63. Morgendämmerung

Helen zog ihre Schuhe aus und lief im Spülsaum Richtung Egmond. Einen Kilometer hinter Bergen aan Zee war sie fast alleine an diesem sonnigen Morgen. Die Wellen rollten unbeeindruckt von allen großen und kleinen Katastrophen dieser Welt unaufhörlich an den Strand. Der Wind pustete ihren Kopf durch. Mit jedem Schritt ließ sie den Zeeweg ein Stückchen mehr hinter sich.

Helen versuchte immer noch zu verarbeiten, was in den letzten 24 Stunden geschehen war. Yella war offenbar nicht die Einzige, die das Geheimnis ihres Vaters hütete. Doro wusste ebenfalls von der Affäre des Vaters. Anders als Yella schwieg sie bis heute darüber, ob und was sie gesehen hatte. Hatte sie ein ähnliches Schweigegelübde ihrem Vater gegenüber abgelegt? Oder einen Deal mit der Mutter? Einen Deal, den sie sich am Ende teuer bezahlen ließ? Weil die Mutter nicht wagte, nach so vielen Jahren zuzugeben, dass sie ihren Töchtern nicht die Wahrheit gesagt hatte?

Vielleicht hatte sie die ganze Zeit in die falsche Richtung geschaut. Die Antworten auf ihre Fragen waren nicht in Bergen zu finden. Nicht im Archiv, nicht bei der Feuerwehr und nicht bei Fremden, die einmal Freunde gewesen waren. Sie musste die Antworten in ihrer eigenen Familie suchen.

Als sie am Pavillon Zilversand umdrehte, wusste sie, was sie tun musste. Sie hatte sich in die Unfallgeschichte festgebissen, weil es ihr half, dem wirklichen Konflikt in ihrem Leben auszuweichen. Paul hatte ja so recht: Sie hatte immer nur an den Symptomen herumgedoktert, ohne sich mit der Ursache zu beschäftigen. Ihr Problem war nicht der Vater. Ihr Problem war, wie ihre Mutter mit dem Unfall und den Erinnerungen an einen Mann, mit dem sie selbst abgeschlossen hatte, umgegangen war.

Vielleicht war es gar nicht so wichtig, wohin ihr Vater unterwegs gewesen war. Viel entscheidender für ihr Leben war, wie ihre Mutter sich verhalten hatte. Es war ihr nicht gelungen, das geheime Leben ihres Vaters vollends zu enträtseln. Aber mit den letzten Puzzleteilchen hatte sich der Blick auf die Mutter geschärft. Der Mann vom Beerdigungsinstitut hatte gut daran getan, die Wahrheit unmissverständlich und ohne Raum für Spekulationen auszusprechen.

Warum war sie nie auf die Idee gekommen, ihre Mutter zu fragen? Sagte diese Vermeidungsstrategie nicht genug? Sie hatte jede Irritation runtergeschluckt, weggedrückt, rationalisiert, sich eingeredet, dass ihre Mutter in ihrem Leben keine Hauptrolle spielte. Sie hatte immer gedacht, es läge alleine an ihr, dass sie sich so fremd in ihrer Familie fühlte. Jetzt spürte sie nur noch unbändige Wut.

Helen hatte sich so sehr danach gesehnt, einen engeren Kontakt mit ihren Schwestern zu knüpfen. Aber wie sollte eine Annäherung gelingen, wenn es im Hintergrund jemanden gab, der sie permanent gegeneinander ausspielte? Mit Liebe, Geld, Aufmerksamkeit. Mit Informationen über die Krankheit, mit ihrer Abwesenheit.

