im Dorf ganz offensichtlich jemanden, der mehr über unsere Eltern weiß. Aber was kann der Grund sein, dass er sich verborgen hält?«

»Schuld«, sagte Helen. »Scham? Vielleicht will er jemanden beschützen? In jedem Fall ist er ein wichtiger Zeuge.«

Ihr Blick flog misstrauisch über die Dünen, als könne sich hinter jeder Sandverwerfung, hinter jeder Biegung des Weges, hinter jedem Gebüsch und jeder Baumgruppe jemand verbergen.

»Een, twee, drie, vier, vijf, zes, zeven, acht, negen, tien. Wie niet weg is, is gezien«, sagte Helen einen Kinderreim auf.

Yella sah sie überrascht an. »Wer nicht weg ist, ist gesehen.«

Das hatten sie immer gerufen, wenn sie mit den niederländischen Kindern vom Camping in den Dünen Verstecken spielten. Am liebsten im Halbdunkel. Wie hatten sie damals den angenehmen Grusel genossen. Jetzt war aus dem Kinderspiel Ernst geworden.

»Wir sehen dich, du kannst rauskommen«, schrie Helen in die menschenleere Landschaft hinein.

Der Regen schluckte ihre Stimme. Der Trick hatte schon zu Kinderzeiten nie funktioniert.

»Es ist unheimlich«, sagte Yella. »Gesehen zu werden, ohne zu sehen.«

Helen atmete tief durch: »Erzähl mir alles über den Abend«, sagte sie.

Yella ziepte nervös an der Mütze ihres Regencapes herum.

»Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, was wahr ist und was nicht. Das Aquarium in Bergen, das sah auch ganz anders aus.«

»Ich will alles wissen, jedes winzige Detail«, sagte Helen.

»Und wenn mich meine Erinnerung trügt?«

»Es ist alles, was wir haben«, sagte Helen.

»Halbwahrheiten richten nur Unheil an«, antwortete Yella.

»Das Unheil ist schon geschehen. Schlimmer kann es nicht mehr werden.«

Yella kämpfte damit, ihr Regencape zu bändigen, das ihr bei jedem Windstoß um die Ohren flog. Die Dinger mochten fürs Fahrrad praktisch sein, für die Dünen waren sie gänzlich ungeeignet. Sie versuchte, das Plastik mit ein paar Knoten zu bändigen. In Wirklichkeit wollte sie Zeit schinden.

 

Yella stapfte energisch voraus. Jenseits des Dorfes hatten Wind und Wetter freies Spiel. Selbst bei geringen Windstärken wurde man gehörig durchgeschüttelt. Am Sturmtag waren sie morgens an den Strand gefahren. Helen erinnerte sich noch gut an die knatternden roten Flaggen, die Schwimmer eindringlich davor warnten, in die Nordsee zu springen. Ein paar übermütige Surfer hatten sich trotzdem an den lebensgefährlichen Wellen probiert. Der Wind war so sehr über den Sand gefegt, dass man die Augen kaum hatte öffnen können. Amelie hatte bitterlich geweint, weil die Sandkörner, die wie Schmirgelpapier übers Gesicht flogen, ihr wehtaten. Yella hatte getrödelt. Helen hatte sie im Verdacht gehabt, auf Frenkie zu warten.

»Es war kein guter Tag«, sagte Yella. Die Enttäuschung von damals klang immer noch durch: »Erst der Ärger mit Papa, Hausarrest, dann das blöde Pfannkuchenessen, und Doro hörte einfach nicht auf zu sticheln. Ständig kam sie in mein Zimmer, um mich zu fragen, was sie zur Bunkerparty anziehen sollte. Sie war fest entschlossen, trotz Verbot hinzugehen, und drohte, mir den Hals umzudrehen, wenn ich sie verrate. Sie sagte: ›Frenkie will ein älteres Mädchen mit Erfahrung.‹«

Helen nickte. Sie erinnerte sich auf einmal wieder daran, wie Frenkie Doro am Strand etwas zugesteckt hatte. War das die Einladung zur Party gewesen? Mit der Ortsbeschreibung? Genauso gut erinnerte sie sich, dass er davor immer nur mit Yella zusammen gewesen war.

