Die eigentümliche Stimmung des Abends hielt Yella gefangen. Offiziell sollte der Lichterabend um Mitternacht sein Ende finden, aber selbst jetzt trug der Wind noch immer fröhliches Lachen und Stimmengewirr aus den Gärten zu ihnen hinüber.
Yella packte die Cosmopolitan. Bis heute hatte sie es nicht über sich gebracht, den Artikel über ihre Schwester zu lesen. Jetzt zwang sie sich geradezu.
Doro war nach dem Tod meines ersten Mannes meine wichtigste Stütze und Vertraute, wurde ihre Mutter zitiert. Sie war die Einzige in der Familie, mit der ich über meine Trauer reden konnte. Ich hätte nicht gewusst, wie ich es ohne Doro mit den drei Kleinen geschafft hätte. Ich liebe alle vier Töchter gleichermaßen, aber wenn ich Probleme habe, ist meine große Tochter meine erste Anlaufstelle.
Stimmte das? Oder war das einfach nur Kitsch? Yellas Gedanken kreisten ununterbrochen um Doro. »Du bist schuld, dass unser Vater tot ist«, hatte sie ihr an den Kopf geworfen. Wie konnte sie es wagen, so einen Mist in die Welt zu setzen? Ihre große Schwester hatte sie in der Sturmnacht belogen und betrogen. Sie hatte sich zwischen sie und Frenkie gedrängt und die Affäre ihres Vaters gedeckt. Und sie schwieg bis heute.
Und wenn schon, schrieb Amelie. Ich habe an meinem ersten Tag in Bergen alles, was mich belastet, aufgeschrieben und die Zettel in ein Gurkenglas gestopft. Wenn es voll ist, werden wir es rituell entsorgen. Nur so kann man neu anfangen.
Yella zermarterte sich den Kopf darüber, was eigentlich mit ihrer großen Schwester los war. Sie hatte von der Sturmfrau gewusst und ihr trotzdem Vorwürfe gemacht. Was hatte sie davon, dieses Geheimnis zu wahren? Vielleicht glaubte sie wirklich, dass Yella sie verraten hatte. Was war ihre Geschichte und ihre Wahrheit? Warum musste sie sich ständig auf diese Art beweisen? Wie wenig sie ihre Schwester doch kannte. Eines war sicher: Yella war Doros Wucht nicht gewachsen. Ihre große Schwester trotzte mit Übertreibungen und Lügen der Schwerkraft der Wirklichkeit. Sie hatte keine Ahnung, wie es zwischen ihnen weitergehen würde. Aber vielleicht lag das Problem vor allem bei Doro. Sie hatte bei der gemeinsamen Arbeit an der »Undine« eine tiefe Unsicherheit gespürt, vielleicht sogar Angst. Angst davor, nicht zu genügen. Es war ihre kreative Stärke, vielleicht aber auch ihre Achillesferse. Weil sie tief im Inneren verletzt war. So wie die anderen Sommerschwestern auch. Aber bei Doro lag die Ursache tiefer. Sie war schon vor dem Unfall schwierig gewesen. Warum konnte ihre Schwester Yella nur als Konkurrenz wahrnehmen?
Wieder dachte sie an das Treffen mit den Leuten vom Theater. Sie hatten am Ende ihre Kontaktdaten ausgetauscht.
»Ich bin sicher, wir hören noch viel voneinander«, hatte der Ersatzmann Martin, der in Wirklichkeit ein Entscheider war, gesagt.
Warum war die Sache dennoch schiefgegangen? Was hatte sie nur falsch gemacht? Warum hatte sie die Situation so verkehrt eingeschätzt? Um keinen Preis der Welt wollte sie sein wie Doro, die die Schuld immer bei anderen suchte und nie Verantwortung für irgendetwas übernahm. Noch weniger wollte sie sich den Rest ihres Lebens vorwerfen lassen, dass sie den Untergang von Doros Studio verursacht hatte. Wenn es auch nur den Hauch einer Chance gab, ihr Versagen wiedergutzumachen, musste sie es noch einmal probieren. Sie wollte nichts unversucht lassen. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas geraderücken musste.