Es ließ sie vollkommen kalt, dass ihre Mutter ihr Eigentum nur einer Tochter vermachte. Doro hatte alles dafür getan, ihr Atelier zu retten, und dabei auf niemanden Rücksicht genommen. Vielleicht hätte sie dasselbe getan. Was ihr nicht egal war, war, auf welche Weise ihre Mutter Zwietracht säte unter den Schwestern. Sie verbündete sich im Hintergrund mit Amelie, scheuchte Yella herum und flüsterte Doro Geheimnisse ins Ohr. Ihre Heimlichkeiten und ihre Willkür waren toxisch für die ganze Familie. Und möglicherweise kalkuliert. Sie hielt die ganze Familie in Geiselhaft. Ihre Mutter brauchte ständig das Gefühl, dass man sich um sie bemühte. Sie liebte es, wenn man ihr hinterherlief. Sie liebte das Rampenlicht und den Beifall. Es waren nicht die Schwestern, die ihr Leben so kompliziert machten. Es war Henriette.

 

»Unsere Verbindung ist sturmerprobt«, hatte Doro zu Protokoll gegeben. Vielleicht war ihre älteste Tochter das einzige Kind, zu dem sie wirklich einen Bezug hatte. Weil sie Geheimnisse teilten. Damals und heute. Dafür verwöhnte sie ihre Älteste mit großzügigen Geschenken. Vollkommen uneigennützig war auch Letzteres nicht. Sie liebte es, sich gemeinsam mit ihrer erfolgreichen Tochter im Scheinwerferlicht zu sonnen.

Solange die Zwillinge klein und niedlich waren, hatte sie gerne mit ihnen geglänzt. Die schwierigen Teenager wurden aufs Internat geschickt, die erwachsenen Frauen an der langen Leine gehalten. Helen nahm ihrer Mutter zutiefst übel, dass sie nichtssagende Gespräche führten, die alle wichtigen Themen im Leben ausklammerten. Ständig vermittelte sie einem das Gefühl, ihr und ihren Ansprüchen nicht zu genügen.

»Das ist eine Sache zwischen mir und deiner Mutter«, hatte ihr Vater in der Sturmnacht zu Yella gesagt.

Das Gleiche galt auch für sie. Sie tat das, was sie schon längst hätte tun sollen. Sie griff zum Telefon und rief ihre Mutter an.

»Helen«, sagte Henriette mit einem Anflug von Ironie. »Was verschafft mir die seltene Ehre?«

»Du wusstest alles«, sagte sie. »Yella hat die Frau nicht erfunden.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte ihre Mutter.

»Doro hat dich in der Sturmnacht informiert.«

»Ach, Helen«, sagte sie nur.

»Ich will die Wahrheit wissen, Mama.«

»Ich bin müde«, sagte sie. »Wie soll ich mich jemals erholen, wenn ihr im Hintergrund dauernd die Nase in Angelegenheiten steckt, die euch nichts angehen?«

»Es geht mich etwas an.«

»Es ging mir nur um euch«, sagte Henriette Thalberg. »Ihr solltet euren Vater in guter Erinnerung behalten.«

»Und deswegen schweigst du ihn tot? Seit über zwanzig Jahren?«

Sie lachte laut auf. Die Priorität ihrer Mutter waren nie ihre Töchter gewesen. Nicht in jenem Sommer, nicht in der Trauerzeit, nicht in den letzten Jahren.

»Ich will einen Namen«, sagte Helen.

»Das kann man nicht am Telefon besprechen.«

»Jetzt«, sagte Helen.

»Die Frau hat genug gelitten, Helen. Sie ist fast verrückt geworden, weil sie sich die Schuld am Tod von Johannes gegeben hat.«

Da war es: das Geständnis. Helen atmete scharf ein.

»Ich habe ihr längst vergeben, Helen. Vergebung ist wichtig. Wenn man nicht vergibt, wird man bitter.«

Warum glaubte sie ihrer Mutter diesen Anfall von Großmütigkeit nicht? Wieso war ihre Loyalität zu einer Fremden größer als die zu ihren Töchtern? Henriette Thalberg tat nichts ohne Grund und ohne Eigennutz.

»Ich werde dir nicht vergeben«, sagte Helen.

