59. Das ungelebte Leben

Frederik Visser, Milou van Beek, Aurelia. Das Schild an der Tür beantwortete mit einem Schlag Helens Frage, warum sie den ehemaligen Surfer nicht hatte finden können. Frenkie war nur ein Spitzname, wie sie schon vermutet hatte. Darunter befanden sich Angaben zu einer ganzen Reihe von Firmen, die darauf schließen ließen, dass die beiden inzwischen vor allem im Finanz- und Investmentbereich tätig waren.

»Kommt rein«, rief Milou.

Das hypermoderne Anwesen an der Eeuwigelaan war von innen noch beeindruckender als von außen. Der schneeweiße glänzende Bungalow wies enorme Fensterfronten auf. Jedes einzelne Zimmer bot einen Ausblick in den kunstvoll ausgeleuchteten, paradiesischen Garten, der parkähnliche Größe hatte.

»Wir sind vor einem Jahr ganz hergezogen«, erzählte Milou. »Nach dem Tod meines Vaters hielt mich nichts mehr in Amsterdam.«

Wie oft waren die Thalberg-Schwestern an den riesigen Anwesen vorbeigeradelt und hatten sich vorgestellt, wie es wäre, in so einer Villa zu wohnen? Helen trat ein in den hochmodernen Glaspalast und fror. Das Wohnzimmer war vor allem eins: kalt. Helen hatte bei Paul genug Wohnzeitschriften durchgeblättert, um die Designklassiker zu erkennen. Hier ein hingeworfener Lounge Chair von Eames, dort die Liege von Le Corbusier. Neben einem im Boden versenkten modularen Sofa, das Platz für zwei Dutzend Leute bot, stand ein lebensgroßes schwarzes Pferd, das über dem Kopf einen schwarzen Lampenschirm trug. Die offene Designer-Küche wurde dominiert durch einen gigantischen Tisch, der patchworkartig aus recyceltem Altholz zusammengesetzt und mit einer dicken Lage Epoxy übergossen war. Darüber hing die »Comic Explosion« des Münchner Lichtkünstlers Ingo Maurer: eine drei Meter große Skulptur aus Stahl, Aluminium und Kunststoff. Zwischen zerberstenden Acrylplatten, manche verziert mit schwarz-weißen Comiczeichnungen, blitzten knallrote Buchstaben auf, die das Wort Boom bildeten. So ein dreidimensionales Lichtobjekt kostete ein Vermögen. Um den Tisch standen Dutzende Plastikschalenstühle von Vitra.

»Ich hätte mir nie vorstellen können, in dem Bunker zu wohnen«, sagte Milou, die ihre Blicke registriert hatte.

»Bunker?«, fragte Helen.

»Zu euren Zeiten war das noch ein Rohbau«, sagte sie. »All diese geraden Betonmauern und die kleinen Fenster. Das Haus sah schauderhaft aus. Wir haben ein Jahr lang Wände rausgerissen und umgebaut.«

»Bunker?«, wiederholte Yella. »Der von der Party?«

Milou nickte: »Erst wollten wir in einen der Bunker in den Dünen. Aber der Weg war im Sturm viel zu weit. Und dann sind wir einfach hier eingebrochen.«

An einen Bunker erinnerte das klinische ballsaalgroße Wohnzimmer wahrlich nicht mehr. Eher an ein Museum. Yella bestaunte vor allem die Kunstsammlung an den Wänden. Originale. Hier ein Braque, da ein Willem de Koonig, dort ein Karel Appel. Manche Stile konnte Yella unschwer berühmten Malern zuordnen. Andere waren ihr unbekannt.

»Dieses hier ist toll«, sagte sie und wies auf ein abstraktes Kunstwerk.

