Auf, ab, auf, ab, wie bei einem Kasperltheater tauchte erst der Kopf und dann der sportliche Oberkörper eines Mannes hinter der Empfangstheke der Praxis auf, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Kopf und Oberkörper gehörten dem Physiotherapeuten, Personal Trainer und Praxisinhaber Ulrich Böllmann, ebenso das braune Poloshirt mit dem quer über die Brust gezogenen Aufdruck »Physio Trainer«. Obwohl für alle anderen schon Feierabend war, wuselte er immer noch in weißer Arzthose und türkisfarbenen Salomon-Trailrunnern in der Praxis herum.
»Ach, der Sascha. Ja, servus! Ist dir fad, oder was verschafft mir die Ehre?«
Hektisch wie immer, der Herr Physiotherapeut und Personal Trainer. Die Nachmittagssonne tanzte wie ein Kobold auf dem Parkett herum, das einen Schiffsboden aus Eiche imitierte, wahrscheinlich aber doch eher Vinyl war, wegen der Strapazierfähigkeit.
»Servus, Ulli! Hast du heute schon Feierabend?« Das war es zumindest, was Sascha hoffte. Deshalb hatte er auch auf gut Glück in der Praxis vorbeigeschaut. Er wollte Ulli zu einem spontanen Cappuccino oder Bierchen überreden.
Immer öfter passte Saschas Zeitplan nicht zu dem seiner Kumpels. Wenn Sascha im Casino Spätschicht hatte, dann hatte er nachmittags Zeit, wenn die allermeisten seiner Freunde noch in der Arbeit waren. Und wenn sie Feierabend hatten, musste er los. Diese Schichtarbeit passte zwar durchaus zu seinem Biorhythmus und zu seinem Naturell, für sein Social Life war sie dagegen ziemlich verheerend. Ulli könnte sich ja auch mal eine Stunde freinehmen, schließlich war er selbstständig – aber Sascha hatte ihn im Verdacht, dass er seinen Hals einfach nicht vollkriegen konnte. Sein Kumpel jammerte ihm gern vor, was ihn die Praxis und alles, was daran hing, die Ausstattung, die Angestellten, die Steuern, kostete. Dabei lief das Geschäft von Beginn an glänzend, was den Effekt hatte, dass Ulli sich immer noch mehr vorstellen konnte.
Hinter der Empfangstheke war jetzt ein Heavy-Metal-Gitarrenriff zu hören. Das war Ullis Handy.
»Ja, da schau her, Caro, servus, was machst denn, wo bist denn? Was, in Reichenhall? Jetzt? In einer Stunde geht’s nicht? Da wäre ich fertig. Eine Patientin kommt noch, ja, dreißig Minuten, nein, absagen kann ich jetzt nicht mehr, die ist bestimmt schon auf dem Weg. Nein, es ist ja jetzt keiner mehr da, ich bin allein in der Praxis. Bei dem schönen Wetter liegen doch alle längst am Thumsee oder sitzen im Biergarten. Ja, das ist jetzt wirklich dumm. Freilich würd ich gern das Intervalltraining mit dir machen. Ja, nur gerade jetzt, also, nein, Caro, ich kann jetzt wirklich nicht, aber, Moment, äh, jetzt hab ich noch eine Idee. Du, pass auf, ich ruf dich in zehn Minuten wieder an. Ja, ich würd mich auch freuen, klaro, also bis gleich, ja, ich versuche es. Ciao, bis gleich.«
Er steckte das Handy in die Hosentasche. Dann strich er sich die einzige Haarsträhne aus dem Gesicht, die über seinen Undercut hing wie die Schwanzfeder von einem Gockel, und sah Sascha an.
»Du, Sascha?«
»Was?«, fragte der von seinem Besucherstuhl aus, in dem er Platz genommen hatte.
»Die Caro, weißt schon, das ist eine vom Biathlon-Leistungszentrum in Ruhpolding. Vielleicht kennst du die sogar, die Caro Däuber?«
»Also, du weißt doch, dass ich schon lang nicht mehr aktiv bin im Leistungssport. Ich kenne die jüngeren Athletinnen und Athleten gar nicht mehr.«
»Ah, ja, klar. Jedenfalls möchte die Caro jetzt ein Intervalltraining machen.«
»Mit dir«, sagte Sascha.
»Ich bin doch ihr Personal Trainer.«
»Aber davor hast du noch eine Patientin zu verarzten.«
»Die Caro kann ich aber nicht warten lassen. Du weißt doch, wie eng die mit ihrem Training durchgetaktet sind. Da finden wir keinen Ersatz, das muss sonst einfach ausfallen. Und das wär jetzt schon sehr schade. Die Caro kann echt was erreichen.«
»Mit dem richtigen Personal Trainer, versteht sich.« Sascha hatte schon verstanden, dass er seinen Apéro allein würde einnehmen müssen, es sei denn, er träfe auf dem Weg noch jemanden, der ihm Gesellschaft leistete. Chris vielleicht … obwohl, der musste bestimmt auch noch arbeiten. Oder die Daniela? Die hatte er auch schon länger nicht mehr gesehen. Sie hatte es immer besonders wichtig beim Reichenhaller Tagblatt . Eine gute Journalistin war sie schon, das musste er ihr lassen. Eine richtige Wadlbeißerin, die ihre Nase gern in Sachen steckte, die sie nichts angingen. Und wenn sie sich einmal festgebissen hatte, dann ließ sie so schnell nicht mehr los.
»Ich hab da jetzt eine Idee, Sascha, wo du schon mal hier bist. Pass auf, kannst du mir ganz ausnahmsweise mal diese Patientin abnehmen? Fünfunddreißig Minuten, Sascha. Und die Privatpatienten zahlen gut.«
Sascha sah seinen Freund ungläubig an. »Bin ich vielleicht Physio? Träumst du oder was?«
»Also für die halbe Stunde musst du jetzt kein Physio sein. Schau, die Patientin hat keine schlimmen Beschwerden, zumindest keine körperlichen. Kein Knochenbruch, Bandscheibenvorfall oder so was, wo jetzt nur ein Spezialist hinlangen darf, verstehst du?«
Sascha konnte es nicht glauben, was sein Freund und Personal Trainer ihm da vorschlug.
