Am späten Nachmittag tauchten wir aus Gazikos verwunschenem Wald auf und kamen in die unteren Ausläufer des westlichen Hochlands. Kaum spürten wir den Balsam schwacher Sonnenstrahlen auf unseren Köpfen, geschah zweierlei.
Erstens: Havoc schlug eine schnellere Gangart an, hob den Kopf und fiel in gleichmäßigen Trab, was ihm in der Düsternis dieses schrecklichen Waldes nicht möglich gewesen war.
Zweitens: Tobble und ich wurden augenblicklich hungrig.
»Ich bin am Verhungern!«, sagte Tobble.
»Havoc auch.« Ich lachte und zeigte auf einen freien Platz mit kurzem, sich allmählich braun verfärbendem Gras. »Er sieht schon seine Mahlzeit.«
Ich ließ Havoc galoppieren, und der Wind in meinem Fell war eine Wohltat. Meine Augen tränten vor Kälte, aber ich wusste, dass ich mich umso besser fühlen würde, je mehr Abstand wir zwischen uns und den Wald brachten.
Als Havoc die köstlichen Gräser erreicht hatte, stiegen wir ab. Tobbles Magen knurrte gewaltig, meiner winselte.
»Als ob unsere Bäuche miteinander reden wollten«, sagte Tobble und machte sich daran, unseren Proviant auszupacken.
»Es wird kalt werden heute Nacht, wenn wir kein Feuerholz finden«, sagte ich.
»Kein Grund zur Sorge. Wenn wir schnell reiten, kommen wir noch bis zum Rand des Lucabena-Waldes. Da finden wir genug für ein lustiges Feuerchen.«
Ich zuckte zusammen. »Schon wieder ein Wald?«
»Oh nein, Byx. Der ist ganz anders als dieser grausige Ort hinter uns. Du wirst sehen!«
Nachdem wir gegessen hatten, setzten wir unseren langen Tagesritt durch sanft gewelltes Hügelland fort. Mir tat mein Hinterteil so weh, dass ich, Feuerholz hin oder her, mehr als einmal vorschlug zu lagern, obwohl ein kühler Wind ging und ein Feuer höchst willkommen gewesen wäre. Meine Beine waren taub, und meine Finger hätten dem Gefühl nach ebenso gut Würstchen sein können.
»Ich könnte mir denken«, sagte Tobble, »dass uns die Raggler inzwischen entdeckt haben. Sie können ausgezeichnet sehen, weißt du, fast so scharf wie Raptidons.«
»Raggler?«
»Ja sicher, Raggler.« Dann, als er merkte, dass ich keine Ahnung hatte, was ein Raggler war, erklärte er: »Sie sind eine wunderbare Art. Gute Freunde der Wobbyks, schon immer. Wir tauschen und handeln mit ihnen. Einen Teil unseres Fisch- und Austernfangs gegen Honig und ihre kunstvollen Holzarbeiten, und natürlich weben sie die Netze, die wir zum Fischen brauchen, verstehst du, deshalb …«
Tobble verlor den Faden und hing seinen Erinnerungen nach.
Wir ritten weiter der untergehenden Sonne entgegen, frierend, aber voller Hoffnung. Die Dunkelheit brach herein, dichte Wolken ballten sich zusammen. Wieder fehlten uns die Sterne zur Orientierung.
»Mach dir keine Gedanken deswegen«, sagte Tobble. »Du wirst schon sehen.«
Ich musste nicht lange warten. Der Lucabena-Wald war kaum mehr als eine Viertelmeile entfernt. Zu meiner Überraschung begannen am Horizont violette und goldene Lichter zu funkeln wie farbenfrohe Spiegelbilder von Sternen.
Als wir noch näher kamen, trug die leichte Brise Fetzen von Musik heran. Ich hörte keine Worte, nur Musik, einen Klang wie von Bogenstrichen auf den unteren Saiten einer Viola.
Die Bäume, zwischen denen wir jetzt ritten, wiesen ein beachtliches Alter auf und waren von nicht geringer Größe, hatten aber nichts von der überwältigenden Düsternis von Gazikos unseligem Wald. Die Bäume standen in großen Abständen zueinander und ließen weite Zwischenräume frei. Die Lichter, die wir nun aus größerer Nähe sahen, hüpften über unseren Köpfen von Ast zu Ast wie große Eichhörnchen. Erst dachte ich, es wären Laternen, die sich bewegten. Aber bald erkannte ich, dass die Lichter tatsächlich die Raggler selbst waren, kleine stachlige Wesen, die einen sanften Schimmer ausstrahlten.
»Sie leuchten!«, rief ich.
»Natürlich leuchten sie«, sagte Tobble. »Warum meinst du, nennen wir sie Raggler?«
Das ergab keinen Sinn, war mir aber jetzt egal. Nach der Verdorbenheit von Gazikos Wald und dem langen kalten Ritt über das Hochland war mir, als käme ich nach Hause. Ich fühlte mich nicht nur sicher und geborgen, sondern sogar willkommen. Fast schien es mir, als könnte ich in meinem Kopf liebliche Stimmen hören, wortlos, doch verständlich und am wichtigsten: Es waren freundliche Stimmen.
