1 Eine wirklich gute Frage

Mein Name ist Byx. Ich bin eine Dalkin.

Was ich nicht bin: eine große Jägerin.

Warum also habe ich mich bereit erklärt, mit meinen Freunden Gambler und Sabito auf die Jagd nach Eshwins zu gehen?

Gute Frage. Eine wirklich gute Frage.

»Kannst du sie riechen, Byx?«, fragte Gambler mit seiner heiseren Grummelstimme. »Deine Nase ist besser als meine.«

Gambler ist ein Felijaga, ein riesengroßes katzenartiges Geschöpf. Sein Fell ist schwarz und schimmernd wie Flussgestein, nur im Gesicht hat er weiße Streifen. Sabito, ein Raptidon, ist ein großer Raubvogel, der seine Flügel so weit spannen kann, wie Gambler lang ist.

Gambler ist schnell, und er hat Klauen und Zähne. Sabito ist schnell, und er hat Krallen und einen Schnabel.

Ich? Ich habe einen unbeholfenen Gang, seidiges weißes Fell und dazu Zähne, die nicht mal einem Kätzchen Angst einjagen würden.

Dafür besitzen Dalkins genau wie Hunde (mit denen wir mehr als nur eine flüchtige Ähnlichkeit haben) ziemlich feine Riechorgane.

»Ich habe ihre Witterung!«, rief ich von meinem hohen Sitz im Sattel auf Havoc. Vorsichtig balancierte mein silbrig gesprenkeltes Pferd über die überspülten Steine eines seichten Flusses. »Aber bei dem wechselnden Wind kann ich die Richtung nicht ausmachen.«

Ich musste mich mit ganzer Kraft festhalten, als Havoc am anderen Ufer die Böschung hinaufkletterte. Das Gelände lag flach und offen vor uns, in großen Abständen standen junge Bäume. Wir schlossen rasch zu Gambler auf, der vorausgelaufen war.

Felijagas beim Jagen zuzusehen ist faszinierend. Ihre Bewegungen gleichen weniger einem Rennen als einem Gleiten.

Sabito kam im Sturzflug herab und hielt sich wenige Meter über uns in der Schwebe. Er konnte für kurze Zeit in der Luft stehen, wenn er seine Flügel entsprechend ausrichtete und dabei die von der Erde aufsteigende Sonnenwärme nutzte.

»Sie sind direkt vor uns«, meldete Sabito. »Siehst du die Wiese da? Nun schau darüber hinaus bis zur Linie der hohen Zypressen dort.«

Wo mein Geruchssinn versagt hatte, waren seine Raptidonaugen erfolgreich gewesen. Wie scharf sind Raptidonaugen? Sabito könnte mit einem Blick über meine Schulter ein Buch lesen.

Aus dreihundert Metern Entfernung.

»Vielleicht, Freund Sabito«, sagte Gambler, »kannst du dich ihnen von hinten nähern und dich bereithalten, falls sie fliehen.«

»Ich glaube eher, sie haben vor, sich auf einen Kampf einzulassen«, entgegnete Sabito.

»Na schön«, meinte Gambler, »dann ist die Mahlzeit ja schon serviert.«

Es gab eine Zeit, da hatten Felijagas meinesgleichen gejagt. Das ist nicht mehr so. Trotzdem ist es schwierig, als Dalkin neben einem hungrigen Felijaga nicht doch eine leichte Beklemmung zu spüren.

Felijagaklauen sind wie Pfeilspitzen. Ihre Kiefer können Steine zermalmen. Gambler mag mein lieber und treuer Freund sein, aber er ist auch ein unbarmherziger effektiver Jäger.

Was mich wieder auf meine Frage bringt. Warum hatte ich mich freiwillig für diese Jagd gemeldet? War es Langeweile? Das Gefühl, dass ich zu nichts nutze war in der Friedensarmee? Das Bedürfnis zu beweisen, dass ich keine Angst hatte?

Aber ich hatte sehr wohl Angst. Ein Felijaga, ein Raptidon und ein Dalkin gegen zwölf hungrige frustrierte Eshwins. Die Chancen standen nicht gut für uns.

Eshwins sind sonderbare Geschöpfe, eine Art Kreuzung zwischen Wildschweinen und aufgedunsenen Ratten. Sie haben teuflische Hauer und zudem die Angewohnheit, über leichte Beute herzufallen: Junge, Kranke, Schwache. Und dieses Rudel hier hatte eine Familie von Flickschustern angegriffen, Menschen, die der Friedensarmee folgten.

Unsere Armee wird Friedensarmee genannt. Nicht Armee, die Eshwins ungestraft andere Lebewesen attackieren lässt. Wir waren gekommen, um die Eshwins zu verscheuchen. Wenn sie sich verscheuchen ließen.

Und wenn nicht? Tja dann: Gambler.

Havocs Hufe stampften, während er mit mir über eine ausgedehnte, von allmählich verblassenden Wildblumen gesprenkelte Wiese galoppierte. Das Gras reichte ihm bis an den Rücken, war also hoch genug, um einen geduckt lauernden Eshwin zu verbergen. Aber nichts, absolut nichts kann sich vor den Augen eines Raptidons verbergen.

