11 Königin Pavionnes Forderung

Offenbar hast du einen sehr guten Eindruck auf die Natintje-Königin gemacht«, sagte Khara. Vier Tage waren vergangen seit meiner Begegnung mit Königin Pavionne. Nun hatten wir uns wieder in Kharas Zelt versammelt: Renzo, Dog, Tobble, Gambler, Maxyn und ich. Sabito hockte auf der Lehne eines Klappstuhls im Eingang des Zeltes. Wie die meisten Raptidons mied er geschlossene Räume.

Während der kurzen Zeit unserer Abwesenheit war die Friedensarmee westwärts am Telarno entlang weitergezogen und hatte versucht, neue Freiwillige zu werben. Überall längs der Route hatte sich einfaches Volk – Menschen zumeist, hier und da aber auch Felijagas und Raptidons – der Friedensarmee angeschlossen. Delgaroth hatte uns zu der Stelle zurückgebracht, wo wir ihn getroffen hatten, und uns mit Geschenken für Khara überhäuft.

Khara hielt einen wuchtigen Pokal hoch. »Der Becher hier ist aus purem Gold und besetzt mit Juwelen.«

Renzo hob den Zeigefinger. »Da, wo der herkommt, gibt es noch viel mehr.« Er breitete seinen Umhang aus und leerte einen großen Sack darauf aus. Da glitzerten Juwelen grün, hellblau, dunkelrot und leuchtend rosa.

Khara atmete hörbar ein. Selbst Gambler schnaubte ungläubig.

»Diese Steine reichen aus, um unsere Armee über Monate hin zu ernähren und auszurüsten«, sagte Khara.

Ich nickte. »Genau das hat die Königin auch gesagt.«

»Der Schild ist sehr gut angekommen.« Renzo fuhr liebevoll über einen außergewöhnlich großen blauen Stein. »Und die Krone hat Pavionne besonders gut gefallen.«

»Pavionne?«, wiederholte Khara, wobei sie Renzo stirnrunzelnd ansah.

»Königin Pavionne«, korrigierte sich Renzo.

»Verglichen mit alldem hier waren unsere Geschenke nur Plunder«, sagte Khara. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Ich nehme also an, dass sie unseren Plan unterstützt?«

Ich nickte. »Als Gegenleistung hätte sie gern Eisen, Töpferwaren aus Nedarra und zwei kleine Inseln in der Bucht südlich von Saguria.«

»Das ist so gut wie nichts.« Khara machte schmale Augen. »Da muss doch noch mehr sein.«

»So ist es.« Ich erhob mich und ging in die Mitte des Zelts. Ich wusste nicht, warum. Es schien mir passend in meiner Rolle als Botschafterin und erst recht für das, was ich zu sagen hatte.

»Es ist ein bisschen kompliziert«, begann ich. »Tobble und Renzo werden mir helfen, wenn meine Erinnerung versagt.«

Khara nickte und ermutigte mich mit einem Lächeln.

»Wie ihr wisst, war es lange ein Rätsel, wie die Natintjes über weite Strecken hinweg und fast sofort miteinander kommunizieren können. Wie kommt es, dass die Natintjes im Meer von Chrisherna scheinbar sofort Bescheid wissen, ob ein Mensch im weit entfernten Bossyp die Gebühr bezahlt hat, die von den Natintjes für jede Fahrt auf dem Meer erhoben wird? Wie gelingt es ihnen, sich untereinander zu verständigen? Wie können sie wissen, was ein weit entfernter Artgenosse weiß, einer, den sie überhaupt nicht kennen?«

»Ich sag nur so viel«, warf Gambler ein, »falls es Magie ist, dann jedenfalls eine, die weder von Mensch, Felijaga, Raptidon oder Terra-Olm je praktiziert wurde. Während meines Aufenthalts auf der Insel der Gelehrten war diese Fähigkeit zu kommunizieren eins der Rätsel, die ich studiert habe. Die Natintjes dort haben nichts preisgegeben.«

»Es ist keine Magie«, sagte Renzo rundheraus. »Ich hab gesehen, wie sie es gemacht haben. Wäre Magie im Spiel gewesen, hätte ich das gemerkt.«

»Was gesehen?«, fragte Khara. »Was gemacht? Von wem?«

»Wale«, sagte ich.