Mit zittrigen Knien wählte sie am nächsten Morgen die Nummer von Ersatzmann Martin.
»Yella Thalberg«, sagte sie.
»Muss mir das etwas sagen?«, bellte ihr Gegenüber.
»Die Ersatzspielerin, Goudfazant, letzte Woche«, haspelte sie hervor.
Es blieb still in der Leitung. Sie hörte Geräusche im Hintergrund. Er war immer noch dran.
»Die ›Undine‹. Die Kostüme«, presste Yella heraus.
Eisige Stille. Erinnerte er sich wirklich nicht? War sie jemand, den man innerhalb von fünf Tagen vergessen konnte?
»Ich bin die Assistentin von Doro Thalberg. Das heißt, eigentlich nicht …«
Es blieb immer noch still in der Leitung. Sie redete sich um Kopf und Kragen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte Yella sich unsicherer. Beging sie einen kapitalen Fehler? Bei der »Undine«-Produktion warteten sie augenscheinlich nicht darauf, sich noch einmal mit ihr auseinanderzusetzen.
Panisch drückte sie das Gespräch weg. Nachhaken war keine gute Idee gewesen. Was glaubte sie mit einem einfachen Telefonanruf erreichen zu können?
Eine Sekunde später klingelte ihr Handy. Der Rückruf! Yella fasste neuen Mut. Es war ein sicheres Zeichen, dass er doch interessiert war an dem, was sie zu sagen hatte.
»Es tut mir leid«, begann sie. »Ich sollte mich nicht einmischen …«
Er ließ sie nicht ausreden, sondern bellte sofort los.
»Ich kann es nicht glauben, dass du dich noch mal meldest nach der linken Nummer.«
Benedikt Bergmanns Vertretung hatte offenbar nur zurückgerufen, um sie zu beschimpfen.
»Du hast keine Ahnung, was du mir eingebrockt hast«, sagte er.
Hatte sie nicht. Aber taktisch schweigen konnte sie auch. Bloß nichts Falsches sagen.
»Ich habe mich echt reingehängt für Doro. Ich habe Überzeugungsarbeit geleistet. Und dann so was …«
»Es tut mir leid, wenn ich …«
»Du kannst dir die Entschuldigungen sparen. Mich interessiert eigentlich nur eins: Wer hat uns überboten?«
»Überboten?«
»Doro hat bestimmt nicht abgesagt, ohne einen anderen Deal in der Tasche zu haben.«
Doro selbst hatte abgesagt? Hatte sie das richtig verstanden?
»In der Branche flüstert man, dass das Studio finanzielle Probleme hat, dass sie ihre Leute nicht bezahlt. Ich hatte den Eindruck, sie braucht den Auftrag wirklich dringend.«
Yella konnte unmöglich die finanziellen Probleme ihrer Schwester mit einem potenziellen Geschäftspartner diskutieren.
»Was ich nicht verstehe: Ist es Rache?«
Yella hatte nicht die geringste Ahnung, worüber er sprach. Gleichzeitig hatte sie das Prinzip verstanden. Solange sie den Mund hielt, redete ihr Gegenüber, der wieder in seine alte Arroganz verfallen war, einfach weiter.
»Doro hat sich geärgert, weil wir ihre Vorschläge zerrissen haben, und wollte mich vorführen, oder?«
»Das bestimmt nicht«, warf Yella ein.
