»Schuhe aus«, brüllten Leo und Nick, als die beiden Schwestern klatschnass zu Hause eintrafen.
»Gut erzogen«, sagte Yella.
Helen lachte. »Wir haben mehr von unserer Mutter, als uns manchmal lieb ist.«
Der Geruch von warmem Kuchen zog anheimelnd durch das Haus, während sie in trockene Kleidung schlüpften.
»Wir haben gebacken«, sagte Amelie. »Das Familienrezept muss dringend in die nächste Generation getragen werden.«
Stolz präsentierten die beiden Jungen ihre Kuchen: »Welchen findest du besser?«, fragte Nick.
»Jeder hat einen gebacken«, sagte Amelie.
Vielleicht war es normal, dass Kinder auch Konkurrenten waren und sich gegenseitig übertrumpfen wollten? Yella sah sich bereits die nächsten sechs Tage Käsekuchen essen. Leo und Nick verlangten nach dem vielen Naschen nach einer Blutstulle: Käsebrot mit Ketchup.
Immer noch vier Stunden bis zur Dämmerung.
»Wie lange dauert das noch?«, fragte Leo, als Amelie sich verabschiedet hatte.
»Und wo sind unsere Lichter?«, maulte Nick.
»Alle Kinder vom Schwimmkurs machen mit«, beschwerte sich Leo. »Nur wir nicht.«
Yella betrachtete ratlos die Käsekuchen, die für eine Großfamilie gereicht hätten, und die mageren Reste bemalter Gläser, die Doros Wutanfall überlebt hatten. Leo und Nick sahen aus, als wollten sie in Tränen ausbrechen.
Todesmutig betraten sie zwanzig Minuten später auf den letzten Drücker das überfüllte Elektrogeschäft, wo der Kampf um die allerletzte Lichterkette ausgetragen wurde.
»Wir sind zu spät«, weinte Nick.
Überall gähnten leere Regale. Was auch immer hier zum Kauf angeboten worden war, würde in der Nacht an anderen Häusern erstrahlen. Am Ende ergatterten sie bei der Drogeriekette Kruidvat ein 24er-Paket LED -Teelichter, eine Lichterkette und vier Päckchen Glow-in-the-dark-Sticks.
Yella versuchte, ihre enttäuschten Kinder damit zu trösten, dass niemand von Touristen Einsatz erwartete. Ihre Erläuterung, dass das Fest von den Bewohnern Bergens ins Leben gerufen worden war, um sich auf besondere Weise bei ihren Sommergästen zu bedanken, fiel nicht auf fruchtbaren Boden.
»Das ganze Haus soll leuchten«, sagte Leo traurig. Unter »Mitmachen« hatte er sich wahrlich etwas anderes vorgestellt.
»Das kriegen wir schon hin«, versprach Yella todesmutig.
Sie legten einen zweiten Stopp in dem Laden für Künstlerbedarf ein, den ihr Vater so geliebt hatte: Jonkmans. Art, Verf en Lijsten. Während Yella die Reihen durchstreifte und fieberhaft überlegte, woraus sich etwas Eindrucksvolles basteln ließ, das Nicks und Leos hochgespannte Erwartungen auch nur im Ansatz erfüllte, blieb Helen am Schwarzen Brett hängen. Sie überflog die verschiedenen Angebote für Zeichenunterricht, Informationen über Atelierbesuche, Führungen durch die Kunstwelt und eine Einladung zur Kunst10daagse, zu einem Festival im Oktober, bei dem 300 Künstler an 160 verschiedenen Orten in beiden Teilen Bergens ausstellten: Malerei, Bildhauerei, Installationen, Fotografie, Radierungen, Keramik. Das Angebot war breit gefächert. Helen nahm alle Flyer, die sie finden konnte, mit. Noch immer warf das künstlerische Umfeld ihres Vaters Rätsel auf. Kein Wunder bei der Vielzahl Künstler, die sich hier auf allerkleinstem Raum versammelt hatten.
Yella war da keine große Hilfe: »Ich erinnere mich nur an dieses eine Atelier, in dem so viel Pfeife geraucht wurde, dass ich immer husten musste.«
Eine halbe Stunde später breitete Yella die magere Ausbeute auf dem Esstisch aus.
