12 Der Kriegsrat

Ich hatte noch nie an einem Kriegsrat teilgenommen. Bevor Khara davon gesprochen hatte, war mir das Wort »Kriegsrat« unbekannt gewesen. Und ganz sicher hatte ich nie damit gerechnet, an einem teilzunehmen.

Erst recht nicht, vor einem solchen Kriegsrat zu sprechen.

Aber da stand ich nun.

Sechs Tage nach unserer Rückkehr von Jaureggia versammelte sich der Rat auf einem freien Platz im Zentrum unseres Lagers. Kharas Generäle und oberste Ratgeber waren dabei, auch die blaue Bodick und General Varis, zusammen mit den anderen Verbündeten, die sich, bereits vor meiner Reise zu Königin Pavionne, unserer Armee angeschlossen hatten.

Mysenie Marrak, ein stiller vertrauenswürdiger Mann, war den weiten Weg aus den Gebieten südlich des Nullwalds gekommen und hatte eine Truppe von fünfhundert Bogenschützen mitgebracht, alle ausgerüstet mit großen, Respekt einflößenden Bögen.

Auch ein alter graubärtiger Verbündeter namens Feldrick war dabei, ein mutmaßlicher Verbrecher aus den Sümpfen von Therian. Er war für vogelfrei erklärt worden, weil er sich gegen die Soldaten des Murdano zur Wehr gesetzt hatte, als diese versuchten, sein ganzes Dorf niederzumetzeln. Feldrick hatte dreihundert Männer und Frauen mitgebracht, die sich »Sumpfkatzen« nannten und von denen die meisten geschickt ihre Äxte zu gebrauchen wussten.

Ein merkwürdiger Mann namens Woad, der mit hundert Kriegern von den westlichen Berghängen des Perriccigebirges gekommen war, hatte sich uns ebenfalls angeschlossen. Woad und seine Kämpfer trugen Lederwämse und komische spitze Schuhe. Woad war im Gesicht, an Hals und Schultern ganz mit schwarzen Tattoos bedeckt, was ihm das Aussehen eines Wesens zwischen Mensch und Felijaga geben sollte, doch Gambler zeigte sich entschieden unbeeindruckt.

Aus den Lüften war ein grün-roter Raptidon mit enormer Flügelspannweite zu uns gestoßen. Er hieß Stimball und war ein Berater von Rorid Kopfknacker, einem mächtigen Raptidonanführer.

Gambler, Renzo, Sabito, Tobble und Maxyn vervollständigten die Versammlung des Kriegsrats. Maxyn hatte sich so weit erholt, dass er ohne seine Krücke kurze Strecken gehen konnte, aber ich merkte ihm an, dass er noch immer große Schmerzen hatte.

Insgesamt waren es ungefähr zwei Dutzend Lebewesen, die im Kreis um einen im Freien aufgestellten Tisch standen. Dunkle Wolken türmten sich am Himmel, und die Temperatur sank, obwohl es erst Mittag war. Die Luft roch intensiv nach Regen.

Auf dem Tisch lag eine große, zerfledderte Karte, an den Ecken mit Steinen beschwert. Sie zeigte ganz Nedarra, dazu die südlichen Gebiete von Dreyland und ein Stückchen des weit entfernten Marsonien.

»Zu Beginn wird General Varis das Problem erläutern«, sagte Khara. »Danach will ich eure Ratschläge hören.« Sie glättete die Mitte der Karte. »Der weise Varis gibt zu bedenken, dass es in jedem Krieg erforderlich ist, das Land genau zu studieren. Flüsse, Berge, Küsten, Wälder: Über all das müssen wir Bescheid wissen. Bitte, General.«

Sie trat zurück, und der General mit dem grimmigen Gesicht trat vor. Sein zerschrammtes Schwert sah aus, als hätte es schon tausend Schlachten erlebt. Und vielleicht war es auch so.

»Im Norden trennt uns der Kamm des Sovogebirges von Dreyland«, begann er. »Wir wissen aber, dass sich der Kazar Gs’drit Terra-Olme untertan gemacht und sie gezwungen hat, einen großen Tunnel unter diesen Bergen zu graben. Er hat vor, diesen Tunnel zu öffnen und Stoßtruppen von Terra-Olmen über die Ebenen südlich von Zebara zu schicken, gefolgt von seiner Armee. Sie werden die Gegend verwüsten, Ernten vernichten, Dörfer niederbrennen, Menschen und Vieh töten. Danach werden sie zu den Perricci-Bergen vorstoßen, die zwischen ihnen und Saguria, der Hauptstadt des Murdano, liegen.«

Mit seinem dicken Zeigefinger zeichnete er die Route auf der Karte nach. Ich kannte die Geografie des Landes nicht annähernd so gut wie die meisten der andern, aber bis jetzt verstand ich alles.