»Die hat andere Probleme, äh, sagen wir mal eher psychologisch oder psychosomatisch, verstehst du? Mehr so, sagen wir mal, in Richtung allgemeine Depression, Antriebslosigkeit, eine Art Burn-out halt, obwohl die noch gar nicht alt ist, äh, ja, also Schweigepflicht und so was, weißt eh. Aber körperlich ist die ganz gesund, wenn auch der Muskeltonus wahrscheinlich ein bisschen schwächlich ist, na ja, eine Tussi aus Berlin halt.«
»Jetzt red doch nicht rum, Ulli. Du willst mir doch nicht im Ernst sagen, ich soll diese Patientin fünfunddreißig Minuten lang behandeln, obwohl ich keine Ahnung habe und kein Physio bin.«
»Sascha, das kannst du. Ich bin mir sicher, dass du das schaffst. Und du würdest mir dermaßen aus der Patsche helfen. Da hättest du echt was gut bei mir.«
»Bist du verrückt? Ich bin doch kein Hochstapler.«
»Nein, auf keinen Fall. Aber du hast doch mal Medizin studiert, Sascha, das machst du bestimmt mit links.«
»Ich hab’s aber nicht fertig studiert. Und bloß weil einer ein paar Semester Jura studiert hat, kann er auch nicht mal schnell einen Amtsrichter in einem Prozess vertreten.«
»Schau, erstens waren es bei dir mehr als zwei Semester. Du warst ja schon fast fertig und hast nur vor dem Examen gekniffen. Prüfungsangst, sonst wärst du heute ein Herr Doktor. Du weißt, wie so ein Mensch von innen ausschaut, du weißt, wo die Muskeln sitzen und wo man beim Massieren hinlangt. Fangopackungen sind auch noch welche warm gestellt, die kannst du ihr zuerst auflegen, dann hast du schon mal die halbe Zeit rum. Dann unterhältst du dich ein bisschen mit ihr, fragst sie, wie es ihr hier gefällt, wie es ihr geht, so grundsätzlich, und dann massierst du ihr ein bisschen den Rücken, den Nacken, und schon ist die Zeit rum. Sascha, nur dieses eine Mal, ich schwör’s dir. Weißt du, die Caro … Aber ich hab jetzt gar nicht so viel Zeit. Am besten, du nimmst die Kabine vier, das ist die schönste. Schau, so gemütlich sonnig gelb, in dem Licht jetzt, das ist die reinste Lichtdusche, auch sehr heilsam für depressive Patienten.«
Ulli redete wie ein Wasserfall, während Sascha in seinem Besucherstuhl saß und sich nicht rührte. Die Kraft, der es bedurft hätte, aufzustehen und den Redeschwall seines Freundes zu durchdringen wie den Urwald mit einer Machete, diese Kraft konnte Sascha gerade beim besten Willen nicht aufbringen. Er fühlte sich selbst ziemlich antriebslos. Vielleicht war es der honigfarbene Holzboden oder das Sonnenlicht, das immer noch darüber tänzelte wie ein Kobold, oder der bequeme Besucherstuhl, der ihn einlullte und willenlos machte. Er konnte sich einfach nicht aufraffen zu diesem Nein, das der Verstand von ihm forderte. Denn jeder vernünftige Mensch hätte seinem Freund zuerst einen Vogel gezeigt, um sich sodann aus dem Sessel zu erheben und die Praxis auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Tunlichst bevor die erwartete Patientin eintraf. Jeder vernünftige Mensch hätte es so gemacht. Nur Sascha nicht.
Irgendetwas reizte ihn an der Vorstellung, eine weiße Arzthose und ein braunes Poloshirt anzuziehen, mit Aufdruck auf der Brust, für eine halbe Stunde seines Lebens den geschäftigen und megaerfahrenen Physiotherapeuten zu spielen und eine Patientin in dieser Praxis zu behandeln, obwohl er das noch nie in seinem Leben gemacht hatte. Zumal er überzeugt war, dass das Image des attraktiven, körperbetonten Physiotherapeuten ganz wunderbar zu seinem Typ passte. Er war fast fünfunddreißig, schlank und dunkelhaarig mit hellbraunen Augen, Typ Norditaliener, nicht zu groß und von der Figur her immer noch sportlich, wenn auch nicht mehr ganz so athletisch wie zu seinen Biathlon-Zeiten in seinen frühen Zwanzigern. Er rauchte nicht, trank nicht mehr als ein, zwei Bier am Abend und machte insgesamt eine ganz passable Figur. Und er hatte noch dazu etwas Besonderes, eine ganz spezielle Note, die ihn, das wusste er selbst, von einem Großteil seiner Kumpels doch ziemlich unterschied. Für manche war das sein Hang zum Träumerischen, mit etwas wackeliger Bodenhaftung. Er blätterte gern in alten Büchern und Fotobänden herum, interessierte sich für Geschichte, hing an den alten Dingen, die in der Villa Palmira herumstanden, die er seit seiner Geburt bewohnte und nie, auch nicht vorübergehend, verlassen hatte. Für die, die ihm nicht so wohlgesinnt waren, hatte er ein leichtes Loser-Image. Zu ihnen gehörte auch seine Tante Paulina, nicht weil sie ihn nicht mochte oder ihm nichts zutraute, sondern weil er den Erwartungen nicht genügte, die sie an ihn, das vorläufig letzte männliche Glied, sozusagen den Erbprinzen der Familien-Dynastie, stellte. Aber mit den Erwartungen war es schon immer so eine Sache gewesen. Je stärker Sascha sie von außen gespürt hatte, desto leichter war er in eine Verweigerungshaltung mit vielfältigen Ausweichstrategien verfallen. Das war ein fataler Zusammenhang, der ihm zwar selbst bewusst war, den er aber immer noch nicht so richtig steuern konnte.
Diese Situation hier sah er jetzt allerdings eher als Herausforderung denn als ernsthafte Erwartung an ihn. Die Aushilfe als Physiotherapeut würde er leicht packen. Denn er würde keinen großen Schaden anrichten, wenn er sehr behutsam vorging und einfach nicht viel machte. Er war ja kein Mister Bean, der sich selbst mit dem Bohrer ins Bein bohrte, während er im Zahnarztstuhl auf den Arzt wartete. Vielleicht würde er sich mit der Patientin sowieso nur unterhalten und sonst gar nichts.
Zuhören war etwas, das er eigentlich ganz gut konnte. Am liebsten hörte er Frauen mit privaten Problemen und kleinen Neurosen zu, denn von ihnen gab es doch einige, und sie suchten geradezu nach Männern, die zuhören konnten, denn davon gab es wiederum nicht so viele. Behaupteten die Frauen zumindest. Zumal die Auswahl in Reichenhall und Umgebung nicht riesig war, weshalb sie oft bei ihm landeten.
Ulli erfasste die Lage augenblicklich. Er wusste Saschas Zaudern, seine Fesselung an diesen blauen Besucherstuhl richtig zu deuten und streckte ihm seine Pranke mit den gespreizten fünf Fingern entgegen. Sascha zögerte nicht mehr und schlug ein: High five.
