Yella wusste nicht, was sie fühlen sollte. Sie stand in dem enormen Treppenhaus einer Villa, zusammen mit dem Mann, der einmal ihre erste große Liebe gewesen war. Seine grauen Augen blickten sie ebenso neugierig an wie damals. Sie waren gemeinsam am Strand gewandert, hatten Seite an Seite in windgeschützten Dünenpfannen gelegen, wo sie gemeinsam Musik gehört und endlos geredet hatten: über ihre Familien, über Freunde, über das Leben, das sie einmal führen wollten. Er hatte ihr eine Kassette mit seinen Lieblingsliedern geschenkt, die fünf Umzüge überlebt hatte. Neulich hatte David das alte Band gefunden und in seinem alten Kinderzimmer im Potsdamer Haus seiner Eltern abgespielt.
»Derjenige, der das für dich zusammengestellt hat, muss dich sehr gemocht haben«, sagte er.
Worüber sprach man nach so vielen Jahren Funkstille? Als sie sich heimlich geküsst hatten, hatte sie geglaubt, ihre Liebe sei für immer. Der Kuss hatte ihr Leben verändert, aber in einer anderen Weise, als sie sich das erträumt hatte. Frenkie war der Anlass gewesen, warum sie im Streit mit ihrem Vater auseinandergegangen war. Diese letzte Auseinandersetzung hatte dafür gesorgt, dass er sich für immer in ihr Gedächtnis geschrieben hatte.
»Du hast es gut getroffen«, sagte Yella. »Ein schönes Haus.«
Fand sie das wirklich? Es war verwirrend, dass sie den Frenkie, der ihr hier gegenüberstand, kaum in Einklang bringen konnte mit dem relaxten Surfer von früher. In ihren Teenagerträumen war nur von großen Abenteuern, nie vom großen Geld die Rede gewesen.
»Du hast mir damals das Herz gebrochen«, sagte Frenkie.
»Ich?«, sagte sie.
»Ich habe die halbe Nacht auf dich gewartet.«
Yella sah ihn überrascht an. »Bei der Party?«
»Bei der Bushaltestelle«, sagte er. »Bei euch in der Straße.«
»Wieso?«, fragte Yella.
Jetzt war es an Frenkie, verblüfft zu sein.
»Ich wollte dich so gerne sprechen. Ich wusste, dass euer Urlaub bald vorbei war.«
»Woher hätte ich wissen sollen, dass du dort wartest?«, fragte Yella.
»Der Brief. Ich hatte Doro einen Brief für dich mitgegeben.«
Er verstand, was ihr ratloses Gesicht bedeutete.
»Das war die Einladung zur Bunkerparty«, sagte Yella.
»Der Brief war nur für dich«, sagte Frenkie. »Du hattest Hausarrest …«
»Sie hat erzählt, du hättest sie zur Sturmparty eingeladen.«
»Ohne dich wollte ich da überhaupt nicht hin«, sagte er.
»Warum bist du nicht zur Villa Vlinder gekommen?«
»Bin ich doch«, sagte Frenkie. »Ich habe Steinchen gegen das Fenster geworfen, aber der Wind hat jedes Geräusch geschluckt.«
»Die Hexe«, sagte Yella unwillkürlich.
Amelie hatte sich das Klopfen nicht eingebildet. Da war wirklich jemand vor dem Haus gewesen.
»Es war unheimlich«, sagte Frenkie. »Die Eiche ächzte und schwankte. Ich hatte wirklich Angst, sie fällt mir auf den Kopf. Und auf einmal kam diese Frau und klingelte bei euch.«
Yella schluckte schwer. Frenkie war in der Sturmnacht an ihrer Ferienunterkunft aufgetaucht. Er hatte gesehen, was auch sie gesehen hatte.
»Ich habe gewartet und gewartet. Und dann stand plötzlich Doro hinter mir«, sagte er.
»Meine Schwester?«, fragte Yella.
»Sie brauchte Kleingeld«, sagte Frenkie.
»Für den Bus?«
»Zum Telefonieren. Ich habe ihr mein Handy geliehen. Ich hatte es gerade zum Geburtstag bekommen und war furchtbar stolz darauf.«
»Das Nokia«, sagte Yella. »Todschick. Ich habe Jahre darum gebettelt.«
»Sie telefonierte so lange, dass euer Vater mich beinahe erwischt hätte, als er mit der Frau nach draußen kam.«
Yella wurde schwindelig. Bedeutete das nicht auch, dass Doro die Frau gesehen hatte?
»Hast du mitbekommen, mit wem sie so dringend telefonieren musste?«
Er wand sich ein bisschen, bevor er mit der Wahrheit herausrückte.
»Mit eurer Mutter«, sagte er.
Yella schnappte nach Luft. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.
»Unserer Mutter?«
»Ich habe die Nummer angerufen. Ich war neugierig.«
Er machte eine Pause.
»Sie dachte, es wäre Doro. Sie hat gesagt, ich soll nicht mehr anrufen. ›Mach dir keine Sorgen. Wir haben das im Griff. Ich rede mit deinem Vater!‹«
Derselbe Satz, den auch ihr Vater gesagt hatte. Wir regeln das.
»Ich dachte, sie hat mich verpfiffen. Also bin ich nach Hause gelaufen. Auf dem Weg haben mich ein paar meiner Surfkollegen aufgegabelt. So bin ich doch noch hier gelandet.«
»Doro war nicht auf der Party?«
Frenkie schüttelte den Kopf.
»Du hast nichts verpasst. Die meisten Eltern hatten ihren Kindern verboten, an der Sturmparty teilzunehmen. Wir waren zu zehnt. Und dann kam auch noch die Polizei. Milou und ich haben die halbe Nacht auf der Wache durchgebracht.«
Yella versuchte, im Kopf zusammenzusetzen, was sie eben gehört hatte. Sie hatte die Frau nicht erfunden.
»Ich hatte immer das Gefühl, unsere Geschichte könnte weitergehen«, sagte er. »Ich habe das ganze Jahr darauf gewartet, dass es wieder Sommer wird. Und dann kamt ihr nicht zurück.«
»Du hast Milou gefunden«, sagte sie.
»Milou und ich sind erst Jahre später wirklich zusammengekommen«, sagte Frenkie. »Aber sie liebt die Anekdote mit dem Sturm und der Polizei. Sie besteht darauf, dass wir uns in dieser Nacht verliebt haben.«
Yella schloss die Augen. Das war alles so verwirrend.
»Manchmal frage ich mich, was ohne Ira aus unseren Leben geworden wäre«, sagte Frenkie.
In diesem Moment flog ein Feuerwehrauto durch die offene Tür des Kinderzimmers.
»Ich muss die Kinder ins Bett bringen«, sagte Yella.
»Sehen wir uns noch einmal?«, fragte Frenkie.
Yella wagte nicht, darauf eine Antwort zu geben.