»Wir müssen improvisieren«, sagte sie.
Sie zeichnete Linien vor, die über mehrere Bogen des frisch erworbenen Pergamentpapiers liefen.
Nick und Leo verstanden das Konzept nicht so ganz, malten jedoch hingebungsvoll mit den neuen Wachsmalstiften die Felder aus, die Yella ihnen anwies. Sie hatte einen Plan, wie sie mit wenig Einsatz und noch weniger Mitteln das Haus zum Leuchten brachte.
»Was wird das?«, fragte Leo.
»Überraschung!«, sagte Yella.
Helen bügelte währenddessen die ausgemalten Papiere, bis die Wachsfarben schmolzen und durchscheinend wurden. Irgendwann hatten Leo und Nick genug und stürmten in den Garten.
Mit Hingabe befestigte Yella die Glow-in-the-dark-Sticks an den zu Laternen gerollten Papieren.
»Was soll das werden?«, fragte jetzt auch Helen.
»Abwarten«, sagte Yella und stürmte ins Kinderzimmer.
»Das ist Rudolfs große Stunde«, rief sie. »Endlich kann man den mal gebrauchen.«
Bei Einbruch der Dämmerung wurden Nick und Leo hereingerufen.
»Ihr wartet, ich mache alles fertig«, rief Yella.
Zehn Minuten später tauchte sie mit hochrotem Kopf im Wohnzimmer auf.
»Augen zu«, rief sie.
Im Gänsemarsch führte sie Leo, Nick und Helen nach draußen. Sie begutachtete noch einmal kritisch ihre Arbeit, bevor sie ihrer Familie das Gemeinschaftskunstwerk präsentierte.
»… und jetzt könnt ihr schauen«, sagte Yella.
Die Jungen sahen mit offenen Mündern, was Yella gezaubert hatte.
»Wow«, sagte Helen.
Leo und Nick sagten gar nichts. Sie waren einfach nur sprachlos und zutiefst beeindruckt.
Der Hausgeist hatte feurige Augen bekommen. Jeweils fünf Laternen bildeten in jedem der Fenster eine Einheit. Die unbegreiflichen Linien setzten sich jetzt zusammen zu zwei riesigen Pupillen, die Sticks bildeten die glühenden Wimpern. Seine Erkernase strahlte, und in der Tür thronte Horrorpinguin Rudolf. Seine Augen blinkten dämonisch. Leo und Nick hatten ihre Buttons vom Schwimmdiplom geopfert, die seinem diabolischen Antlitz den letzten Pfiff verliehen. Wie ein unheimliches Höllentier wachte er über einen Teller Käsekuchen und funkelte jeden böse an, der ihm oder dem süßen Backwerk zu nahe kam.
»Rudolf sieht aus, als wäre er von Halloween übrig geblieben«, meinte Helen.
»Halloween in der Geisterbahn«, korrigierte Yella.
Den Rest der Teelichter hatte Yella dazu genutzt, einen Pfeil zu legen, der auf Rudolf und den Kuchen hinwies. Davor stand ein Zettel.
Wie durft? Wer traut sich?
»Trick or treat?«, sagte Helen beeindruckt.
»Wenn schon Halloween, dann richtig.«
Rudolf entwickelte sich zum Star des Abends. Kein Kind, das mit den Eltern Richtung Zentrum zur offiziellen Eröffnung des Lichterabends unterwegs war, wollte es sich entgehen lassen, bei dem schaurigen Pinguin, der von einem Hausgeist bewacht wurde, etwas Leckeres zu holen.
»Wir müssen los«, sagte Yella schließlich.
Am eisernen Tor drehte Leo sich noch einmal nach dem unvermeidlichen Rudolf um. Noch war er sich nicht sicher, ob er ohne sein Kuscheltier aufbrechen konnte.
»Rudolf sieht froh aus«, sagte er.
»Ich glaube, wir können ihn heute Abend alleine lassen«, bestätigte Helen.
Leo nickte ernst. »Das Haus passt auf ihn auf.«
Der Geist aus Stein und der grimmige Pinguin bildeten eine perfekte Einheit.