Khara zog die Brauen hoch. »Wale?«

»Wale«, wiederholte ich. »Seeleute wissen, dass Wale Töne von sich geben.«

»Oh ja, wirklich!«, rief Tobble aus. »Sie singen! Und was für ein Klang das ist!«

»Ein Klang«, fuhr ich fort, »der sich im Wasser völlig anders verhält als in der Luft. Im Wasser sind die Gesänge der Wale nicht nur aus der Nähe zu hören, sie klingen über Hunderte Meilen hin.«

Khara lachte schrill auf. »Soll ich etwa glauben, dass die Natintjes sich mit Walen verständigen können? Natintjes gehören zu den großen herrschenden Arten. Wale sind … sind nun mal nur Tiere.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keinerlei Unaufrichtigkeit der Königin erkannt, als sie sagte … nun, als sie uns etwas erzählte, das du schwer wirst glauben können.«

»Sprich weiter«, sagte Khara.

»Natintjes sind Wale«, fing ich an. »Und Wale sind Natintjes. Ich will nicht sagen, dass sie exakt das Gleiche sind, aber für die Natintjes sind Wale enge Verwandte. Familie eben. Sie nennen die Wale Brüder und Schwestern, Väter und Mütter. Die Natintjes glauben, sie stammen von Walen ab. Sie glauben, dass sich über lange, lange Zeit hinweg einige Wale verändert haben, und zwar so sehr, dass sie keine echten Wale mehr waren, sondern etwas völlig Neues: Natintjes.«

Ich legte eine Pause ein und holte Luft. Wer hätte gedacht, dass man als Botschafterin so viel reden musste? Khara saß unterdessen abwartend da. Aus ihrer Miene ließ sich nicht erkennen, ob sie skeptisch, verärgert oder fasziniert war.

»Da die Königin ahnte, dass wir das bezweifeln würden, führte sie es uns vor«, sprach ich weiter. »Sie bat mich, ein Wasserlebewesen zu nennen. Ich entschied mich für den Tintenfisch. Da fing die Königin an zu … singen, so könnte man es wohl bezeichnen. Es war ein kurzer Gesang, eine Art langsames auf und ab wogendes Vibrieren.« Ich machte eine kurze Pause. »Es verging kaum so viel Zeit, wie ein Haferfladen zum Backen braucht, da …«

»Ganz kurz nur«, unterbrach Tobble. »Bei Fladen muss man aufpassen, dass sie nicht zu lange backen.«

»Wie gesagt«, fuhr ich fort, »kaum so lange wie …«

»Drei Minuten auf der einen, nur eine Minute auf der andern Seite, sonst werden Fladen …« Tobble verstummte. »Äh, egal. Entschuldige die Unterbrechung. Das war unhöflich. Erzähl weiter.«

»In dieser kurzen Zeit also«, sagte ich, »tauchte ein kleiner Wal aus der Tiefe auf.«

»Falls du mit ›klein‹ sehr, sehr groß meinst«, ergänzte Renzo.

»Auf ein Kommando der Königin«, sagte ich, »klappte er seine Kiefer auseinander und zeigte uns im Innern seiner tiefen Mundhöhle einen großen, sehr verärgerten Tintenfisch.«

Khara saß regungslos da, und zwar gewiss nicht, weil sie meine Geschichte etwa nicht verstand, sondern im Gegenteil, weil sie sie verstand. Dieses Kommunikationsvermögen der Natintjes war eine Macht, die jede Fähigkeit der Menschen, Felijagas, Raptidons, Terra-Olme oder Dalkins übertraf. Sie ging weit über Magie hinaus.