»Hundert Euro und eine Einladung zum Essen«, sagte Sascha. »Jetzt schau nicht so arm, denn ich weiß, dass du es nicht bist. Wahrscheinlich mache ich mich hier strafbar für dich. Wegen deiner Caro und was weiß ich. Wo ist der Fango? Wo sind die passenden Klamotten für mich, und wo soll ich den Schlüssel einwerfen, wenn wir fertig sind? Und wenn ich ans Telefon auch noch gehen soll, dann kostet das extra.«
Die Patientin kam zu spät. Sascha dachte schon, sie käme gar nicht mehr. Das wäre dann wirklich ganz leicht verdientes Geld gewesen und hätte auch sein Gewissen entlastet. Wie hieß die überhaupt? Sascha sah im Terminkalender nach. »Fr. Schimmel« stand da. Aus Berlin, hatte Ulli gesagt. Depressiv oder so etwas. Vielleicht auch nur neurotisch. Er schenkte sich in der Teeküche ein Glas Wasser ein. Der Lichtringelreigen auf dem Boden des Eingangsbereichs war einen Meter weitergezogen, und der Kontrast von Dunkel und Hell war jetzt nicht mehr ganz so scharf. Als er aus der Küche zurückkam, stand sie vor ihm: Fr. Schimmel.
Sie war ein wenig älter als Sascha, vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig, sehr blond und sehr blass, mit bläulichen Adern auf den Oberarmen und Sommersprossen und allem, was den eher nordischen Typ so ausmacht. Ein paar winzige Knitterfältchen in Mund- und Augenwinkeln. Blaue Augen und fein geschwungene Ohren mit Höckern auf beiden Seiten. Nicht wie bei Mr. Spock nach oben abstehend, sondern zur Seite. Auffällig, diese Ohren, aber sie passten zu diesem kühlen, trotzdem reizvollen Gesicht. Ein wenig ätherisch wirkte sie, doch mit festem, offenem Blick. Und ihr Muskeltonus war nicht das Erste, worauf ein Mann wie Sascha achtgab. Eher ein Mann wie Ulli.
»Guten Tag«, sagte sie. Logisch, sie kam ja auch aus Berlin. »Ich habe einen Termin bei Herrn Böllmann.« Kein Wort davon, dass sie zu spät war. Musste er die Verspätung nachholen oder war sie da jetzt selbst schuld?
»Der ist heute leider verhindert, ein dringender Auftrag. Ein unangekündigtes Training einer Leistungssportlerin. Herr Böllmann ist eine gefragte Koryphäe, wissen Sie. Ich muss Sie bitten, heute ausnahmsweise mit mir vorliebzunehmen. Es sind ja nur …«, er sah auf die Uhr über dem Empfang, »zweiundzwanzig Minuten. Scherz! Ein paar Minuten kann ich schon dranhängen. Wir nehmen Kabine vier. «
»Bin ich die letzte heute?«, fragte die Patientin.
»Ja, aber Sie müssen keine Angst vor mir haben«, sagte Sascha, »ich bin ganz harmlos. Ich heiße übrigens Sascha. Sascha Maiensäss.«
»Sascha wie?«
»Maiensäss. Das ist ursprünglich die Bezeichnung für eine Weidefläche in den Bergen, auf die man ab Mai, daher der Name, die Kühe treibt, weil es da frisches Gras gibt.« Ihr Blick sprach Bände. Sie hielt ihn jetzt wohl für eine Art Alm-Öhi, wie den aus Heidi .
»Sascha kann ich mir merken. Ich heiße Mira. Mira Schimmel.«
Schimmel konnte sich Sascha auch merken. Mira, das war vielleicht eine Abkürzung für Miranda. Es klang nach einem Einkaufszentrum am Münchner Hasenbergl.
»Wenn Sie sich dann bitte oben frei machen, ich hole schon mal die vorbereiteten Fangopackungen. Liegen Sie lieber auf dem Rücken oder auf dem Bauch?« Sascha hatte sich überlegt, sie frei wählen zu lassen. Entweder lag sie auf dem Fango, oder der Fango lag auf ihrem Rücken, wenn sie die Bauchlage bevorzugte. Er hatte keine Ahnung, wie Ulli das bei seinen Patienten machte. Na, er würde ja sehen, wie sie sich entscheiden würde. Er kontrollierte die Wärme der Packung mit dem Handrücken. Diese blasse Haut war bestimmt sehr empfindlich, auf Wärme wie Kälte, Sonne, Wind, Wetter. Er würde sie gut einpacken, dass sie sich keine Erkältung zuzog in seiner halben Vertretungsstunde.
Als er mit den Fangopackungen zurück in die Kabine kam, traf ihn ein grimmiger Blick, dem ihm eine Meduse mit Schlangenhaar vom Rücken seiner Patientin her zuwarf. Sascha dachte kurz darüber nach, was das wohl zu bedeuten hatte. Es fiel ihm nichts ein, aber das ging ihm mit Tattoos anderer Leute meistens so. Die Sache war ihm auf jeden Fall zu intim, als dass er nachgefragt hätte. Es ging ihn ja auch nichts an. Hoffentlich würde der Fango daran nichts kaputt machen. Das wäre dann eine Haftungsfrage, schoss es ihm durch den Kopf.
»Bei Herrn Böllmann hatte ich kein Fango«, sagte Mira Schimmel.
Das hat er mir natürlich nicht gesagt, dieser Schuft, dachte Sascha.
»Die Wärme wird Ihnen guttun. Sie wirken so, als könnten Sie gar nicht genug davon bekommen.«
»Das täuscht«, sagte sie. »Ich sehe zwar immer verfroren aus, weil ich so dünn und eher blass bin, aber das ist überhaupt nicht so. Ich mag es gern, wenn es kühl ist.«
»Jetzt wollte ich sie schön in Decken einpacken, aber wenn Sie nicht mögen, lasse ich das lieber.«
»Ja, lassen Sie es lieber. Und könnten Sie bitte hierbleiben, während dieser Schlamm auf mir liegt? Irgendwie fühlt sich das seltsam und beklemmend an. So, als säße etwas Lebendiges auf mir drauf, was ich nicht erkennen kann, weil ich ja meinen Rücken nicht sehen kann, verstehen Sie?«
»Und das macht Ihnen Angst, dass da etwas sein könnte, Sie aber nicht wissen, was es ist? Also, ich meine, jetzt wissen Sie es ja, aber wenn Sie es nicht wüssten?«
»So ungefähr«, sagte sie.
Sascha setzte sich auf den Hocker neben ihrer Liege und betrachtete ihre rechte Brust, die wie ein Stück Hefeteig flach unter ihrem Körper zusammengequetscht lag, und er fragte sich, ob die Rückenlage nicht doch angenehmer für sie gewesen wäre.