Zu viel war zwischen ihnen passiert. Diese Hochzeit, die Halbwahrheiten über Thijs, die unterschlagenen Fotos, die Lügen. Sie wollte lieber als liebevolle und trauernde Witwe durchs Leben gehen als als betrogene Ehefrau.

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum du böse auf mich bist«, sagte Henriette Thalberg. »Ich kann nun wirklich am allerwenigsten dafür.«

Helen glaubte das sofort. Ihre Mutter unterschätzte grundsätzlich ihren Anteil an familiären Konflikten.

»Ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit vernachlässigt habe. Aber ich kann nicht so viel Anteil an eurem Leben nehmen, wie ich es mir wünsche. Es geht mir einfach nicht gut.«

Sie fing an zu weinen. Helen fühlte nichts.

»Ich kann doch nichts dafür, dass ich krank geworden bin. Ich unterstütze euch, wo ich kann. Jede auf ihre Weise. Du bist immer so stark. Ich bin nicht so stark wie du.«

Ihre Mutter schaffte es immer wieder, sich als Opfer zu inszenieren und das Thema auf ihre Befindlichkeiten zu lenken.

»Ich will einen Namen«, wiederholte Helen.

»Thijs hat mir verboten, mich auf solche Diskussionen einzulassen. Er weiß, wie sehr ich mich sonst aufrege. Ich kann seit Tagen nichts mehr essen.«

Ich, ich, ich, dachte Helen. In der Welt ihrer Mutter ging es nie um andere. Es ging immer nur um sie. Ihre Gesundheit, ihre Befindlichkeit, ihre Launen, ihr Leiden.

Am Horizont sah sie ein paar bunte Punkte in ihre Richtung kommen. Nick und Leo rasten auf sie zu. Dahinter liefen Amelie und Philomena. Sie hatten Yella in ihre Mitte genommen.

»Lass uns zusammenkommen. Lass uns sprechen. Ihr kommt nach Köln und dann reden wir in Ruhe«, schlug Henriette Thalberg vor.

»Ich will einen Namen«, sagte Helen. »Jetzt.«

»Ich habe versucht, euch alle zu beschützen. Damals wie heute.«

Sie hatte Yella beobachtet, die sich liebevoll um ihre Jungen kümmerte. Sie hatte am eigenen Leib gespürt, wie es sich anfühlte, wenn man sich aufrichtig Sorgen um jemanden machte. Wenn man jemandem eine Freude bereiten wollte.

»Der Name«, wiederholte sie.

»Ich lade dich ein. Dich und Paul. Wir haben uns viel zu lange nicht mehr gesehen. Es gibt da ein großartiges neues Restaurant.«

Helen drückte das Gespräch weg und verstaute das Handy in ihrer Hosentasche. Sie brauchte ihre Hände, um Nick aufzufangen.

Amelies Telefon klingelte. Sie sah auf ihr Display.

»Mama«, sagte sie.

Keine der Schwestern wusste so genau, wie sie damit umgehen sollte. Das Klingeln erstarb. Einen Moment später meldete sich Henriette Thalberg bei Yella. Keine von ihnen hatte Lust, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Am Ende war wieder Helen dran. Sie drückte zögernd den grünen Button.

»Wie kannst du mir das nur antun …«, hörte sie, bevor sie das Gespräch endgültig beendete.

»Vielleicht hat Doro Zeit«, sagte sie und blockierte die Nummer.

Nichts hatte sich je besser angefühlt als dieser eine kleine Swipe auf dem Telefon.

»Ich rufe sie vielleicht später an«, sagte Amelie.

Helen nickte einfach nur. Jede der Schwestern musste ihren eigenen Weg finden. Mit ihrer Mutter und mit Doro. Es hatte ihr unendlich gut getan, endlich einmal Nein zu sagen. Jetzt ging es darum, sich auf das zu konzentrieren, was schön war in ihrem Leben.

»Wer kommt mit ins Wasser?«, rief sie.

Leo und Nick waren begeistert, ihre Fähigkeiten auszuprobieren.

»Ich komme mit«, rief Yella.

