Früh am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg durch die sanft gewellten Ebenen von Nedarra: jeweils zu viert nebeneinander, fünftausend Mitglieder insgesamt, eine vor langen Lanzen strotzende Kolonne. Es war ein kühler klarer Tag mit strahlendem Sonnenschein. Hin und wieder fing sich ein Strahl in einem Helm oder Panzer und blendete mich mit seinem grellen Schein.
Vielleicht jeder Zehnte von uns war beritten. Die Übrigen, Menschen zumeist, marschierten mit längst wund gelaufenen Füßen. Obwohl schon viele Wochen unterwegs, waren wir immer noch guter Dinge.
Viele der Reiter und Reiterinnen in der Kolonne trugen entweder das Blau der Donatis oder das Orange der Corplis. Aber Khara hatte eine Reihe von Näherinnen gebeten, eine neue Uniform anzufertigen in Farben, die für das vereinte Nedarra stehen sollten. Sie selbst trug bereits das erste dieser Kleidungsstücke. Es war hellblau, mit einer in lebhaftem Grün gehaltenen Darstellung von Urmans Eibe, ebenjenes Baumes, unter dem vor vielen Jahren ein großer Friedenspakt zwischen den Arten beschlossen worden war.
Und doch war es nicht Kharas Uniformrock, der dafür sorgte, dass unsere Soldaten miteinander tuschelten und sich gegenseitig anstupsten. Es war das Schwert an ihrer Seite. Die berühmte, von magischen Kräften im Zaum gehaltene Waffe machte einen gewöhnlichen, wenn nicht gar schäbigen Eindruck – jedenfalls so lange sie nicht im Zorn gezogen wurde. Wenn das geschah, war ihre Stärke atemberaubend. Ein Blick auf dieses leuchtende Schwert machte deutlich, warum es Licht von Nedarra genannt wurde.
Nach einstündigem Ritt ließ ich Havoc traben, bis ich auf gleiche Höhe mit Khara kam. Ihr oberster General Varis lenkte höflich sein Pferd zur Seite, damit ich näher herankonnte. Varis, erst vor Kurzem zum General befördert, gehörte zur Familie der Corplis, den ehemaligen Feinden der Donatis, die jetzt aber Verbündete der Friedensarmee waren.
An Kharas anderer Seite ritt die blaue Bodick, eine Frau mittleren Alters, die in einer früheren Schlacht ein Ohr und ein Auge verloren hatte und in einer anderen drei Finger ihrer linken Hand. »Blau« wurde sie genannt, weil sie mit einem indigoblauen Tattoo in Form einer gewundenen Schlange eine grauenvolle Narbe auf der Wange überdeckt hatte.
Ich hatte sie allmählich schätzen gelernt. Sie war vielleicht nicht gerade jemand, den man zum Tee einladen würde. Aber sie war ganz sicher die Art von Kriegerin, die man sich in der Nähe wünschte, falls es zum Kampf käme.
»Wie fühlst du dich, Byx?«, fragte Khara.
»Ein bisschen unsicher, ehrlich gesagt.«
»Das musst du nicht. Ich habe volles Vertrauen in dich.«
Ich beschloss, das Thema zu wechseln. »Wie weit marschieren wir heute noch?«
»Wir werden um Erlaubnis bitten, ob wir unser Lager außerhalb des befestigten Dorfes am Fluss aufschlagen dürfen. Wir müssten vor Mittag dort sein.«
»Einer Armee können sie kaum die Erlaubnis zum Lagern verwehren«, entgegnete General Varis. Es klang wie eine Drohung. Doch eigentlich klang alles, was der große rothaarige Mann sagte, irgendwie drohend. Einmal war Tobble von General Varis höflich um einen Schluck aus seinem Wasserschlauch gebeten worden, da war der kleine Wobbyk fast in Ohnmacht gefallen.
»Stimmt schon, General«, sagte Khara. »Doch wie die Entscheidung der Einwohner auch ausfallen wird, wir müssen sie respektieren. Wir sind die Friedensarmee, und Frieden werden wir halten.«
»Außer natürlich, wir werden angegriffen«, wandte General Varis ein, und es hörte sich fast hoffnungsvoll an.