»Ich habe ihr kein Wort geglaubt«, gab Yella zu. »Ich dachte wirklich, sie blufft. Bis ich das Fenster schlagen hörte. Als ich in ihr Zimmer kam, habe ich Amelie gefunden.«

Sie stockte wieder.

»Erzähl weiter«, forderte Helen sie auf.

»Amelie war außer sich, sie hyperventilierte, sie faselte die ganze Zeit was von der Hexe, die an ihr Fenster klopft. Ihre Lippen waren ganz blau. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.«

»Hilfe zu holen, bedeutete, Doro zu verraten«, begriff Helen.

»Ich dachte, es wäre was Schlimmes mit Amelie«, verteidigte sich Yella.

»Und dann bist du nach unten? Und dort war die Frau?«

»Sie klang nicht besonders freundlich. Sie war aufgelöst, wütend …«

»Auf Papa?«

Yella zuckte die Achseln: »Ich habe kein Wort verstanden. Ich konnte nur ein paar Brocken Niederländisch.«

Sie hatten den Aussichtspunkt erreicht. Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick über das hügelige Dünenmeer und die dramatischen Regenwolken, die in allen Schattierungen von Grau über die Hügel hinwegfegten. Wo Mitmenschen sich rausgetraut hatten, blitzten rote, gelbe und orangefarbene Kleckse in der Landschaft auf. Yella fotografierte in alle Richtungen.

»Mit neun dachte ich, die Hobbys meines Vaters sind sterbenslangweilig. Wolken malen, die Natur beobachten, Buchhaltung. Jetzt bin ich über dreißig und auf dem besten Weg, mich allmählich in meinen Vater zu verwandeln. Schade, dass ich es ihm nicht mehr erzählen kann«, sagte Yella.

»Schade, dass er uns nicht mehr erzählen kann, was wirklich in seinem Leben vorging«, meinte Helen. »Papa glaubte, ich hätte alles mit angehört. Aber dem war nicht so.«

Wortlos sahen sie über die Landschaft. Am Horizont türmten sich die Wellen mit eindrucksvollen Schaumkronen. Weit draußen waren die Bohrplattformen zu erkennen, auf denen der neue Mann ihrer Mutter gearbeitet hatte.

»Die Frau muss nicht unbedingt aus Bergen sein«, sagte Helen. »Sie kann wie wir Urlauberin gewesen sein, jemand vom Campingplatz.«

»Oder eine Frau, die mit der Kunstwelt verbunden war.«

»Wie alt?«

»Alt«, sagte Yella. »Ich war dreizehn, alle waren alt. Aber sie war sehr schön.«

Yella schloss die Augen. Wie oft war der Film wohl schon vor dem inneren Auge ihrer Schwester abgelaufen?

»Sie war sehr dünn, hatte leuchtend rote Haare und eine auffallend helle Haut. Als ginge sie nie in die Sonne. Und sie war klatschnass.«

»Eine Nixe«, lachte Helen.

»Ein bisschen wie eine Nixe, ja«, sagte Yella überrascht.

»Kein Wunder, dass dir die Geschichte der Undine so gefallen hat«, sagte Helen.

»Er hielt sie im Arm, als wolle er sie trösten«, erzählte Yella weiter. »Ich habe immer nur auf die Gummistiefel gestarrt. Lila Gummistiefel mit Blumen. Ich dachte daran, was Mama sagen würde, wenn sie wüsste, dass jemand mit matschigen Schuhen durch ihr Wohnzimmer stapft.«

Sie blickte hinunter auf ihre eigenen Stiefel, die voller Modder und Sand waren.

Yella lachte auf. »Als ob der Dreck das Schlimmste gewesen wäre.«

Es begann wieder zu regnen. Sachte trommelten die Tropfen auf ihre Mütze. Eingepackt in wasserdichte Kleidung, war es im Regen geradezu gemütlich. Yella sah das vermutlich anders. Vom Saum des Capes tropfte es unaufhörlich auf die Hose, die sich ab Mantelkante dunkel färbte.