Niemand rührte sich, während diese neue Realität in die Köpfe sickerte. Renzo, Tobble und ich hatten uns schon während unserer Rückreise auszumalen versucht, was diese Vorstellung für eine Bedeutung haben könnte. Wenn es den Natintjes tatsächlich möglich war, über weite Strecken zu kommunizieren, besaßen sie eine Macht, die der der Dalkins gleichkam. Eine Macht, die Tyrannen wie der Murdano und der Kazar Gs’drit fürchten würden.

Tyrannen fürchten nichts mehr als die Wahrheit. Und wenn nun die Wahrheit schnell und bei allen bekannt gemacht werden kann? Was dann?

Endlich ergriff Khara das Wort, ihre Stimme klang merkwürdig gedämpft. »Und was verlangt Königin Pavionne von mir?«

»Sie fordert für den Fall, dass du den Murdano besiegst, wenn du ihn denn besiegst, dass der nächste Herrscher sich einverstanden erklärt, bei allen Ratssitzungen die Anwesenheit eines Natintjes zuzulassen.«

Gambler rutschte unruhig hin und her. »Der dann der ganzen weiten Welt der Natintjes erzählt, was dieser neue Herrscher sagt und tut?«

»Ja«, sagte ich. »Was der nächste Herrscher sagt und tut, muss öffentlich und für alle Arten durchschaubar sein. Keine Geheimnisse. Das ist Königin Pavionnes Forderung.«

Khara nickte knapp. »Und als Gegenleistung?«

»Als Gegenleistung wird sie dafür sorgen, dass du immer genug Geld haben wirst, um Waffen oder Nahrung für deine Truppen zu kaufen. Außerdem wird sie verhindern, dass die Flotte des Murdano in Dreyland eindringt.«

Khara brauchte kein Wort zu sagen. Ich kannte ihre Antwort bereits.

Später, als die andern wieder zu ihren Zelten aufbrachen, bedeutete mir Khara zu bleiben. »Byx«, sagte sie, »ich möchte dir für deinen Einsatz danken. Du hast alles, was wir erhoffen konnten, zustande gebracht. Ich werde einen Boten schicken, um der Königin meine Entscheidung mitzuteilen.«

Dalkins werden natürlich nicht rot, aber verlegen können wir schon werden. Ich spürte eine Hitzewelle unter dem Fell im Gesicht. »Ich bin froh, dass es gut gegangen ist«, sagte ich. »Ich hatte so große Angst, ich würde dich … und uns alle … enttäuschen.«

»Das, meine Freundin, wird nie geschehen.« Khara klopfte mir auf den Rücken.

»Ich hoffe, du hast recht.«

Wir traten aus ihrem Zelt in die feuchte, kalte Luft hinaus. Kharas Wächterin, eine junge Frau, salutierte. »Unsere erste Herausforderung haben wir gemeistert, Byx«, sagte Khara. »Nun kommt der nächste Schritt. Wir werden ihn in den nächsten Tagen im Kriegsrat besprechen. Zuerst aber muss ich wissen: Bist du für neue Aufgaben bereit?«

Von Stolz über Kharas Lob erfüllt, fühlte ich mich in diesem Augenblick unbezwingbar.

»Bereit und willens«, erwiderte ich.

Erst später in der Nacht, als ich wach auf meinem Feldbett lag und zusah, wie der Mond die Äste in Schattenarme verwandelte, die nach mir zu greifen schienen, kamen meine Zweifel wieder hoch.

Ich war bereit zu helfen. Ich wollte meinen Beitrag leisten. Aber konnte ich es auch? Konnte ich erfüllen, worum Khara mich bitten würde?

In dieser Nacht, wie in vielen folgenden Nächten, musste ich lange auf den Schlaf warten. Meistens beruhigte mich Tobbles herzhaftes Schnarchen, doch in manchen Nächten wusste nur der stille Mond von meinen Ängsten.