Khara nickte.
»Rechnet Ihr denn mit einem Angriff, General?«, fragte ich.
»Ich kann in Gegenwart eines Dalkins nicht lügen«, sagte er mit einer Spur von Lächeln. »Manche unserer Leute hätten schon ganz gern mal einen kleinen Kampf.«
Bodick tätschelte ihr Schwert. »Nur … verstehst du … um das tägliche Einerlei zu unterbrechen«, sagte sie.
»Hoffen wir, sie werden in diesem Punkt weiterhin enttäuscht«, sagte Khara. »Doch falls wir angegriffen werden, könnt ihr sicher sein, dass wir uns mit einem so heiligen Zorn verteidigen werden, dass keiner es noch mal mit uns aufnehmen wird.«
Manchmal hörte sich Khara sogar in meinen geübten Ohren fast so Furcht einflößend wie ihre Generäle an. Hatte sie sich auch so sehr verändert wie ich? Oder hatte sie ihr größeres Ich schon angenommen, die Rolle der Führerin, zu der sie bestimmt war?
Und was war ich nun geworden? Bestimmt nicht Byx, die Botschafterin, trotz Kharas Zuversicht.
Gambler kam mit Tobble auf dem Rücken angesprungen. Wie sich herausgestellt hatte, war es für Tobble angenehmer, auf Gambler zu reiten, als hinter mir auf Havoc. Und auch wenn sich Gambler dauernd darüber beschwerte, schien er doch Gefallen an Tobbles Gesellschaft zu haben.
»Wann halten wir zum Essen an?«, fragte Tobble mich. »Mein Frühstück war viel zu leicht. Von Schmetterlingen werde ich nie satt. Zu viel Flaumzeug.«
»Ich denke nicht, dass wir anhalten werden«, antwortete ich. »Siehst du dort in der Ferne das ummauerte Dorf am Telarno? Der Plan ist, dass wir dort außerhalb der Mauern unser Lager aufschlagen.«
»Keine Angst, Tobble«, sagte Khara lächelnd. »Es sind höchstens anderthalb Meilen.«
»Oh, Entschuldigung«, sagte Tobble, »mein Magen ist eben nicht so höflich wie mein Kopf. Er hört nicht auf zu grummeln.«
Ich musste lachen. Bei einem hungrigen Dalkin winselt der Magen. Grummeln kommt mir dagegen immer allzu … deutlich vor.
»Trotz all der Eshwins gestern hätte ich nichts gegen einen kleinen Imbiss einzuwenden«, sagte Gambler mit einem flüchtigen Blick über die Schulter zu Tobble. »Und zufällig habe ich ja ein leckeres Appetithäppchen auf meinem Rücken sitzen.«
»Auf deinem Rücken?« Tobble drehte sich suchend um, dann begriff er. »Oh, ich verstehe. Aber du machst natürlich nur Spaß«, sagte er und tätschelte Gamblers Flanke.
»Meinst du?«, fragte Gambler mit einem Glitzern in den hellblauen Augen.
»Gambler«, sagte Khara, »wir essen unsere Gefährten nicht.«
»Einverstanden«, sagte Gambler. »Falls sie uns nicht ärgern.«
Ich zwinkerte Gambler zu, und er lächelte zurück. Ein lächelnder Felijaga ist allerdings schwer zu unterscheiden von einem zähnefletschenden Felijaga – beides kann einen aus der Fassung bringen. »Also, ich wäre vorsichtig, Tobble«, warnte ich. »Gambler sieht tatsächlich ein bisschen hungrig aus.«
»Das ist nicht witzig, Byx«, sagte Tobble. »Überhaupt nicht. Lasst das alberne Gerede, ihr zwei.«
»Weißt du, Tobble, mich kann man ja vielleicht albern nennen, aber ich bin ziemlich sicher, dass Gambler noch nie so bezeichnet worden ist.«
»Albern«, wiederholte Gambler und verzog das Gesicht. »Allein dafür könnte ich dich schon fressen.«
Hinter uns begann ein Offizier ein Marschlied, um seine Soldaten bei gleichmäßigem Tempo zu halten. Sein rauer Bariton bestimmte die Gangart.