»Scheint ein einladender Ort zu sein«, sagte ich, während ich zusah, wie ein Raggler von Ast zu Ast glitt.
»Natürlich.« Tobble lachte. »Kannst du ihre Grüße nicht hören?«
»Deine Ohren sind besser als meine, Tobble, aber richtige Begrüßungsworte habe ich tatsächlich noch nicht gehört.«
»Wirst du auch nicht. Raggler verständigen sich nicht mit Worten. Die Musik, die du hörst, ist nicht … Pass auf, probier mal was aus. Halt dir die Ohren zu.«
Ich tat, was er sagte. Es dauerte ein paar Sekunden, dann begriff ich. »Ich kann die Musik immer noch hören!«
»Ja«, sagte Tobble zufrieden. »Raggler erzeugen kein Geräusch, das mit den Ohren zu hören ist. Man hört sie im Kopf und im Herzen.«
»Toll! Ich wünschte, ich könnte mal einen aus der Nähe sehen.«
»Ja?«, sagte Tobble. »Dreh dich um.«
Auf Havocs Hinterteil stand leicht und lässig ein Lebewesen, halb so groß wie Tobble, das ein sanftes gelb-violett meliertes Leuchten verströmte.
»Ahhh!«, rief ich erstaunt.
Ich hörte Musik, spürte Musik und wusste auch ohne Worte, was sie bedeutete.
Frieden wünsche ich dir, Freundin.
Ich betrachtete das kleine Geschöpf genauer. Sein kompakter Körper war nicht mit Fell oder Federn bedeckt, sondern mit Stacheln, halb so lang wie die Finger eines Menschen. Und die Spitzen dieser Stacheln waren es, die leuchteten. Die Beine des Ragglers waren gekrümmt, seine Arme lang und dünn. Er besaß zwei riesengroße Augen, nicht unähnlich den Augen eines Wobbyks. Oben aus dem Kopf wuchs ihm zusätzlich ein Stiel, und an dessen Ende saß ein drittes Auge.
»Sei gegrüßt, Freund Raggler«, sagte Tobble. »Ich bin Tobble von den Wobbyks in Bossyp. Das ist meine Freundin Byx von den Dalkins.«
Da ich nicht wusste, wie ich das winzige Wesen sonst begrüßen sollte, streckte ich meine Hand aus.
»Nein!« sagte Tobble scharf. »Tut mir leid, Byx, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber es gibt einen Grund, weshalb Raggler so furchtlos und gastfreundlich sind, verstehst du. Ihre Haut und besonders ihre Stacheln sind giftig, und zwar für alle Arten, bis auf eine: Wobbyks. Nur ihre Fußsohlen kann man ohne Gefahr berühren. Die Raggler haben vor niemandem Angst, und das aus gutem Grund.«
Wir ritten tiefer in den Wald hinein, angezogen von der geheimnisvollen wortlosen Musik, die wir trotzdem verstanden: Hier entlang führt euer Weg.
Von Minute zu Minute wurden die Girlanden aus leuchtenden Ragglern in den Bäumen dichter. In den oberen Ästen saßen viele auf fantastischen Plattformen aus gewebtem Material, das aussah wie versteifte Fischernetze.
Auch auf dem Boden waren Raggler, etliche folgten uns mit ihren kurzen Beinen, so gut sie konnten. Manche griffen nach herabhängenden Ranken und schwangen sich flugs in die Äste hinauf. Andere kamen an Baumstämmen herabgerutscht, um uns in Augenschein zu nehmen und ihre Gastfreundschaft zu bekunden.
Ein leichter halbstündiger Ritt brachte uns schließlich zu einer dichten Gruppe von Bäumen, die so voll der possierlichen Wesen war, dass die ganze Stelle strahlte wie eine kleine eigenwillige Sonne.
»Ich glaube, diese Bäume hier nennen sie Herzbäume«, sagte Tobble. »Das Zentrum für alle Raggler.«
»Haben sie einen König oder eine Königin?«, fragte ich.
»Raggler?«, fragte Tobble verblüfft über meine Frage. »Nein, natürlich nicht. Sie regieren sich selbst.«
»Aber wie kann das sein? Wer entscheidet, was sie tun sollen?«
Tobble zog die Schultern hoch. »Es klappt eben. Alle Raggler gelten gleich viel. Bei einer Angelegenheit, die die ganze Art betrifft, verständigen sie sich, indem alle ihre unterschiedlichen Melodien singen, bis sich ein mehr und mehr übereinstimmender Klang herausbildet und sie allmählich zu einer völligen Harmonie finden. Alles lautlos natürlich.«
»Natürlich«, sagte ich, als wäre das ganz klar.
»Ich denke, sie wollen, dass wir hier anhalten«, sagte Tobble.
Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte in die funkelnden Bäume über mir. Hunderte Augenpaare starrten auf uns herab. Hunderte Stielaugen drehten sich in alle Richtungen.
»Hallo«, sagte ich.
Hallo, sangen die Raggler.
»Ist es euch recht, wenn wir hier unser Nachtlager aufschlagen?«, fragte Tobble.
Natürlich!, antworteten sie. Macht es euch bequem!
Eine einfache Aufforderung, doch nach allem, was wir durchgemacht hatten, eine so freundliche, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.