65. Wieder zu Hause

24 Stunden später waren sie wieder zu Hause. Yella verspürte eine merkwürdige Spannung, als sie die Tür öffnete und den Koffer im Flur erkannte.

»Papa«, schrien Nick und Leo beinahe gleichzeitig.

Ihr Herz machte einen gewaltigen Sprung. Wenn man zusammenlebte, gab es keine Geheimnisse mehr. In der Zeit, in der sie getrennt waren, hatte sich eine eigentümliche Spannung zwischen ihnen aufgebaut. Sie fühlte eine seltsame Nervosität, als sie ihm jetzt gegenüberstand. Er war ihr fremd und vertraut zugleich. Veränderungen waren am Anfang immer hart, in der Mitte eine riesige Überforderung und am Ende das reinste Glück. Sie war neugierig, an welchem Punkt sie gemeinsam angekommen waren.

»Wieso bist du hier?«, fragte sie.

David, der beide Söhne auf dem Arm hatte, schob sie in die Küche, wo der Tisch feierlich gedeckt war.

»Haben wir etwas zu feiern?«, fragte sie.

Er wies auf ihren Teller, auf dem ein Papier lag. Eine Seite aus seinem Roman. Er hatte das Wort Ende geschrieben. Mitten im Satz auf Seite 124.

»Es macht mir keinen Spaß mehr«, sagte er. »Ich fühle mich wie zwanzig. Ich will die ganze Nacht durcharbeiten. Aber mein Körper liegt um neun auf dem Sofa und schnarcht.«

»Wir sind älter geworden«, sagte Yella. »Und viel weiser.«

»Ich verpasse mein Leben«, sagte er.

»Du hast dein Stipendium hingeschmissen?«, fragte Yella ungläubig.

»Ich habe herausgefunden, wo das Problem liegt«, sagte David und klang so fröhlich wie seit Langem nicht mehr.

»Das klingt gut«, sagte sie zögerlich.

»Es ist nicht die Zeit, es ist nicht die Konzentration, es ist nicht die Familie«, erläuterte David. »Ich bin einfach nicht mehr der, der diese Geschichte einmal angefangen hat. Mit dir und unseren beiden Jungs ist alles anders geworden.«

Die Fotos vom afzwemmen hatten den Ausschlag gegeben. Das einsame Leben in einer Schriftstellerresidenz war nicht mehr erstrebenswert für ihn.

»Ich will nicht mehr getrennt von dir sein. Weder gedanklich noch räumlich. Falls du mit einem Loser zusammen sein willst.«

Yella nahm ihn einfach in den Arm, bis die Jungen die Geduld verloren.

»Ich kann jetzt schwimmen«, rief Leo.

»Ich will Kuchen backen«, brüllte der Kleine.

»Ich muss noch was erledigen«, sagte Yella.

 

Während aus der Küche allmählich der süße Geruch von Käsekuchen strömte, erinnerte Yella sich an das Ritual, von dem Amelie ihr berichtet hatte. »Du musst alle negativen Erfahrungen notieren und vernichten. Sie fing an, sich die gesamte Geschichte des Sommers von der Seele zu schreiben. Und die Konkurrenzsituation mit Doro, die bis zum heutigen Tag andauerte. Am Ende lief es immer wieder auf Doro hinaus.

 

Sie schrieb über den Streit mit dem Vater und den Schmerz über die abwesende Mutter. Über glückliche Momente mit ihrer Sommerliebe, über die Sturmnacht, über alles, was sie von Frenkie erfahren hatte. Und dann zeichnete sie Linien, und aus den Linien wuchsen die Gesichtszüge, so wie sie sich vor zwei Jahrzehnten auf immer in ihr Gedächtnis gebrannt hatten. Nur würde sie ihre Erinnerungen nicht verbrennen. Sie hatte andere Pläne. Sie würde reinen Tisch machen. Mit allem.

Wenn sie eins gelernt hatte, dann, dass es keinen Sinn ergab, Fragen aufzuschieben. Das ganze Elend in ihrer Familie rührte ausschließlich daher, dass niemand wagte, die richtigen Fragen zu stellen, weil niemand wusste, ob sie die Antworten aushielten.

 

Noch in der Nacht schickte sie alle Informationen an Helen.

Ich will Dinge nicht länger für mich bewahren, schrieb sie.

Ähnliche Umschläge hatte sie auch an Doro, Amelie und ihre Mutter gesendet. Dann konnte jede Sommerschwester und jedes Familienmitglied für sich entscheiden, wie sie mit den unbequemen Wahrheiten umging. Sie wollte keine Verantwortung mehr übernehmen für die Taten von anderen. Und für deren Geheimisse.

 

Das Schreiben enthielt nicht nur den Text, sondern auch eine Zeichnung. Yella hatte versucht, das Gesicht der Sturmfrau und den roten Haarschopf aus ihrem Kopf aufs Papier zu bringen. Keine der Skizzen schien ihr wirklich treffend, aber besser bekam sie es einfach nicht hin. Noch nicht. Sie würde weiter daran arbeiten. Keine Lüge sollte mehr zwischen ihnen stehen.

Ich kenne da eine gute Zeichenschule in Bergen, schrieb Helen zurück.

Sollen wir wieder?, schrieb Yella.

Immer, antwortete Helen.

Sie hatten die nächsten Monate Zeit, herauszufinden, was das Wort »wir« bedeutete.