»Wie geht es Ihnen hier in Bad Reichenhall?«, fragte Sascha. »Haben Sie viel zu tun, viele Anwendungen während Ihrer Kur?«
»Tja, wie geht es mir …«, fragte sie zurück. »Es geht mir mal so, mal so. Und zu tun habe ich nicht so viel. Ich gehe zur Psychotherapie, einzeln und in der Gruppe, Physio, ein bisschen Wellness im Hotel, dazu Spaziergänge und dieses Freiluft-Inhalatorium im Kurpark. Ich probiere vieles erst mal aus. Ich bin ja auch nicht so richtig krank. Keine kaputte Schulter, Knie in Ordnung, kein Übergewicht, ich rauche nicht, trinke nicht viel, eigentlich ist alles gut.«
»Und was fehlt Ihnen?«, fragte Sascha mit entwaffnender Einfältigkeit.
»Was steht denn da in meiner Akte?«, fragte sie.
»Ich habe sie nicht gelesen, wie gesagt, ich bin für meinen Chef eingesprungen, es ging alles sehr schnell.«
»Da müsste Burn-out stehen, Panikattacken, Stress, Überforderung bei den kleinsten Dingen. Auch wenn ich nicht so aussehe, bin ich eigentlich ein Wrack. Manchmal tue ich mir sogar selbst leid. Dabei bin ich ja schon viel weiter als noch vor zwei Monaten. Aber es zieht sich. Als mein Mann seine Anmeldung für den Pneumologen-Kongress in Bad Reichenhall bestätigte, hat er beschlossen, dass ich vorausfahren und hier zur Kur gehen soll, bis ich wieder stark genug bin für das Leben in der Großstadt, für meine Verpflichtungen und all den Kram.«
Es klang nicht so, als sei es ihr größtes Ziel, den Anforderungen ihres Alltags wieder die Stirn zu bieten. Zumindest schien sie noch sehr weit entfernt davon.
»Sie wirken mental gar nicht so schwach, aber offenbar hat Sie etwas ausgeknockt und vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Verzeihen Sie, ich bin natürlich kein Psychologe, ich sage nur meine Meinung als Laie. Oder besser gesagt, meinen ersten Eindruck. Ich kenne Sie ja gar nicht.«
»Ich Sie auch nicht. Ich weiß nur, dass Sie Sascha heißen, etwas jünger sind als ich, offenbar hier leben, Physiotherapeut sind …«
Sascha wollte es fast schon richtigstellen, aber das ließ er lieber bleiben. Die Wahrheit würde ihm jetzt gerade nichts helfen, und ihr auch nicht.
»… und dass Sie nicht so richtig hierher passen.«
»Wie meinen Sie das?« Sascha wurde es mulmig. Seine Tarnung würde doch hoffentlich nicht sofort auffliegen?
»Sascha heißen die Jungs bei uns im Osten, reihenweise, oder sie hießen früher so. Sascha, Meik, Rico, Kevin. Na, jetzt vielleicht nicht mehr. Heißen Sie wirklich so?«
»In meiner Geburtsurkunde steht Alexander«, gab Sascha zu.
»Ach so«, sagte Frau Schimmel.
Der Pferdename passte zu ihrer vornehmen Blässe, jetzt erst kam Sascha auf das Naheliegende.
»Und dieser dunkle Typ, der Sie sind, kommt das von irgendwelchen Italienern in Ihrer Verwandtschaft?«
»Nicht dass ich wüsste. In meiner Familiengeschichte ist eher das slawische Element vertreten, etwas Russisches. Daher auch mein Rufname.«
»Aha«, sagte sie. »Jetzt ist der Fango etwas kühler geworden, so lässt es sich besser aushalten.«
Als Sascha vorschlug, die Packungen abzunehmen, weil er sie jetzt noch massieren wollte, lehnte sie ab. Das sei so gemütlich mit dem kalten Schlamm auf ihrem Rücken. Sascha wickelte sie in ein großes Handtuch, und als er es an den Seiten unter ihren Körper schob, bemerkte er, dass sie gerade am Einschlafen war. Was sollte er jetzt tun? Sie aufwecken? Nein, das kam ihm irgendwie grausam vor. Depressive Menschen hatten oft Schlafprobleme. Da wäre es ja geradezu Folter, sie mutwillig aufzuwecken, sobald sie einmal eingeschlafen waren. Konnte der Fango im kalten Zustand irgendeinen Schaden auf dem Rücken eines Menschen anrichten? Wohl kaum. Er ging hinaus, um die Frage auf seinem Smartphone zu googeln. Er fand nichts, was dagegensprach. Also ließ er sie schlafen.
Er schaltete die Espressomaschine wieder an, die bereits sauber gemacht und ausgeschaltet war. Goss Wasser in den Behälter, wartete, bis das Wasser heiß war, füllte Kaffeebohnen ein. Die Maschine machte ziemlichen Lärm, er hatte die Tür zur Küche offen gelassen. Er horchte. Nichts. Er trank seinen Kaffee. Keine Nachricht auf seiner Mailbox, keine WhatsApp-, keine Facebook-Nachricht. Nicht einmal eine SMS, ein Kanal, den seine Tante Paulina benutzte, wenn sie ihm nicht auf Band sprach, oder auch seine Mutter.
Bei der zweiten Tasse Espresso ging die Kabinentür auf, und Saschas Patientin kam vollständig angezogen heraus. Er stellte die Espressotasse ab.
»Oh, kann ich auch einen haben?«, fragte sie.
Sascha kalkulierte, dass er mit Fangopackungen-Auflegen und fünfzehn Minuten Plaudern plus zwei Espressi hundert Euro verdient hatte, nicht zu vergessen das Abendessen, das ihm Ulli versprechen musste. Kein schlechter Schnitt. Er brühte seiner Patientin einen Espresso, was er auch ziemlich gut konnte, und legte in der Zwischenzeit noch den Fango zurück, warf das Handtuch zur Wäsche und schloss die Kabinentür.
»Ich habe so wunderbar geschlafen. Darf ich denn morgen wiederkommen?«
»Morgen ist dann Ulli, also der Chef, bestimmt wieder persönlich für Sie da«, sagte er freundlich.
»Ich will aber gar nicht zu Herrn Böllmann«, antwortete die blasse Frau Schimmel. »Ich will zu Ihnen … oder dir. Wollen wir uns nicht duzen? Ich heiße Mira.«
Das wusste Sascha schon, aber ob er noch einmal wiederkommen wollte und ob er überhaupt dürfte, das wusste er nicht. Er ließ seine Patientin jedenfalls noch den Behandlungsplan unterschreiben, wie Ulli es ihm aufgetragen hatte. Eine physiotherapeutische Behandlung war das sicher nicht gewesen, aber immerhin eine, die ihr gutgetan hatte.