»Von den Ebenen von Zebara aus haben die Dreyländer zwei Möglichkeiten. Sie können versuchen, die Perricci-Berge zu bewältigen und dann dem südlichen Rand der Grenze bis nach Saguria folgen. Oder sie können ihre Truppen, Menschen wie Terra-Olme, zur Küste schicken, was bedeutet, dass sie durch dichtes Waldgebiet marschieren und einen Fluss überqueren müssten. Diesen Weg aber wird der Murdano belagern. Es würde ein langer blutiger Kampf werden, bevor die Dreyländer Saguria erreichen könnten, geschweige denn, die Stadt einnehmen.«

Mir wurde auf einmal klar, dass ich nicht wusste, auf welcher Seite ich bei diesem Kampf stehen sollte. Natürlich war ich in Nedarra geboren. Aber dem mörderischen Murdano schuldete ich ganz gewiss nichts.

General Varis studierte die Karte und strich sich dabei über seinen roten Bart. »Ich glaube, wenn die Terra-Olme aus den Tunneln hervorbrechen, wird der Kazar seine Truppen über die Perricci-Berge schicken. Da der Murdano aber nichts von den Tunneln weiß, wird er weder die Ebenen von Zebara noch die Berge stark besetzt haben. Trotzdem würde es für die Dreyländer eine schwierige Überquerung bei kaltem Wetter bedeuten. Viele würden sterben an der Krankheit, die das Klettern in zu großer Höhe mit sich bringt.«

»Ah, davon habe ich schon gehört«, flüsterte Tobble mir ins Ohr.

Unwillkürlich bemerkte ich, wie Sabito und Stimball bei der bloßen Vorstellung, Höhe könnte jemanden krank machen, selbstgefällige Blicke tauschten.

Woad hörte ich zum ersten Mal sprechen, und er hatte eine erstaunlich hohe Stimme für einen so wild aussehenden Mann.

»Wir sind an große Höhen gewöhnt. Und die Perricci-Berge, die wir das Goldanvaan nennen, kennen wir wie die Gesichter unserer eigenen Kinder. Wie schwierig dieser Weg für die Dreyländer auch sein mag« – er schlug sich mit der Faust an die Brust –, »wir können ihn noch weit beschwerlicher für sie machen.«

Khara nickte. »Ich habe gehofft, dass du das anbieten würdest, Woad.«

»Vorher aber«, ergänzte Woad, »möchten wir unsere Kinder und alle andern, die nicht kämpfen können, an einen sicheren Ort bringen.«

»Natürlich.«

»Aber danach?« Er grinste, was bei seinen Tattoos und fehlenden Zähnen kein sehr beruhigender Anblick war. »Es wäre für uns, als gingen wir nach Hause. Das sind unsere Berge! Hier unten im Flachland werden wir ganz nervös.«

»Und wenn ich dir nun sage«, sprach Khara, »dass du in meinem Auftrag alles tun kannst, um die Perricci-Überquerung der Dreyländer zu verzögern, ohne sie anzugreifen?«

Woad lachte. »Ich würd’s zwar bedauern, dass ich nicht meine Axt in ein paar Dreyländerschädel pflanzen soll. Aber ehrlich gesagt ist es leichter, sie aufzuhalten, indem wir einfach Bäume fällen, Bäche umleiten und Erdrutsche auslösen. Blockierte Straßen und Wege werden ihnen das Leben schwer machen.«

Es war nur zu deutlich, dass Woad die Vorstellung gefiel. Er rieb sich sozusagen die Hände vor diebischer Freude.

»Auch wir sind bereit zu helfen«, sagte Stimball, der Raptidon. »Die Adler vom Gipfel des Gorkaberges, dem höchsten Berg der Perriccis, werden für dich die Augen am Himmel sein, Woad.«

»Ha!«, rief Woad aus. »Und nur zu froh werden wir über eure Hilfe sein, Freund Raptidon.«

Gambler räusperte sich.

»Ja, Gambler?«, forderte Khara ihn auf.

»Der Kazar Gs’drit ist ein Valtti, ein schurkischer Felijaga. Er ist hinterhältig. Ich denke, er wird eine zweite Angriffslinie aufbauen.«

»Das wäre nur klug«, sagte General Varis. »Die Armee des Murdano ist groß, aber nicht so groß, dass sie überall gleichzeitig sein kann. Und welche Armee kann schon Tausenden Terra-Olmen und gut ausgebildeten Soldaten standhalten?«

»Wenn die Natintje-Königin Wort hält und die Flotte des Murdano stoppt«, sagte Khara, während sie hin- und herging, »sichern wir über kurz oder lang den Dreyländern den Sieg. Wir tauschen den einen Tyrannen gegen einen andern aus. Und das ist nicht unser Ziel.«

Die blaue Bodick ergriff das Wort. »Sobald die Terra-Olme durch ihren Tunnel stoßen, werden sie sich wie eine Welle über das Flachland von Zebara ergießen.« Trotz ihres wilden Blicks war ihre Stimme sanft und beruhigend. »Wir tun unser Möglichstes, um sie aufzuhalten, dennoch werden Dutzende Dörfer, Tausende Gehöfte und Zehntausende unschuldiger Menschen auf Gedeih und Verderb den Terra-Olmen und dem Kazar ausgeliefert sein.«

»Um sie schon am Tunnel aufzuhalten«, sagte Khara, »müssten wir dort erst mal hinkommen – und das geht nicht so schnell.«

Minutenlang schwiegen alle. Wir starrten auf die Landkarte, als könnten wir durch pure Willensanstrengung eine Lösung erzwingen. Der Wind nahm zu, die Zelte um uns her flatterten wie Bettlaken an der Leine.