»Unsere Undine ist offenbar durch den Regen gekommen«, sagte Helen. »Zu Fuß.«

»Sie hatte so ein Cape an«, sagte Yella. »So eins wie ich.«

»Eine Frau aus dem Dorf.«

»Und dann haben sie mich entdeckt. Ich sehe immer noch, wie sie mich anschaut. Einfach nur anschaut. Papa war erschrocken, aber ihr war es irgendwie egal.«

»Er hat sie nach Hause gebracht?«

»Ich habe ewig lange auf der Treppe gesessen. Ich habe darauf gewartet, dass Papa zurückkommt und mir alles erklärt. Irgendwann war ich komplett durchgefroren.«

»Vielleicht wohnte sie in Bergen aan Zee. Er hat sie abgesetzt und dann …«

Sie wagte nicht, weiterzusprechen.

Helen atmete tief durch. »Es gibt einen Zeitungsbericht über den Unfall. Ich habe ihn im Archiv gefunden.«

Yella war wie elektrisiert. »Und?«

»Mit einem Foto …«, fuhr Helen vorsichtig fort, »… vom Unfallort.«

Alles musste raus. Sie wollte keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen. Yella hob abwehrend ihre Hände. Tränen schossen in ihre Augen.

»Es gibt schon genug Mist in meinem Kopf«, sagte Yella. »Ich will es nicht sehen. Auf keinen Fall.«

Der Wind pustete ihnen den kalten Regen ins Gesicht. Er schien plötzlich von allen Seiten zu kommen. Yella entledigte sich des Capes, das ihr bei jedem Windstoß um die Ohren flog.

»Ich eigne mich doch nicht zur Marilyn. Eher zum begossenen Pudel«, sagte sie.

Es war kalt und nass und windig, und trotzdem fühlte Helen sich warm von innen. Sie würde vielleicht niemals endgültig wissen, ob die Thalberg-Schwestern der größte Fluch oder das größte Glück füreinander bedeuteten. Im Moment tat es einfach gut, anzusprechen, was zwischen ihnen stand.

»Ich glaube dir«, sagte sie mit fester Stimme.

Yella schluckte schwer. »Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, was wirklich geschehen ist und was ich mir einbilde.«

Der Wind trug ihre Worte davon.

»Ich hätte ihn aufhalten müssen«, sagte Yella.

Der Satz hing wie eine dunkle Regenwolke schwer in der Luft. Es war derselbe Satz, den Helen sich zwanzig Jahre lang vorgesagt hatte, der Satz, den Amelie ausgesprochen hatte. Vielleicht war es sogar ein Satz, der in Doros Kopf herumspukte. Vielleicht war das der Grund, warum sie oft so merkwürdig war.

Jede der vier Schwestern fühlte sich auf ihre Weise dafür verantwortlich, dass der Vater in der Nacht das Haus verlassen hatte. Jede der Sommerschwestern warf sich vor, dass sie den Unfall hätte verhindern können. Helen wusste aus eigener Erfahrung, dass kein Argument der Welt gegen diese Empfindung ankam. Vielleicht mussten sie lernen, mit dem amorphen und irrationalen Schuldgefühl zu leben. Sie nahm Yella einfach in den Arm, so nass wie sie war.

»Was ist mit den anderen Sachen?«, fragte Yella. »Der Zettel, die Ventile, der Mann, der uns im Auge behält?«

Helen zuckte die Achseln. »Nichts passt zusammen. Immer noch nicht.«

»Und wo war Doro?«

»Nicht in ihrem Zimmer, ich schwöre es«, sagte Yella.

»Wir müssen sie fragen«, sagte Helen.

»Kein guter Moment«, gab Yella zu bedenken.

Ihre Schwester war nach dem großen Krach aus ihrem Leben verschwunden. Lucy schrieb, dass Doro und Ludwig den ganzen Tag Krisengespräche führten. Oma ruft alle fünf Minuten an, berichtete sie.

Aber würde es je wieder einen passenden Augenblick geben?

»Du bist nicht für ihre Finanzmisere verantwortlich«, sagte Helen.

Yella war sich fast sicher, dass ihre große Schwester das anders sah. Ob sie noch Kontakt zu Amelie hatte? Helen hatte den Hollandurlaub organisiert, um ihre Geschwister wieder zusammenzubringen. Jetzt ging ein Riss quer durch die ganze Familie.

»Wir müssen uns noch ein paar Stunden gedulden«, sagte Yella. »Wenn jemand weiß, wo Doro in der Nacht war, dann ihre Freundin Milou.«