»Darf ich Sie noch zu Ihrem Hotel begleiten?«, fragte Sascha. »Ich habe jetzt Feierabend.«
»Ins Hotel?«, fragte sie. »Und was soll ich da? Ich fühle mich gerade wie neugeboren. Ich könnte Bäume ausreißen. Ins Hotel kann ich später immer noch.«
»Ich dachte, vielleicht wartet jemand auf Sie?«
»Nein, mein Mann ist noch in Berlin. Er wird erst zu diesem Kongress in die Stadt kommen. Noch bin ich allein hier und frei.«
Sie verließen die Praxis, Sascha hatte den Schlüssel eingesteckt, als wäre es seiner, und nun standen sie zusammen in der Rinckstraße, inmitten imposanter Villen aus der Gründerzeit. Die Verkehrsberuhigung hatte der Straße einige große Sträucher und Laubbäume beschert, die die stattlichen Häuser lebhaft beschatteten. Für die Autos war die Straße dagegen ein Hindernislauf: Baum, Verkehrsinsel, Pflanzkübel, Parkverbot.
»Wo ist denn jetzt hier eigentlich das Stadtzentrum?«, fragte Mira Schimmel. »Ich fürchte, ich kenne mich immer noch nicht aus in Bad Reichenhall. Ich meine, groß ist die Stadt ja nicht wirklich. Aber kaum gehe ich ein paar Straßen entlang, habe ich die Fußgängerzone schon wieder verpasst, dabei ist das ja fast die einzige Straße, in der irgendwas los ist, oder?«
»Mit Größe können wir nicht unbedingt punkten, das stimmt. Aber dafür habt ihr in Berlin keine Berge außen herum.«
»Ach, das da?«, fragte Mira und zeigte auf den Hochstaufen und den Predigtstuhl. »Was macht man denn damit? Ich meine, was kann man damit eigentlich anfangen?«
Sascha war sich sicher, dass sie ihn verkohlte, aber er erkannte keine Anzeichen eines Schmunzelns in ihrem Gesicht. Sie schien es ernst zu meinen.
»Zu Fuß hinaufsteigen oder mit der Seilbahn hinauffahren?«, schlug Sascha vor.
»Und wozu?«
»Hm, vielleicht solltest du es einfach mal ausprobieren. Das ist ein, wie soll ich sagen, sehr persönliches Erlebnis. Ich meine, den einen fasziniert es, sich einen Berg zu Fuß zu erlaufen und dann von oben ins Tal hinunterzublicken, höher als vom höchsten Kirchturm. Den anderen lässt es vielleicht kalt, obwohl, von der Sorte kenne ich nicht viele. Wenn ich es mir recht überlege, eigentlich niemanden.«
Sie waren inzwischen auf der Salzburger Straße stadteinwärts unterwegs.
»Das Grandhotel Axelmannstein«, zeigte Sascha in der Art eines Stadtführers. »Gegenüber das Kurmittelhaus der Moderne, in reinstem Jugendstil, dahinter der Kurpark. Neben den bayerischen Königen war zum Beispiel auch Richard Wagner hier zur Kur und hat in Bad Reichenhall seine spätere Gattin Cosima getroffen.«
»Aha«, sagte Mira Schimmel, »dann war sie wohl noch nicht seine Frau, als er sie hier traf.«
»Stimmt, da war sie noch mit einem anderen verheiratet«, antwortete Sascha, der über Wagner nur das Nötigste wusste. Aber er hatte jetzt eine Idee. »Wie wär’s mit einem Apéro?«, fragte er, denn das hatte er ja schon vor über einer Stunde Ulli fragen wollen.
»Das ist ja mal eine prima Idee«, stimmte seine Patientin zu und warf einen Blick in die Auslage eines kleinen Geschäfts, das sie gerade passierten. »Und was ist das hier?«
»Ein Strumpfladen, würde ich sagen. Strümpfe, Strumpfhosen, Socken eben.«
»Niedlich«, kommentierte sie. »Ich glaube, das gibt es in Berlin gar nicht, so einen Laden.«
Bei dem schönen Frühsommerwetter waren doch einige Leute in der Ludwigstraße, der hiesigen Fußgängerzone, unterwegs. Nicht so viele wie in der Kaufingerstraße in München oder der Getreidegasse in Salzburg, aber auch in Reichenhall füllten sich die Terrassen der Cafés und Eisdielen, Flaneure blieben zum Ratschen stehen, sobald sie Bekannte trafen, und wenn es nur ein paar Worte waren, die sie miteinander wechselten. Vor dem Café Reber schwebte nicht nur Schokoladen- und Tortenduft, sondern auch eine Klangwolke klassischer Musik. Bestimmt Mozart, denn er war die Hauptperson bei Reber. Der Komponist stand mit Geige als Bronzefigur im reberschen Mozart Hofgarten, und die Mozartkugel war eine Reber-Spezialität. Nicht dass Mozart je in Bad Reichenhall gewesen wäre, aber immerhin nahe dran, nämlich in Salzburg.
Ein Stück weiter, auf Höhe der Kur-Apotheke, kam ihnen eine Passantin entgegen, die mit dem Smartphone am Ohr und der freien Hand heftig gestikulierend offenbar ein wichtiges Telefonat führte. »Natürlich machen wir das«, rief sie ihrem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zu, »wir ziehen das durch wie geplant.«
Sascha konnte eine Kollision nicht mehr verhindern. Rechts neben ihm Mira, links ein alter Herr im Rollstuhl, dessen ebenso alte Begleitperson von dem Malheur gar nichts bemerkte. Das Smartphone der Passantin flog zu Boden, und sie schrie »Fuck, fuck« und bückte sich danach.
»Sascha?«, fragte sie, als sie wieder aufrecht stand. »Sag mal, hast du keine Augen im Kopf?« Und bevor Sascha noch protestieren konnte, musterte sie schon Mira von oben bis unten. »Deine neue Freundin?«
»Darf ich vorstellen? Daniela Keck, rasende Reporterin beim Reichenhaller Tagblatt «, sagte Sascha, »und das ist Mira Schimmel, Kurgast aus Berlin.«
»Aha«, sagte Daniela.
»Freut mich auch«, entgegnete Mira, und Sascha glaubte eine Spur von Stutenbissigkeit bei beiden Frauen herauszuhören. Nicht nur bei der Schimmel.
»Was müsst ihr denn so dringend durchziehen?«, fragte Sascha seine alte Jugendfreundin Daniela, Karlsgymnasium, Parallelklasse.