»Äh … ich bin nicht direkt ein General. Ich bin nur ein Dieb«, sagte Renzo. Er klang unsicher, fast zaghaft, was ganz und gar nicht zu ihm passte. »Aber könnten wir nicht eine kleinere Gruppe vorausschicken, um den Überfall der Terra-Olme wenigstens hinauszuzögern? Wenn wir ihr Vordringen bremsen, könnten sie nicht ganz so viel Unheil unter den unschuldigen Dorfbewohnern anrichten. Und sie hätten es dann noch eiliger, die Perriccis zu überqueren, wo Woads Leute ihr Weiterkommen abermals verzögern würden.«

»Mit meinen Leuten als Führer und Wachen«, antwortete Woad, »könnten wir vielleicht eine kleine Truppe in die Nähe der Tunnelausgänge bringen, aber bis die Soldaten an den richtigen Stellen sind, würden Wochen vergehen.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Sie würden sicherlich vor der Armee der Lady dort sein, aber nicht lange vor ihr.«

Renzo nickte langsam und seufzte.

Stimball wedelte mit dem Flügel. »Die Berge könnten wir Raptidons in dieser Zeit wohl überfliegen, aber Terra-Olme besiegen können wir nicht, auch nicht sie sonderlich lange aufhalten. Erfolgreich sind wir dann, wenn wir gemeinsam mit den Bodenbewohnern kämpfen. Aber allein?«

Tobble hob schüchtern eine Pfote, was allerdings niemand außer mir bemerkte.

»Könnten wir nicht die Leute anwerben, die dort in der Gegend wohnen?«, fragte Bodick.

General Varis zuckte mit den Schultern. »Bauern. Und mit welchen Waffen? Mistgabeln und Hacken? Gegen Terra-Olme und die Soldaten des Kazar?«

»Aber Bodick hat recht«, sagte Khara. »Wir brauchen Verstärkung.«

Tobble wedelte energischer mit der Pfote. Niemand schenkte ihm Beachtung, aber ich war nun doch neugierig. »Ja, Tobble?«, sagte ich.

»Ich, äh …« Er warf einen Blick in die Runde der Krieger und brachte keinen Ton heraus.

»Sprich nur, Tobble«, sagte Khara. »Bitte.«

»Und wenn … Raptidons Kämpfer über die Berge tragen würden?«, fragte Tobble, und seine übergroßen Ohren zitterten.

»Du traust uns zu viel zu«, sagte Sabito. »Du meinst, ein Raptidon kann jemanden von der Größe eines, sagen wir, eines Generals wie Varis tragen?«

Die ganze Versammlung brach in Gelächter aus, und ich dachte schon, Tobble würde nun wortlos aufgeben. Aber Sabitos Spott schien meinen kleinen Freund anzuspornen.

»Ja … das … das ist mir klar, gewiss könnt ihr keinen Menschen oder Felijaga tragen«, sagte Tobble. »Aber … also, und das meine ich jetzt nicht als Vorwurf … wir sind alle Freunde hier, und es tut mir leid, sollten meine Worte einen von euch vortrefflichen Raptidons kränken … aber … also, Wobbyks jedenfalls sind schon von Raptidons getragen worden. Und ich denke, die größten Raptidons könnten sogar einen Dalkin tragen.«

Wieder lachte Woad, doch Khara lachte nicht. »Was schlägst du vor, Tobble?«, fragte sie und beugte sich vor.

»Mylady, wir sind kleine Geschöpfe, wir Wobbyks, und werden oft gering geschätzt, weil wir nicht zu den großen Arten gehören. Aber du hast selber gesehen, dass wir, wenn wir wütend genug sind, sehr … nun ja, unhöflich sein können.«

Diesmal lachte Khara und ich auch.

»Unhöflich?«, echote sie. »Unhöflich? Ich habe dich in Aktion gesehen, mein Freund. Das Wort ›rasend‹ trifft es besser.«

»So stürmisch und erbittert Freund Tobble auch sein mag«, sagte Bodick, »er ist nur ein kleiner Wobbyk.«

Tobble drehte sich nach Bodick um. »Und wenn es fünfhundert von meiner Sorte wären?«

Woad fing an zu reden, doch Khara unterbrach ihn mit einer kleinen Handbewegung. »Fünfhundert? Wo sollen wir fünfhundert Wobbyks auftreiben, die bereit wären, ihr Leben zu riskieren?«

Tatsächlich hatte Tobble auch darauf eine Antwort.