»Links – Links – Links, rechts, links.
Lang und spitz ist unser Speer,
Stark und mächtig unser Heer.
Unser Lied soll’n alle hören:
Wir wissen allzeit uns zu wehren!«
Inzwischen kannte ich diese Lieder gut, und manchmal sang ich sogar mit. Die Soldaten nannten sie Marschlieder. Die Verse waren oft humorvoll, aber ebenso oft kriegerisch.
Ich ertappte mich beim Mitsummen, konnte das Tempo aber nie wirklich halten, weil mein Pferd sich nicht um den Takt kümmerte, den der Offizier vorgab. Havoc schlug glücklicherweise sein eigenes Tempo an. Er war eins der vier Pferde, die wir von Kharas Familie geschenkt bekommen hatten, und war so klein, dass ein Dalkin meiner Größe mit ihm klarkam. Meistens jedenfalls.
Nach kurzer Zeit kamen wir an einen kleinen Weiher, dessen Oberfläche ruhig wie Eis dalag. Ein großer Baum am Ufer überragte ihn, und auf einem dicken schwarzen, sich über das Wasser breitenden Ast hing ein Nest voll keckernder blauer Eichhörnchen.
Es erinnerte mich sofort an meine Lieblingsstelle von früher, als ich klein war: das sandige Ufer eines tiefen Wasserlochs, dem Geisterweiher, weit weg von jedem Dorf und jeder Straße. Wir schwimmen gern, wir Dalkins, das ist auch so eine Eigenschaft, die wir mit vielen Hunden teilen. Dieser Weiher meiner Kindheit war überragt von Crillerbäumen, von denen dicke Ranken mit glatten hellgelben Blättern herunterhingen. Meine Geschwister und Freunde kletterten auf die Bäume, griffen nach den Ranken und schwangen sich über das Wasser.
Manche der Wagemutigeren unter uns spannten ihre Gleitflügel aus, dünne Hautfalten, die es uns erlauben, wie Eichhörnchen den Flug durch die Luft zu verlängern. Solche Versuche führten immer wieder zu jähen Abstürzen, hochschießenden Wasserfontänen und Lachsalven.
Es hatte immer wie ein herrliches Vergnügen ausgesehen, aber ich hatte es nie ausprobiert. Der Weiher war kalt und dunkel und sein Name auch nicht gerade ermutigend. Ich hatte Angst.
»Komm, Byx! Sei nicht so ein Angsthase!«, hatten meine Geschwister mich immer geneckt.
»Ich mach’s ja … aber nicht heute«, war dann meine Antwort gewesen, doch nie hatte ich den Mut dazu gefunden.
Es mag seltsam klingen, dass ich eine Zeit voller Peinlichkeit und Furcht als kostbares Andenken bewahre. Aber mir ist heute jede Erinnerung an diese Tage heilig. Die Erinnerungen sind alles, was mir geblieben ist von denen, die ich geliebt habe und die mich geliebt haben. Manchmal, spätnachts, scheinen mir diese Erinnerungen wirklicher als mein gegenwärtiges sonderbares Leben.
Trotzdem führte der Gedanke an mein damaliges Ich, das zitternd am Rand dieses Wasserlochs stand, zu einem gequälten Lächeln. Ich hatte mich vor einem Gewässer gefürchtet, in dem nichts Beängstigenderes war als höchstens ein paar schimmernde Fische.
Hätte man mir damals erzählt, dass ich eines Tages meine Gleitflügel ausbreiten, von einem hohen Gebäude springen und vor den Füßen der bösen Seherin des Murdano landen würde, hätte ich nur die Augen verdreht. Hätte man mir damals erzählt, dass ich mutig vor den Murdano hintreten oder einen grausamen Feuerritter in eine Falle locken würde oder austüfteln, wie wir die Schiffe der Marsonier angreifen könnten, hätte ich lauthals gelacht.
Ich richtete mich im Sattel auf und warf einen letzten Blick über den kleinen Weiher. Staub hing über der marschierenden Armee hinter mir. Einer der Soldaten schleuderte einen Stein auf die stille Wasseroberfläche. Er verschwand im Dunkel, ohne dass sich das Wasser merklich kräuselte.