»Ach, hab ich das gesagt? Ein Scherz, Sascha. Du weißt ja, wie es bei uns in der Redaktion zugeht. Drunter und drüber, kann ich dir sagen. Tja dann, ich muss auch gleich wieder los. Man sieht sich!« Sie zwinkerte Sascha frech zu, um eine Intimität zwischen ihnen vorzutäuschen, die so nun auch wieder nicht existierte. Alles nur wegen dieser Berlinerin. Dass Frauen auch immer so tun mussten, als wären sie engste Verbündete, um sich bei passender Gelegenheit zu benehmen, als wären sie die ärgsten Konkurrentinnen. Sascha schüttelte den Kopf und konnte Daniela gerade noch hinterherwinken, so schnell war sie wieder davon.
Sascha führte Mira bis ans Ende der Fußgängerzone, was dennoch alles andere als eine weite Strecke war, bis zu einem ganz besonderen Ort, der Alten Saline. Auf dem weitläufigen Vorplatz befand sich eine der schönsten Café-Terrassen von Bad Reichenhall. Sie warfen erst einen Blick ins Innere des Lokals, in einen hohen rechteckigen Raum mit offenem Holzdachstuhl und einer modern wirkenden Gestaltung des Innenraums. Es war wie ein Loft, eine Fabrikhalle oder eben ein Industriebau, chic und edel ausgebaut. Aber alle wollten heute draußen sitzen, im Park vor dieser historischen Kulisse, und mit Mühe fanden sie noch einen freien Tisch. Hier saßen sie direkt unter der Burg Gruttenstein und hatten den besten Blick auf die »Grande Dame der Alpen«, die mittlerweile älteste Kabinenseilbahn der Welt, die immer noch wie eh und je im Halbstundentakt auf den Predigtstuhl hinaufschwebte. Mit diesem Ausblick nahmen sie ihr Glas frisches Birnenmark, aufgefüllt mit Prosecco, ein, und das war dem Ort, dem herrlichen Frühlingstag und ihrer Begegnung angemessen, fand Sascha. Nur schade, dass er Ulli sein Honorar nicht als Vorschuss abgeknöpft hatte, sonst hätte er Mira zu Birnenmark, aufgefüllt mit Moët & Chandon Brut Impérial, einladen können. Das wagte er jedoch ohne aufgefüllte Brieftasche nicht, denn wie viel die Kreditkarte noch hergab, war ungeklärt, und Anschreiben gelang hier nicht immer. Da folgte er in diesem Fall lieber einem alten CDU-Wahlkampfslogan, den seine Großtante Paulina gern zitierte: »Nur keine Experimente«.
»Eigentlich ganz schnieke hier.« Mira ließ den Blick schweifen. »Ist ja lustig, dass auf den Bergen überall Häuser obendrauf sind«, sagte die Berlinerin und zeigte zur Bergstation auf dem Predigtstuhl und dann zum Reichenhaller Haus auf dem Hochstaufen. »Fährt da keine Bahn hoch?«, fragte sie.
»Nein, auf den Staufen muss man zu Fuß raufgehen, da gibt es keine Seilbahn.«
»Meinst du, ich könnte das auch?«, fragte Mira.
Sascha ließ die Sonnenbrille den Nasenrücken herabgleiten und sah seine Patientin an. »Müsstest du können«, befand er.
»Muss man da nicht sehr sportlich sein?«
»Na ja, ein bisschen schon.«
»Ich bin aber nicht sportlich. Im Gegensatz zu dir, so wie es aussieht.« Mira musterte seine Muskulatur unter dem Poloshirt und seinen Bizeps, den Sascha unwillkürlich anspannte. Mira grinste. »Du siehst ziemlich gut trainiert aus. «
»Im Moment mache ich nicht mehr so viel.«
»Und was hast du gemacht?«
»Du meinst früher, als ich noch jung war? Da habe ich Biathlon gemacht.«
»Und was ist das?«, fragte Mira.
Sascha sah sie an. »Ist das dein Ernst? Du weißt das wirklich nicht?«
»Nein, sonst würde ich wohl kaum fragen.«
»Also, pass auf. Biathlon ist eine Wintersportart, also auf Schnee. Eine Kombination aus Skilanglauf und Schießen.«
»Komische Kombination, oder?«
»Tja, vielleicht komisch, aber sehr spannend, gerade wegen dieser Verbindung.«
Sie sah ihn verständnislos an.
»Na, es ist so: Beim Laufen gibst du alles, um der Schnellste zu sein. Du verausgabst dich, gehst bis an die körperlichen Grenzen. Wenn du dann zum Schießstand kommst, musst du komplett runterfahren, Puls, Atmung, Herzschlag, alles runter, nicht auf null, aber eben möglichst nahe am Ruhepuls. Und dann volle Konzentration, sonst hast du keine Chance, irgendwas zu treffen.«
»Und womit schießt ihr?«
»Mit einem Gewehr auf eine Schießscheibe.« Falls das ihre Frage gewesen war. Sascha sagte lieber nichts über die Munition, solange sie nicht explizit fragte. Viele Leute dachten, beim Biathlon würde man mit Platzpatronen schießen. Tatsächlich schoss man aber mit echter, scharfer Munition.
»Und warst du gut?«, fragte Mira.
»Ich war ganz passabel. Ein guter Schütze, einer der besten sogar. Aber das ist schon länger her.«
»Hast du aufgehört, weil du zu alt dafür warst?«
»So ungefähr.« Wenn Mira schon keine Vorstellung davon hatte, was Biathlon war, konnte Sascha sie auch mit den Details der Geschichte von damals verschonen. Da hatte er sie aber unterschätzt.
»So ungefähr? Denkst du, nur weil ich nicht weiß, dass man beim Biathlon in den Schnee schießt, verstehe ich sonst auch nicht viel? Nein, nein, das möchte ich jetzt schon genauer wissen. Du hast mich neugierig gemacht, also raus mit der Sprache.«
Sascha atmete einmal tief durch. So toll war die Geschichte nun wirklich nicht. »Na gut, es war nicht nur das Alter. Wenn ich den Unfall nicht gehabt hätte, würde ich vielleicht heute noch für Deutschland laufen. Ich habe mich beim Training ziemlich schwer am Knie verletzt. Wir haben Fußball gespielt, und mein Trainer ist beim Versuch, mich zu decken, in mich reingelaufen. Pech gehabt. Als ich nach einem Jahr noch nicht wieder gut genug war, bin ich aus dem Kader geflogen. Und ohne Kader konnte ich mir das Training, die Reisen und Wettkämpfe nicht mehr leisten, also war es das Ende meiner Karriere als Spitzensportler.«
»Ach, dann hattest du also auch eine Art Zusammenbruch, so wie ich?« Sie strahlte Sascha an, der sich darüber allerdings nicht so richtig freuen konnte. »Na gut, du warst nicht in der Psychiatrie, aber du wurdest auch aus deinem gewohnten Leben rauskatapultiert. Das meinte ich.«
Sascha ließ das mal so stehen, auch wenn er das bislang nicht so gesehen hatte.