»Vorsicht, Hinterhalt«, warnte Sabito. »Sie haben sich geteilt, sind jetzt links und rechts von euch und warten darauf, die Falle zu schließen, sobald ihr vorbeikommt.«

»Wir sind bereit«, sagte Gambler.

Er vielleicht. Ich nicht.

Ich griff fester nach Havocs Zügeln, als er jetzt sein Höchsttempo anschlug. Wind zerzauste mein Fell und wehte mir hundert Gerüche in die Nase, einschließlich des durchdringenden Gestanks nach Eshwins und des beißenden metallischen Geruchs meiner eigenen Angst.

»Ihr habt vier hinter euch und acht vorn bei der Baumreihe«, meldete Sabito. »Die vier hinter euch holen schnell auf!«

»Byx«, sagte Gambler mit einer auf unheimliche Art ruhigen Stimme, »könntest du mal eine kleine Verrücktheit machen?«

»Du meinst, so was wie auf diese Jagd zu gehen?«, fragte ich nach Luft schnappend.

»Würde es dir sehr viel ausmachen, von deinem Pferd zu fallen?«

»Ob ich … was

»Ich möchte, dass sie denken, du wärst hilflos.«

»Ich bin hilflos!«

»Da vorn, das dichte Polster Rispengras, das würde deinen Sturz abfedern.«

Gambler wollte mich als Köder benutzen. Es war das Einzige, wofür ich bei der Jagd taugte.

Wir alle haben Stärken und Schwächen und müssen beisteuern, was wir eben können. Das sagte ich mir wenigstens, während Havoc die Entfernung bis zu dem Grasbüschel schnell verringerte.

Ich machte mich bereit, indem ich den linken Fuß schon mal aus dem Steigbügel nahm.

Näher. Das Donnern von Hufen.

Näher.

Während ich mich über Havocs rechte Seite rollen ließ, hörte ich mich selbst aufschreien. Ich landete so hart auf dem Grasbüschel, dass es mir die Luft aus den Lungen drückte, aber das Gras und die pilzbestandenen Bodenwellen dämpften meinen Sturz, und ich konnte mich aufsetzen.

Gerade rechtzeitig, um direkt vor den Hauern eines wutschnaubenden Eshwins zu stehen.

Er kam mit gesenktem Kopf auf mich zu – ich würde ihm nicht ausweichen können.

Der Eshwin stürmte heran, schaumiger Speichel tropfte ihm aus dem Maul, grunzend stieß er seinen kehligen Triumphschrei aus – ARROOOT! – und schien es kaum erwarten zu können, mich mit seinen Hauern aufzuschlitzen.

»Neiiin!«, schrie ich, pures Grauen in der Stimme, den Gliedern, im Herzen.

Im selben Moment löste sich ein schwarzer Fleck aus dem Verborgenen, ausgestreckte Krallen, weit offenes Maul. Gambler schlug den Eshwin nieder. Drei Sekunden später war das Biest fertig zum Häuten und Braten.

Einer erledigt. Elf noch übrig.

Drei hielten sich immer noch hinter uns, rannten in voller Geschwindigkeit durch die Wiese. Wegen des hohen Grases konnten sie einander aber nicht sehen und hatten anscheinend nicht mitgekriegt, dass einer von ihnen schon tot war.

Sabito stürzte vom Himmel wie ein herabfallender Stern. Er spreizte seine Flügel, drosselte das Tempo und überwältigte einen der Eshwins, indem er seine Krallen in dessen Kopf versenkte.

Gambler seinerseits befasste sich mit den restlichen beiden hinter uns. Drei weitere Eshwins waren bereit für den Kochtopf.

Die acht, die zwischen den Bäumen versteckt waren, hatten in der Zwischenzeit den unklugen Entschluss gefasst, ihren bedrängten Rudelgenossen zu Hilfe zu kommen. Grunzend und quiekend bewegten sie sich in einem Pulk: eine Mauer aus stinkendem Fell, schimmernden Hauern und missgünstig schielenden roten Augen.

Eine Kreatur, so groß, dass sie mehr einem Pferd als einem Eshwin glich, war die Anführerin. Sie war alt, von vielen Kämpfen gezeichnet – Kämpfen, die sie vermutlich gewonnen hatte.

Ich sah, wie Gambler die Augen aufriss, was nicht sehr ermutigend wirkte. »Um die Anführerin kümmere ich mich«, sagte er, »aber du, Byx, du fliehst am besten.«

»Fliehen?«

»Ich kann nicht alle gleichzeitig erledigen. Lauf jetzt

Gambler drängte die riesenhafte Eshwinkönigin von den andern ab. Ihre Artgenossen liefen nach links und rechts auseinander, in der Absicht, uns einzukreisen, während ihre Anführerin mit Gambler kämpfte.

Havoc war in einem Bogen zu mir zurückgekommen. Ich griff nach den Zügeln und hievte mich in den Sattel. Der Rückweg – Rückzug – war klar.

Ich bin weder Jägerin, noch bin ich Soldatin, und am wenigsten bin ich heldenhaft. Alle Vernunft in mir pflichtete Gambler bei: Es war Zeit zu fliehen.

Aber Gambler war mein Freund.

Mehr als das, er war Familie.

Ich zog mein kleines Schwert und drängte Havoc vorwärts.