»Das ist von Aurelia«, sagte Milou. »Die geht jeden Samstag in die Malschule.«

Die Tochter eskortierte Leo und Nick in ihr Kinderzimmer, während Milou einen Willkommens-Drink einschenkte. Frenkie rutschte ungemütlich auf seinem Sitz hin und her und sagte wenig. Helen ließ Yellas alte Flamme keine Sekunde aus den Augen. Sie traute ihm nicht über den Weg. Es verwunderte sie kein bisschen, dass ihr Verfolger jemand war, den sie von früher kannten. Wann immer er Helens Blick auffing, zuckte er merklich zusammen.

Milou breitete die Geschichte ihres Kennenlernens in allen Einzelheiten aus.

»Die Sturmparty war eine einzige Katastrophe. Erst tauchte die Polizei auf, dann wollten sie uns nicht gehen lassen, bis meine Mutter anrauschte und eine Riesenszene veranstaltet hat. Vier Stunden in Polizeigewahrsam. Das hat uns für immer zusammengeschweißt.«

Sie erzählte in leuchtenden Farben von der Nacht, die ihrer aller Leben durcheinandergewirbelt hatte, immer mit einem kleinen Anflug von schlechtem Gewissen.

Frenkie schwieg zu alledem. Helen hatte den merkwürdigen Eindruck, dass er vor seiner Frau nicht offen sprechen konnte.

Milou fing die eigenartige Stimmung auf.

»Ich mache uns einen kleinen Snack«, rief sie und hastete Richtung Küche. Yella folgte ihr. »Kann ich helfen?«

»Ich glaube, wir sind uns vor ein paar Tagen schon mal über den Weg gelaufen«, sagte Helen.

Frenkie schüttelte den Kopf. Seine Augen flitzten in alle Richtungen, als ob er die Fluchtwege überprüfte. Erst als Milou Richtung Küche verschwunden war, konnte er frei reden.

Frenkie ging in die Vorwärtsverteidigung: »Ich konnte es nicht glauben«, sagte er. »Ich war mir nicht sicher, als ich dich radeln sah. Und dann wollte ich am nächsten Tag nach unserem Boot schauen. Wir haben einen Katamaran. Er liegt an der Surfhütte.«

»Du hast Fotos gemacht.«

»Ich war mir nicht sicher.«

Er sah sich nervös nach seiner Frau um. Wohl um sicherzugehen, dass sie ihn nicht hören konnte.

»Sie kann sehr eifersüchtig werden«, sagte er.

Helen schwieg.

»Milou hängt an der Geschichte, wie der Sturm uns zusammengebracht hat. Sie sagt, dass sie sich in der Nacht in mich verliebt hat. In Wirklichkeit sind wir erst Jahre später zusammengekommen.«

In Helens Kopf setzte sich einiges zusammen. Vielleicht war ja alles ganz einfach? Ein schüchterner Mann, der heimlich einer Jugendliebe hinterherlief. Früher war er verlegen, heute verheiratet, in beiden Fällen verbog und verbarg er sich. Das altbekannte Muster: Die Männer, die im Hause Thalberg auftauchten, waren vor allem an ihren älteren Schwestern interessiert. War sie einer Verschwörungstheorie aufgesessen, die sie selbst in die Welt gesetzt hatte? War ihr Verfolger in Wirklichkeit ein Stalker?

Rot op. Der Zettel an der Autoscheibe fiel ihr wieder ein. Konnte dieser harmlose, freundlich wirkende Mann für die Drohung verantwortlich sein? Was hatte er zu befürchten?

Milou teilte Snacks aus.

»Wie geht es eurer Mutter?«, fragte sie. »Sie war immer der Motor. Ohne sie war es für Mama in Bergen nur noch halb so lustig.«

Aus dem oberen Stockwerk tönte wütendes Kindergeschrei. Aurelia stritt sich ganz offensichtlich mit Nick.

Yella sprang auf. »Es klingt, als würden die beiden sich die Köpfe einschlagen«, sagte sie.

»Ich schaue nach Aurelia«, sagte Frenkie mit Blick auf Milou.