»Was ist das eigentlich für ein altes Gemäuer hier, vor dem wir sitzen?«, fragte Mira jetzt.
»Das ist die Alte Saline«, sagte Sascha. »Hier wurde früher Salz gewonnen. Heute kommt es allerdings aus der Neuen Saline. Das berühmte Bad Reichenhaller Alpensalz, blaues Päckchen mit weißer Raute, kennst du vielleicht, wenn du nicht in Wirklichkeit von einem anderen Stern, zum Beispiel aus Beteigeuze, stammst.« Wenn jemand kein Biathlon kannte, kannte er vielleicht auch kein Reichenhaller Markensalz und wahrscheinlich auch nicht Beteigeuze. Aber Mira überraschte ihn schon wieder.
»Ich weiß sogar, in welchem Sternbild Beteigeuze liegt, nämlich im Orion. Das hättest du jetzt nicht gedacht, stimmt’s?«, sagte Mira, bevor eine andere Sache ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.
Über den Hof vor dem Salinengebäude kam eine Gruppe von Menschen in bunten Gewändern, jüngere, ältere, vor allem Frauen, aber auch ein paar Männer, die sich um einen weiß gelockten Mann scharten, der erzählte und gestikulierte, während die anderen sich aufs Zuhören verlegt hatten. Der geborene Anführer oder der »Guru«, wie Sascha ihn für sich nannte.
»Ein schöner Mann«, bemerkte Mira.
»Findest du?«, fragte Sascha und wunderte sich kaum. Alle Frauen fanden den Guru anziehend. Dagegen war nichts zu machen. »Aber ganz schön alt.«
»Er wirkt irgendwie vergeistigt.«
»Charismatisch«, sagte Sascha.
»Stimmt.« Mira nickte. »Wer ist er, kennst du ihn?«
»Ein Künstler. Er leitet Malklassen an der Bad Reichenhaller Kunstakademie. Und er ist ihr Häuptling.«
»Ihr habt eine Kunstakademie in Bad Reichenhall?«
»Und eine Philharmonie. Also ein ganzes Orchester. Übrigens das einzige Berufsorchester in Oberbayern außerhalb von München.«
Mira staunte hinter ihrer riesigen Sonnenbrille, hakte aber noch einmal beim Häuptling nach. So einfach ließ sie sich nicht von Sascha ablenken.
»Du kennst diesen Künstler oder Kunstprofessor also?«
Sascha nickte.
»Er könnte dein Vater sein«, sagte sie. Sascha schwieg. »Er sieht dir sogar ein wenig ähnlich. Aber das kann nicht sein, oder?«
Sascha zuckte die Achseln. Nein, er würde Mira jetzt nicht sagen, dass sie einen Volltreffer gelandet hatte und der Kunstprofessor Robert Zorn in der Tat sein leiblicher Vater war, der in München und Berlin lebte und nur für einige Wochen im Jahr nach Bad Reichenhall an die Akademie kam, um einen Kurs zu halten. Jedes Jahr gab es dafür Wartelisten, denn die meisten seiner Schüler meldeten sich sofort wieder für den nächsten Kurs an, und so wurden immer nur wenige Plätze für das folgende Jahr frei. Die diesjährige Gruppe folgte ihm jetzt wie die Küken der Entenmutter über die Straße. Seine Mutter war auch einmal so ein Küken gewesen.
Als die Gruppe an der Terrasse des Cafés vorbeizog, sah der Guru in Saschas Richtung und nickte ihm zu. Nicht überschwänglich oder herzlich, eher neutral, als sei Sascha einer seiner Ex-Schüler, der schon lange nicht mehr bei ihm war, an den er sich aber immer noch flüchtig erinnerte. Nicht als Individuum, sondern als Kunstaspirant und Schöpfer von Gemälden oder Skulpturen, die entweder misslungen oder vielleicht auch gelungen waren, dem Meister aber keinesfalls das Wasser reichen konnten.
»Er wirkt sehr interessant«, stellte Mira fest. »Vielleicht könnte ich einen Kurs bei ihm besuchen?«
»Ja, vielleicht«, sagte Sascha etwas angesäuert.
»Ich habe leider eine Schwäche für dominante Vaterfiguren«, gab Mira zu. »Einen von ihnen habe ich sogar geheiratet.«
Sascha liebte die Russen. Ganz besonders liebte er Tschechow und Dostojewski. Nur dass der leidenschaftliche, aber natürlich glücklose Spieler Dostojewski in seinem berühmten Roman Der Spieler geschrieben hatte, dass es am Roulettetisch viel Pöbel gäbe und er auch die Croupiers dazuzählte, das verzieh Sascha ihm nie. Dabei hatte es das Automatenspiel, das manche Leute für vulgär hielten, damals noch nicht einmal gegeben. In der Bad Reichenhaller Spielbank herrschte zwar kein Sakkozwang, aber gepflegte Kleidung war erwünscht, und die meisten hielten sich daran. Im Großen und Ganzen sogar die Automatenspieler. Wobei einer von ihnen, Stammgast Rainer, Sascha einmal gesagt hatte, es sei schon eine seltene Idiotie, dass er sich extra schön anziehen müsse, um sein Geld im Casino zu verjuckeln.
Als Sascha seine Spätschicht antrat, hatte er, wie immer, wenn er zum Dienst erschien, mit dem anthrazitfarbenen Anzug, dem weißen Hemd und der schmalen Krawatte seine Uniform angelegt und war ein anderer geworden. Eine Instanz. In dieser Rolle gefiel Sascha sich. Sie machte ihn unberührbar.
Er löste zuerst den Kollegen am Black Jack ab, danach wechselte er zum Roulette. Drei, vier Spieler befanden sich am Tisch, keiner sprach ein Wort. Ein älterer Typ Mitte sechzig, stand rechts neben ihm, blauer Anzug, hellblaues Hemd, grauer Kurzhaarschnitt, keine Krawatte. Brillenfassung silberfarben, wache hellblaue Augen, steile Stirnfalten. Ein Denker. Er stand da mit verschränkten Armen und sah Sascha auf die Finger, genauer, auf die Finger seiner rechten Hand, mit denen er die Kugel in den oberen Rand des Roulettekessels schoss. Eine, zwei Runden, und rien ne va plus . Für die Nicht-Sprachkundigen: »Nichts geht mehr.« Der Mann im stahlblauen Anzug beobachtete nur, er spielte nicht. Seine Jetons, wenn er überhaupt welche hatte, bewahrte er in den Sakkotaschen auf. Was wollte der Mann? War er vom Finanzamt oder von der Spielbankaufsicht? Lag irgendetwas gegen ihn, Sascha, vor, stand er unter Verdacht? Blödsinn, dachte er, das müsste ich doch selbst am besten wissen, wenn ich mir etwas geleistet hätte, was nicht korrekt ist. Da war aber nichts. Rien .