 

Es wurde ein wundervoller letzter Strandtag. Helen fühlte sich wie befreit. Sie ließ mit den Kindern einen Drachen in den Himmel steigen und amüsierte sich über Philomenas Versuche, den wütenden Hund zu dressieren.

»Ich nenne ihn Lotte«, sagte Philomena. »Er ist genauso starrköpfig wie meine Hühner.«

»Es ist ein Männchen«, gab Amelie zu bedenken.

»Kein Wunder, dass man ihn so schlecht dressieren kann«, sagte Philomena.

Lotte riss sich los. Philomena rannte hinterher.

»Ich habe immer von einem anderen Leben geträumt. Nur wusste ich nie, wie das wirklich aussehen soll«, flüsterte Amelie. »Ich glaube, es sah aus wie Philomena.«

Sie stießen mit Aperol Spritz und Fristi auf ihren letzten Urlaubstag an.

»Willst du ganz hierbleiben?«, fragte Helen, während Philomena sich an dem kleinen Hund abarbeitete.

Der Zweifel trieb ihre Zwillingsschwester voran: von Abenteuer zu Abenteuer, von Beruf zu Beruf, von Wohnung zu Wohnung, von Zwischenlösung zu Zwischenlösung. Sie schwebte immer noch, wirkte jedoch nicht mehr ganz so zerbrechlich wie früher.

»Ich brauche Abstand«, sagte Amelie. »Und ich bin gerne unter Leuten, die sich für was anderes interessieren als Geld. Ich habe nicht das geringste Interesse daran, für ein Auto oder eine Einbauküche zu arbeiten.«

Helen staunte, wie Amelie die Unsicherheiten ihres Daseins aushielt. Sie selbst machte sich nicht viel aus Besitz. Sie brauchte keine neue Couchgarnitur, keine Designermöbel, keine Juwelen oder eine ausgebreitete Kleiderkollektion, aber sie brauchte das Gefühl, all das kaufen zu können, wenn sie es nur wollte. Nicht zuletzt deswegen hatte sie sich für einen Beruf entschieden, in dem sie immer Arbeit finden würde.

»Bist du dir sicher?«, fragte sie.

»Ich bin nicht wie du«, sagte Amelie. »Ich bin ein Projektmensch. Ich bin nicht dafür gebaut, irgendetwas auf Dauer durchzuhalten.«

»Und im Winter?«, fragte Helen nach.

»Das wird sich zeigen«, sagte Amelie. »Ich denke nicht nach vorne. Meine Kraft reicht gerade mal aus, mich im Wind auf der Stelle zu halten.«

Für jemanden, der nicht wusste, was sie wirklich wollte, klang Amelie enorm entschlossen. In den vergangenen Jahren hatte sie immer so zerbrechlich gewirkt, aber vielleicht war sie die Stärkste von ihnen allen.

»Man hat mich als Kind aus meinem Leben gerissen«, sagte Amelie leise. »Vielleicht wachse ich deswegen nirgendwo mehr richtig an.«

Ähnlich wie Helen fühlte Amelie sich als Außenseiterin, wo immer sie war.

»Philomena ist wunderbar«, sagte Helen. »So jemanden können wir gut in der Familie gebrauchen.«

Amelie nickte aufgeregt: »Und ich bin anders mit ihr. Diese Amelie gefällt mir besser.«

Helen umarmte Amelie: »Ich bin froh, dass du mein Zwilling bist.«

»Ich auch«, sagte ihre Schwester. Ihre Augen glitzerten glücklich.

Philomena tauchte mit knallrotem Kopf auf. Ihre Kleider hingen klatschnass an ihrem Leib. Den Hund trug sie auf ihrem Arm.

»Lange Geschichte«, sagte sie. »Oder eigentlich ganz kurz. Was mit einer Pfütze, einer Möwe und einem Hund, der sie küssen will.«

Ihr Blick wanderte zu Nick und Leo.

»Jemand Interesse an einem Haustier?«