23 Warten auf die Raptidons

Zeit war jetzt kostbar.

Es beunruhigte mich, dass die Wobbyks den halben Tag damit zubrachten, ihre Kämpfer auszuwählen. Es machte mich nervös, dass sie für den Rest des Tages Reisevorbereitungen trafen. Und dass wir weitere zwei Tage brauchten, um von Bossyp bis zum Rand des Lucabena-Walds zu kommen, steigerte meine Unruhe noch.

Aber als wir dort endlich unser Lager aufgeschlagen hatten, sechshundertneun Wobbyks und ein Dalkin, entspannte ich mich ein wenig. Nun machte sich Dothram auf, um seine Artgenossen herbeizuholen.

»Ich müsste morgen früh zurück sein«, sagte Dothram. »Falls nicht, solltet ihr davon ausgehen, dass ich getötet wurde oder dass man Rorid seiner Herrschaft beraubt hat.«

»Leb wohl«, sagte ich, »und beeil dich!«

»Ich werde fliegen, so schnell der Wind es erlaubt«, gelobte Dothram. »Halte am Morgen Ausschau nach mir!«

Damit breitete er die Schwingen aus, schraubte sich himmelwärts, und sein Gefieder fing die rosa Strahlen der untergehenden Sonne auf.

Tobble war mit einigen der Ältesten gegangen, um mit den Ragglern zu sprechen. Er war so aufgekratzt, weil er Teil der Delegation war, dass ich fürchtete, er könnte vor Stolz platzen.

Trotzdem war es wunderbar, ihn so selbstbewusst zu sehen.

Ich verbrachte den Abend allein, aber nicht einsam. Am Rand eines kräftigen Lagerfeuers sitzend, lauschte ich Wobbykliedern, Wobbykgedichten und Wobbykerzählungen über große Wobbyks der Wobbykgeschichte. Als ich endlich in meinen Schlafsack kroch, hatte ich das Gefühl, ich könnte ein ganzes Geschichtswerk über die Art der Wobbyks schreiben.

Vielleicht lag es an all diesen Erzählungen, dass ich in der Nacht von Urmans Eibe träumte, dem Ort, an dem sich einst Menschen, Raptidons, Felijagas, Natintjes, Terra-Olme und Dalkins versammelt hatten, um eine Möglichkeit zu finden, wie man am besten zusammenleben könnte. Dort war es auch, wo sich die sechs großen Arten darauf verständigt hatten, die Welt aufzuteilen. Es schien immer eine weise und wunderbare Entscheidung gewesen zu sein, dieses Abkommen. Aber war es das wirklich? Hätten sie nicht eine Möglichkeit für alle Arten finden können, gleichberechtigt nebeneinander zu leben? Stattdessen hatten die Terra-Olme ihre eigenen Wege eingeschlagen, die Felijagas die ihren, und die Menschen hatten Staaten errichtet, die zu Gewaltherrschaften geworden waren.

Ganz besonders die Menschen schienen ein Bedürfnis zu haben, sich selbst als einzig in der Welt zu betrachten. Da sie abgeschottet von anderen Arten lebten, fiel es ihnen nicht schwer, andere zu verachten, mein Volk zu vernichten, die Felijagas einzuengen und sogar zu versuchen, die ganze Natur zu beherrschen.

Was die Wobbyks anging, so waren wir Dalkins allerdings auch nicht frei von Schuld. Meine Vorfahren hatten sich nie für sie eingesetzt. Seit Urzeiten waren Wobbyks übergangen worden – und oft genug mehr als nur übergangen.

Ob sich das je ändern würde? Khara würde tun, was sie konnte, aber ihr Ziel war es nicht zu herrschen. Sie wollte einfach nur den heraufziehenden Krieg stoppen und der Vernichtung der nichtmenschlichen Arten ein Ende machen. Die Lady von Nedarra hatte kein Interesse daran, eine Königin oder Kaiserin zu sein, so wenig wie ich eine Botschafterin sein wollte.

Ich erwachte mit der Sonne, sprang auf, sah zu den tief hängenden Wolken empor und hielt gespannt Ausschau nach Raptidons. Doch abgesehen von einer einzelnen Möwe war nichts Fliegendes am Himmel zu sehen.

Tobble hatte ich spätnachts zurückkommen gehört. Jetzt ächzte und stöhnte er in dem Schlafsack neben meinem.

»Sind sie gekommen?«, fragte er gähnend und sich streckend.

»Noch nicht. Aber sie werden kommen. Wie war euer Treffen mit den Ragglern?«

»Sehr gut, glaub ich.« Er grinste. »Und ich war der, der am meisten geredet hat.«

»Tatsächlich?«

Er zog die Schultern hoch. »Ja. Die Ältesten haben natürlich auch was gesagt. Aber als es um die große weite Welt ging und um den Einsatz der Streitkräfte, na ja, da kenne ich mich nun mal besser aus.«

»Du liebe Güte«, stichelte ich, »die Ältesten müssen ja sehr unwissend sein, dass sie dir gleich den Vortritt lassen.«

»Was? Aber … oh, ich verstehe, du machst dich über mich lustig.«

»Nur ein bisschen. Und nur liebevoll.«

Tobble lachte. »Na ja, wir sind inzwischen einen langen Weg miteinander gegangen, du und ich. Einen sehr langen Weg seit damals, als einer von uns ein halb ertrunkener Wobbyk und die andere ein verzweifelter Endling war.«

»Manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre zwanzig Jahre älter geworden«, gestand ich.