Zwei Frauen betraten den Saal, in dem Kleines und Großes Spiel ohne Trennung gespielt wurde. High Heels mit zehn Zentimetern plus, die Stilettos der Blondine metallisch glänzend, enge schwarze Lederhose, Bluse mit Durchblick, Blazer mit Schößchen über dem wohlgeformten Hintern. Die Blicke aller Männer wanderten zu den vielfachen Highlights dieser Erscheinung, selbst von denen, die vorgaben, nicht hinzusehen. Auch von den vierundsechzig Kameras der Staatlichen Lotterieverwaltung, die sich inner- und außerhalb der Bad Reichenhaller Spielbank befanden, waren mit Sicherheit einige auf sie gerichtet. Ihre brünette Freundin hätte Jetons vom Spieltisch klauen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre, so sehr war die Aufmerksamkeit der Anwesenden fokussiert. Mit Ausnahme von Sascha, denn er war hier der Profi. Die beiden Frauen nicht unbedingt. Die Blonde spielte entweder Rot oder Schwarz und einmal ihre Glückszahl. Das war die 18. Dann setzte sie wieder auf Rot oder Schwarz. Ihre Freundin spielte variabler, ein paar Mal Colonne, also eine der drei Zwölferreihen. Sie hatte damit etwas mehr Glück, machte aber nur kleine Gewinne. Dann spielte sie Carré auf vier Zahlen, schließlich sogar eine Transversale auf drei Zahlen: 19, 20 und 21. Sie spielten beide nicht auf Ex, sondern behielten einen Grundstock an Jetons und flatterten damit bald an die Bar. Die blonde lange Mähne schimmerte im Halbdunkel wie eine Goldader im Fels. Währenddessen stand der Blaumann immer noch da, mit einem Blick kalt wie eine Hundeschnauze, und fixierte den Kessel und Saschas Einwurf der Kugel. Auch der Saalchef war auf ihn aufmerksam geworden.
In Las Vegas hatte es in den Siebzigerjahren einen Mathematikprofessor gegeben, der auf die Idee gekommen war, in den Weihnachtsferien mit seiner Frau ins Casino zu gehen und dort ein bisschen zu spielen. Zum Vergnügen. Als Mathematiker erkannte er schnell, dass alle todsicheren Systeme, sämtliche Methoden der Spieler, die er dort beobachtete, völliger Blödsinn waren. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance, gegen das Casino zu gewinnen. Dann ging er nach Hause und setzte sich an seinen Schreibtisch, um zu rechnen. Zusammen mit seinem besten Kumpel, einem späteren Nobelpreisträger, errechnete er ein System, um das Roulette zu knacken. Die beiden fütterten einen aus heutiger Sicht vorsintflutlichen Computer mit ihren beobachteten und ermittelten Daten und erschienen dann mit ihrem Rechner, dem ersten tragbaren der Welt, erneut im Casino. Die Überraschung gelang, man unterschätzte die beiden Herren und ihre Rechenmaschine und ließ sie herein. Keiner ahnte, dass ihr System tatsächlich Erfolg haben würde. Sie mussten dafür mehrere Faktoren kennen: das Wurfverhalten des Croupiers, die Zahl der Runden, die die Kugel lief, bevor sie sich auf eine Zahl legte, sowie die geschätzte Geschwindigkeit der Kugel in der ersten Runde des fast widerstandslosen Laufs. Wenn sie dann noch die Möglichkeit rechnerisch einkalkulierten, dass die Kugel springen konnte, bevor sie landete, kamen sie bzw. ihr Computer auf eine erstaunliche Quote bei der Vorhersage, auf welcher Zahl die Kugel liegen bleiben würde. Plus minus zwei bis drei Zahlen nach rechts oder links. Noch genauer ging es nicht, aber das war doch schon ziemlich präzise.
Die beiden Amerikaner gewannen enorme Summen mit ihrer reinen Mathematik. Dann schlug das Casino allerdings zurück und verbot das Mitbringen von Computern in die Spielbank. Thorp, der Mathematiker, musste sich fortan falsche Bärte ankleben für seine Casinobesuche, um nicht sofort abgewiesen zu werden. Und irgendwann kam er nirgendwo mehr rein. Aber er schrieb ein Buch über seine Methode, und das wurde immerhin ein Bestseller.
Bestimmt hatte das grauhaarige Pokerface dieses Buch auch gelesen. Er beobachtete Sascha jetzt schon einige Runden lang. Der Saalchef wiederum beobachtete ihn, reglos, wie eine Gottesanbeterin. Er war bestimmt nicht nur zum Zuschauen gekommen.
Als ein Kollege Sascha am Roulette ablöste, ging der Kerl an die Bar, bestellte sich ein Bier und machte sich Notizen. Von dort beobachtete er Saschas Rückkehr zum Roulette, wartete noch drei Runden, dann kam er an den Tisch und spielte. Wie erwartet setzte er auf einen Oktanten, ein Achtelstück des Rouletterades. Jeweils ein kleiner Chip, nur ein Probelauf. Die Kugel blieb auf der 17 schwarz liegen. Er hatte gewonnen. Die Quote war 35:1, wobei der Spieler seinen Einsatz für die acht falschen Zahlen noch abrechnen musste. 35 minus 8, das war zu verschmerzen. Auch beim zweiten Mal gewann er, da hatte er schon das Doppelte des Mindesteinsatzes gesetzt. Beim dritten Mal verlor er und beim vierten Mal gewann er wieder. Dann wurde Sascha ein zweites Mal abgelöst und kam in dieser Nacht nicht mehr an den Roulettetisch zurück. Der Gewinner des Abends gab gutes Trinkgeld in den Tronc. Sascha und seine Kollegen würden ihren Anteil davon bekommen. Nur das Casino konnte nicht so richtig zufrieden sein. Denn es hatte mehr als üblich verloren. Sascha traf keine Schuld. Jeder Croupier hatte seine spezifische Handschrift, das war bekannt. Aber die allerwenigsten konnten sie lesen. Der Mann im blauen Anzug konnte es. Auch ohne Computer.