61. Die Kunst der Beobachtung

Helen stand in der Tür und beobachtete, wie Yella die Kinder schlafen legte. Die Routine verschaffte ihr einen Moment der Ruhe, um die Ereignisse des Abends sacken zu lassen. Sie beneidete Yella: Was auch immer in ihrem Leben geschah, die Kinder boten Halt und eine Aufgabe.

»Können wir nächstes Jahr mit Papa herkommen?«, fragte Nick, als Yella ihn zudeckte.

Die Brüder waren sich diesmal einig.

»Lichterabend ist wie Weihnachten«, tönte Leo aus dem oberen Bett.

»Nur ohne Geschenke«, sagte Nick traurig.

»Und mit weniger Essen«, sagte Yella.

Und der Krach kommt noch, dachte Helen.

»Wenn wir wieder da sind, müssen wir einen Drachen kaufen. Du hast versprochen, dass wir einen Drachen zu Opa in den Himmel schicken.«

»Und ich will in richtig hohen Wellen schwimmen«, sagte Leo.

Helen lächelte. Das Nordseefieber hatte die beiden gepackt.

Leo drehte sich glücklich um. Er vergaß sogar, dass er ohne seinen Pinguin nicht schlafen konnte.

Helen eilte in den Garten, nur um festzustellen, dass Rudolf spurlos verschwunden war. Irgendjemand hatte den Terrorpinguin, der den Eingang der Villa Vlinder bewacht hatte, mitgenommen.

Ihr Blick fiel auf das unheimliche Haus von gegenüber. Das ganze Dorf war für Lichtjesavond zusammengekommen, in dem Hexenhaus wachte diese einsame Seele, der sie sich auf ominöse Weise nahe fühlte. Ab und an hielt ein Wagen einer Supermarktkette vor dem Haus und stellte Einkäufe vor der Tür ab. Sonst hatte Helen noch nie einen Besucher gesehen. Vielleicht freute der Eigenbrötler sich, wenn jemand bei ihm vorbeikam. So wie sie sich gefreut hätte, wenn nach dem Unfall Menschen auf sie zugekommen wären. Milou und ihre Familie waren nicht die Einzigen gewesen, die sich nie wieder bei ihnen gemeldet hatten, weil sie nicht mit der Situation umgehen konnten.

Helen nahm das allerletzte Stück Käsekuchen, das einsam auf dem Teller auf einen Kuchenliebhaber wartete, überquerte die Straße und klingelte. Innen schlug ein wütender Hund an. Es klang nach Rottweiler oder Schäferhund. Nichts geschah.

Als sie das zweite Mal den Knopf drückte, realisierte sie, dass das Gebell an die Klingel gekoppelt war. Sollte die Lautsprecheranlage etwa einen bissigen Wachhund imitieren? Sie kannte keinen Einbrecher, der erst mal höflich klingeln würde. Das ärgerliche Gebell war wohl eher eine Botschaft an ungebetene Gäste.

Helen ließ sich nicht einschüchtern. Beim dritten Klingeln summte die Tür mit einem Mal auf. Vorsichtig drückte sich Helen durch das von Dornen überwachsene Portal. Helen hatte eine Vermutung, wo der Mann sich aufhielt. In dem Zimmer mit der Aussicht auf die Villa Vlinder. Sie schlich die Treppe hoch und trat in einen überraschend hohen Raum, dessen Wände mit wundervollen alten Tapeten verkleidet waren. Es roch nach Ölfarben, staubigen Teppichen und alten Möbeln. Der Eigentümer des Hauses war offenbar besessen davon, Menschen zu beobachten. Eine ganze Wand war mit schwarz-weißen Kunstwerken behängt, die an Bilder einer Überwachungskamera erinnerten. Selbst die Timecodes waren auf den Malereien verzeichnet. Wieder und wieder hatte er das Haus gegenüber und seine Besucher gemalt, offenbar seit Jahren. Gerührt glaubte sie, in einer vagen Figur ihren Vater zu erkennen. Er stand mit dem Rücken zum Hexenhaus vor der Villa Vlinder, deren Backsteingesicht damals noch hinter einem mächtigen Baum verborgen blieb.

»Die Eiche gibt es schon lange nicht mehr«, sagte eine Stimme in ihrem Rücken.

In der Tür stand ein Mann mit der Statur eines Lkw-Fahrers und dem Gesicht eines Intellektuellen. Er war sehr gepflegt, trug einen korrekten Anzug und ordentlich geschnittene Haare. Auf seinem Handrücken leuchteten die Kratzspuren einer Katze. Er verströmte eine einschüchternde Aura von Dominanz. Wortlos überreichte Helen ihm das Stück Käsekuchen. Wenn er sich über die Zuwendung freute, ließ er es sich nicht anmerken.

»Die Eiche wollte das Gesicht vor dem Wind verstecken. Aber der Wind hat es gefunden. Drei Tage hat es gedauert, bis die Eiche gewichen war. Drei ganze Tage hat sie gekämpft. Dann hat sie dem Haus das Oberstübchen eingeschlagen.«

Helen starrte auf das Obergeschoss, wo sämtliche Schlafzimmer lagen. Sie beobachtete, wie Yella die Gardinen zuzog und das Licht löschte.

»Da war alles kaputt, platt«, sagte er und deutete auf die Stelle, wo Leo und Nick schliefen. Das waren damals ihre Schlafzimmer gewesen.

Er hatte sichtlich Vergnügen an seiner drastischen Erzählung über die Zerstörung des Hauses.

»Aber der Wind hat nicht gewonnen«, sagte er. »Der Geist ist immer noch da. Und ich auch.«

Er nahm den Kuchen, wandte sich an Helen und drehte sich mit einem kernigen »Auf Wiedersehen« um.

 

Zutiefst irritiert verließ Helen das Haus. Als sie noch einmal über ihre Schulter zurückblickte, glaubte sie, im oberen Stock Rudolfs glühende Augen zu erkennen. Da hatten sich zwei Katastrophenliebhaber gefunden.