58. Wiederbegegnungen

»Yella«, rief Milou aus.

Yella hatte es die Sprache verschlagen. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden von dem goldenen Medaillon. Milous Finger tasteten nach ihrer Kette.

»Das ist der Abend, an dem ich meinen Zukünftigen kennengelernt habe«, sagte sie fröhlich.

Noch bevor Yella etwas entgegnen konnte, drängte ein Mann in ihr Gesichtsfeld. Er nahm Milou in den Arm und küsste sie.

»Gefeliciteerd, lieverd«, sagte er. »Zo mooi.«

Herzlichen Glückwunsch, Liebes. So schön.

Ein kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen sprang an ihr vorbei.

»Papa, Papa, kijk eens.«

Der Mann drehte sich wie in Zeitlupe um. Yellas Herz blieb fast stehen, als sie Frenkie erkannte. Mit seinem Bart sah er erschreckend erwachsen aus. Der schüchterne Junge von damals hatte sich in einen Mann und Vater verwandelt. Und in den Gatten von Milou.

Über einem leuchtend weißen Hemd trug er eine leichte, blau-weiß gestreifte Anzugjacke, dazu passende kurze Hosen. Seine durchtrainierten, braun gebrannten Beine steckten in teuren Loafers.

»Aurelia«, rief er. »Ik zoek je overal.«

Er fing das Mädchen, das in Leos Alter war, auf und schwenkte es herum, bis sein Blick in ihre Richtung fiel. Wie vom Donner gerührt setzte er seine kleine Tochter ab. Einen endlosen Moment lang verfingen sich ihre Augen ineinander, neugierig und befangen zugleich.

»Yella«, rief er und hob verlegen die Hand.

»Wir haben schon gehört, dass ihr wieder in Bergen Urlaub macht«, sagte Milou aufgeweckt. »In der Villa Vlinder. «

Yellas Gedanken überschlugen sich. Sie wollte Frenkie in ihrem Kopf bewahren. So wie er als Sechzehnjähriger gewesen war. Ihr Leben war kompliziert genug. Sie war endlich in der Gegenwart angekommen. Einen weiteren Realitätsschock konnte sie wahrlich nicht gebrauchen.

Milou erkannte ihre Verwirrung.

»Wir haben uns im Sturm kennengelernt. Die Nacht war ein einziges Drama. Aber sehr lustig in der Rückschau.«

Frenkie sah aus, als wolle er am liebsten im Boden versinken. Milou bemerkte seinen Blick und realisierte ihren Fehler.

»Ich meine, ich wusste … wir wussten natürlich nicht …«

Die Situation war nicht mehr zu retten.

»Wir haben erst später vom Unfall gehört«, platzte Milou heraus.

Frenkie trat verlegen von einem Bein aufs andere. Milou kleisterte ihren Fauxpas mit weiteren Worten zu.

»Ich mochte deinen Papa. Wir haben einen Trauermarsch für ihn organisiert und sind alle zusammen vom Campingplatz zur Villa Vlinder und dann zur Unfallstelle gelaufen. Wir haben Kerzen abgestellt und gesungen.«

Yella hatte noch nie darüber nachgedacht, was in Bergen nach dem Tod ihres Vaters geschehen war.

»Wir waren beide so traurig. Der Sturm hat dafür gesorgt, dass wir uns nähergekommen sind. Ohne Ira gäbe es uns nicht«, sagte sie.

Yella hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, dass das Unglück auch außerhalb ihrer Familie Spuren hinterlassen haben könnte. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass jemand nicht ausschließlich negativ über die Sturmnacht sprach. Sie hatte immer nur gesehen, dass an diesem Abend etwas endete. Nun realisierte sie, dass in diesem Moment für andere etwas begonnen hatte. Das Schicksal war ein merkwürdiger Zeitgenosse.

»Ich mochte euren Papa«, wiederholte Milou. »Wir waren alle fix und fertig.«

Sie verstummte wieder. So wie so viele nach dem Unfall verstummt waren. Die meisten Menschen in ihrer Umgebung waren ratlos gewesen, wie sie mit der Situation umgehen sollten, und vermieden den Kontakt mit dem Trauerhaus. Auch Milou hatte sich nie wieder gemeldet. Trotz aller Betroffenheit.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Yella.

Frenkie sah wie paralysiert über sie hinweg. Yella drehte sich um und erblickte erleichtert Helen.

Ihre Jugendliebe fuhr sich fahrig durch die Haare, seine Augenlider zuckten nervös. Helen war mindestens genauso verwirrt.

»Helen«, begrüßte Milou ihre Schwester. »Was macht ihr hier? Wie geht es euch? Gut seht ihr aus. Ich habe euch sofort erkannt. Ihr habt euch kein bisschen verändert.«

Helen starrte Frenkie fassungslos an.

»Warum kommt ihr nicht mit zu uns?«, rief Milou in die plötzliche Stille hinein. »Wir müssen unser Wiedersehen begießen.«

Aurelia rannte zur Bank zurück und überreichte ihrem Vater seine Kopfbedeckung.

»Papa, je bent je hoed vergeten.«

In der Hand schwenkte sie einen Strohhut mit einem gestreiften Band. Es war ein Stetson. Auf einmal dämmerte Yella, was Helen so irritierte.