»Wenn das alles vorbei ist, können wir wieder Tobble und Byx sein, wie früher.«

»Können wir das?«

»Natürlich können wir das!«

Ich nickte, aber ich war skeptisch, ob Tobble recht hatte. Konnten wir wirklich wieder werden wie früher? Wenn der Kopf voll war mit neuen Erfahrungen, manche erschütternd und herzergreifend, konnte man dann so einfach in eine frühere Zeit zurück?

Elder Diggle und ein paar andere Wobbyks erschienen, während Tobble und ich in der Nähe des größten Lagerfeuers saßen und heißen Tee schlürften. »Guten Morgen, Botschafterin Byx und ehrenwerter Tobble. Habt ihr gut geschlafen?«

»Danke, ja«, sagte Tobble. »Wollt ihr mit uns Tee trinken?«

»Danke, nein, wir haben unseren Tee schon gehabt.« Nachdem so die notwendigen Höflichkeiten abseits des Wesentlichen ausgetauscht worden waren, kam Diggle zur Sache. »Also«, sagte er, »ich sehe keinen Himmel voll freundlicher Raptidons.«

»Nein«, stimmte ich zu. »Noch nicht.«

»Vielleicht haben sie entschieden, dass es doch sicherer sei, sich vom Kampf fernzuhalten.«

»Möglich, Elder Diggle, dass deine Sorgen begründet sind.« Ich gab meiner Stimme einen festen Ton. Diggle musste einsehen, dass jetzt nicht Zeit war zu verzweifeln. »Aber ich habe Lord Rorid kennengelernt und kann dir versichern, dass er sich nicht leicht Angst machen oder sich entmutigen lässt.«

Das beschwichtigte Diggle. Für eine Stunde. Für zwei Stunden. Aber als sich der Morgen hinzog, kamen selbst mir Bedenken. War Dothram getötet worden?

Wollten die Raptidons doch nicht an unserer Seite kämpfen? Hatten sie irgendeine schmutzige Abmachung hinter unserem Rücken getroffen?

Waren wir betrogen worden?

Ich befürchtete, dieser (mein zweiter) Auftrag könnte scheitern. Ich würde nichts erreicht haben. Zwar wusste ich, dass es lächerlich war, doch tatsächlich widerstrebte es mir mehr, Khara zu enttäuschen, als in die Schlacht zu ziehen.

Ich warf einen Blick über das Lager der Wobbyks. Was ich sah, war nicht ermutigend. Etliche Gesichter waren zum Himmel gerichtet auf der Suche nach Raptidons. Andere starrten zu mir herüber, finster, missmutig.

Kaum hatte ich mich umgedreht, sah ich schon wieder Diggle kommen. »Botschafterin Byx!«, sagte er, nun in scharfem Ton. »Ich will dir keinen Ärger bereiten, aber ich muss noch einmal sagen: Es scheint, als ob wir hier nur unsere Zeit verschwenden!«

»Elder Diggle, die Lage ist sehr unsicher, wie du weißt. Ich bitte dich inständig, gib uns noch ein paar Stunden …«

Ich unterbrach mich, weil Tobble meinen Arm gepackt hatte. »Was ist?«, fragte ich.

Tobble grinste nur und streckte den Arm aus. Eine merkwürdige dunkle, schnell heranziehende Wolke jagte über den Himmel.

Im ganzen Lager zeigten und winkten die Wobbyks. Es war ein bewegender Anblick. Als die Raptidons, die in großer Höhe geflogen waren, durch die trübe Luft herabstießen, um sich zu ihren tiefer fliegenden Artgenossen zu gesellen, wurde die kleine Wolke immer größer. Hunderte und Aberhunderte Raptidons erschienen: Falken, Habichte, Turrys, Fischadler, Eulen, Nutschen und Adler.

»Ich glaube, Elder Diggle«, sagte ich und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, »unser Transportunternehmen ist eingetroffen.«

Ich erwartete, dass Dothram die Formation anführen würde. Aber es war kein anderer als Rorid Kopfknacker selbst, der, umringt von einem halben Dutzend gefährlich aussehender purpurroter Habichte, an ihrer Spitze flog.

Noch nie hatte ich ihn in der Luft mit ausgebreiteten Schwingen gesehen. Seine Größe war atemberaubend, seine Flügelspannweite doppelt so lang wie ein großgewachsener Mensch. Er ließ sich langsam spiralförmig herab und landete auf der Spitze eines jungen Baumes, der sich unter seinem Gewicht bog. Tobble, Diggle und ich rannten zu ihm.

»Lord Rorid«, sagte ich und verbeugte mich tief.

»Byx von den Dalkins«, sagte Rorid mit seiner kratzigen rauen Stimme.

»Gestatte mir, dass ich dir Elder Diggle von den Wobbyks in Bossyp vorstelle«, sagte ich.

Diggle verbeugte sich. Rorid war kein Herrscher der Wobbyks, doch hatte er etwas so Majestätisches an sich, dass eine Verbeugung angemessen schien.

»Elder Diggle«, sagte Rorid nach den unvermeidlichen Wobbykbegrüßungen und Dankesbezeugungen und Komplimenten. »Sind deine Leute vorbereitet? Wir fliegen direkt in die Schlacht. Und es wird Nacht sein, bevor wir ankommen.«

»Die Wobbyks von Bossyp sind bereit«, sagte Diggle feierlich.

Ich atmete tief und langsam aus. Noch einmal war mir gelungen, worum Khara mich gebeten hatte.

Keiner jubelte. Keiner redete von künftigen Siegen. Die Wobbyks wollten genauso wenig in die Schlacht ziehen wie ich. Aber wie ich schon zu Maxyn gesagt hatte: Mutig sein heißt nicht, keine Angst zu haben.

Angst hatten wir alle.

Wir würden uns nur nicht von ihr überwältigen lassen.