»Kein Wunder, dass keiner mehr mit der arbeiten will. Es hat schon im Vorfeld enorme Diskussionen gegeben. Nicht über Doros Entwürfe, die sind immer spektakulär. Es ging um ihre Person. Bergmann war von den ersten beiden Treffen entsetzt. Kein Niederländer verträgt so ein breitbeiniges Auftreten.«
Er redete weiter, ohne Punkt und Komma, und empörte sich leidenschaftlich über Doros divenhaftes Verhalten: »Jeder Änderungswunsch wird als Majestätsbeleidigung aufgefasst und von Ludwig, ihrem persönlichen Beißhund, bis aufs Blut verteidigt. Ich habe ihr sofort geschrieben, wie großartig ich es finde, dass sie eine neue Assistentin eingestellt hat, die die konkrete Zusammenarbeit vor Ort übernimmt. Wir wollten dich im Boot haben und das vertraglich regeln. Dann hat Doro abgesagt.«
Yella versuchte, sich einen Reim auf diese überraschende Entscheidung zu machen. War sie zu weit gegangen, als sie die Präsentation zusammengestellt hatte? Wollte sie unbedingt Ludwig mit im Boot haben? Oder lag es am Ende daran, dass Doro das Scheinwerferlicht auf keinen Fall mit Yella teilen wollte? Auf jeden Fall hatte sie gelogen. Mal wieder. Und eine große Szene veranstaltet.
Yella dachte zurück an den Moment, als sie in Amsterdam in dem Airbnb aufgetaucht war. Sie versuchte, zu rekapitulieren, was Ludwig am Telefon gesagt hatte. Auf einmal fiel ihr etwas ein. Plan B. Hatte Ludwig nicht einen Plan B gehabt, wie das Studio zu retten war? Sie beendete das Telefongespräch, raste nach oben und durchsuchte ihre Sachen. Der Umschlag! Sie hatte doch diesen Umschlag aus dem Papierkorb gefischt. Vor einer kleinen Ewigkeit.
Ihre inneren Moralapostel schwiegen peinlich berührt, als sie das dicke Paket aufriss. Sie fand Aufstellungen über Rechnungen, Schulden, ausstehende Gehälter, unbezahlte Heizkosten und Entwürfe für einen notariellen Vertrag mit einem neuen Investor, dazu handschriftliche Notizen von Doro, geschrieben auf dem Notizblock eines Wiener Nobelhotels. Er hatte ein ungewöhnliches Format und eine eigentümliche Linierung mit grünen Balken. Genauso wie der Zettel, den Helen in ihrer Tasche gefunden hatte. »Rot op «, stand auf dem Papier in ihren Händen. War es etwa Doro gewesen, die verhindern wollte, dass Helen weiter in der Vergangenheit grub? Eine Sekunde später begriff sie, was Doro davon hatte, die Geheimnisse ihrer Mutter zu bewahren.
Yella glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie las, was hinter ihrem Rücken gespielt wurde. Der neue Investor, von dem Ludwig gesprochen hatte, war niemand anderes als Henriette Thalberg. Der Plan war, wie sie jetzt realisierte, dass das Studio in das Haus ihrer Mutter zog, das auf Doro übertragen wurde. »Aus steuerlichen Gründen.« Natürlich mit lebenslangem Wohnrecht für die Mutter und den neuen Ehemann.
»Es ist mir wichtig, dass Thijs keinen Zugriff auf das Vermögen hat«, hatte Doro bei der Hochzeit ihrer Mutter gesagt.
Jetzt hatte sie sich selbst die Kontrolle über den Besitz ihrer Mutter gesichert. Und eine Vollmacht für den Fall, dass es Henriette gesundheitlich schlechter ging und sie nicht mehr in der Lage dazu war, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.
Yella konnte es nicht fassen. Während sie mit »Undine« beschäftigt war, hatte Doro im Hintergrund mit ihrer Mutter die Finanzen in ihrem Sinne neu geordnet.
Unsere Verbindung ist sturmerprobt, lautete die Überschrift in der Cosmopolitan. Was genau verband die beiden so sehr? Yella nahm den ganzen Packen Papier und stürzte in Helens Zimmer. »Schau dir das mal an«, sagte sie.