Kapitel 26

Ich war erschöpft bis auf die Knochen, als ich dem Wachposten am Tor meinen Ausweis zeigte. Mein Einsatz war zu einem Albtraum ausgeartet, als das zweite Flugzeug, das ich von Arizona überführen sollte, nicht eintraf, wodurch alle anderen geplanten Flüge hinfällig geworden waren. Da ich einen Linienflug erst für den nächsten Tag bekommen hätte, hatte ich den Zug nehmen müssen, und die Fahrt hatte zwei Tage gedauert. Außerdem war er überfüllt gewesen, sodass ich bis San Antonio auf meiner Fliegertasche und meinem Fallschirm sitzen musste, beim Schlafen hatte ich den Kopf auf den Koffer eines anderen Reisenden gelegt.

Ich meldete mich im Büro, um zu erfahren, welche Aufgabe mich am nächsten Tag erwartete.

»Wissen Sie, ob eine meiner Zimmerkameradinnen hier ist?«, fragte ich den Offizier am Schalter.

Sosehr ich mich freute, wieder hier zu sein und ihre vertrauten Gesichter zu sehen – es war nach sieben Uhr abends, und ich wollte nur ins Bett fallen und bis zum nächsten Morgen durchschlafen.

Er warf einen Blick in seine Unterlagen. »Wie’s aussieht, sind alle über Nacht unterwegs, nur Miss Bixby sollte später noch zurückkommen. Und was Ihren Einsatzplan betrifft«, fügte er hinzu, »so haben Sie morgen frei.«

»Großartig«, sagte ich.

Als ich mich zur Tür drehte, erschütterte ein lautes Donnern das Gebäude, ein Fenster zerbarst, Glasscherben flogen durch die Luft.

»Runter!«, rief der Offizier und stieß mich zu Boden.

Ich lag flach auf dem Bauch, die Arme über dem Kopf, der junge Mann über mir. Von draußen hörten wir Schreie, eine weitere kleine Detonation und dann Sirenen.

»Ein Absturz!«, rief jemand im Büro.

Der Offizier richtete sich auf und half mir aufzustehen, während andere an uns vorbei nach draußen liefen. Meine Erschöpfung war verflogen, ich folgte den anderen mit rasendem Herzen, die Augen zum Himmel gerichtet. War das Flugzeug abgestürzt? Oder war es abgeschossen worden? Aber die einzig andere Maschine dort oben war eine der unseren, und so richtete ich den Blick wieder auf den rauchenden, schwarz verbrannten Rumpf einer P-47 Thunderbolt, die beim Landen über die Rollbahn geschrammt und in einen Militärlaster gerast war, der daneben auf dem Vorfeld stand.

Flammen stiegen auf, Funken stoben aus dem Motor, dicke schwarze Rauchschwaden verbargen die Haube des Flugzeugs, auf das die Feuerwehrmänner zustürmten in der Hoffnung, den Piloten zu retten. Das Wasser zweier Schläuche ergoss sich über das Wrack. Immer mehr Soldaten kamen hinzu und sprachen leise über den Kameraden, der dort wohl ums Leben gekommen sein musste.

Unvermittelt fiel mir auf, dass mehrere Männer zu mir sahen und dann rasch wieder fortschauten. Ich bemerkte den Blick des jungen Offiziers, der mich bei der Explosion mit seinem Körper geschützt hatte und dann schaudernd wegsah.

In meinem Magen krampfte sich alles zusammen, blankes Entsetzen packte mich.

Ich trat einen Schritt vor, dann einen weiteren. Die Männer wichen zurück, ohne ein Wort zu sagen.

»Miss«, sagte einer der Feuerwehrleute, als ich mich dem Wrack näherte. »Bitte treten Sie zurück. Es kann jederzeit hochgehen.«

»Wer sitzt dort drin?«, fragte ich.

Stirnrunzelnd sah er zu einem seiner Kollegen. »Ich weiß es nicht genau«, antwortete er.

Ich schaute hinter mich. Der Offizier vom Empfangsschalter, wo ich mich gemeldet hatte, starrte keine zwei Meter von mir entfernt zu Boden. Gerade wollte ich die Frage an ihn richten, als ich die Landegeräusche eines anderen Flugzeugs hörte.

Ich verfolgte, wie es zum Ende der Landebahn rollte, wendete und vor einem der Hangars stehen blieb. Meine Augen waren auf das Flugzeug geheftet, bis sich die Haube öffnete, der Pilot ausstieg und seinen Helm absetzte. Da drehte ich mich zitternd wieder zu dem brennenden Haufen und dann zu dem jungen Offizier vom Schalter.

»Wer hat die Maschine geflogen?«, fragte ich.

Mehrere der Männer um mich her senkten den Kopf. Ich trat näher zu dem Offizier.

»Wissen Sie das?«, fragte ich und deutete auf den rauchenden Metallrumpf.

»Ich bin mir nicht sicher«, murmelte er. »Aber ich glaube … Ich habe gehört, dass eine Thunderbolt von Savannah reinkommen sollte.«

»Und wer ist nach Savannah geflogen?«

»Miss Bixby«, flüsterte er.

Meine Beine wollten unter mir nachgeben.

»Sind Sie sicher?«, fragte ich.

»Ja, aber … bei euch Frauen verändern sich die Einsatzpläne doch ständig. Da könnte jeder drin sitzen.«

Aber es war nicht irgendjemand. Das wusste ich. Das spürte ich im tiefsten Inneren.

Ich trat näher an das brennende Flugzeug.

»Miss«, sagte jemand warnend, aber ich achtete nicht darauf. Wenn Carol Ann in dem Wrack war, musste ich sie rausholen. Ich musste sie retten.

Ich lief weiter.

»Carol Ann!«, schrie ich. Der Rauch stach mir in der Lunge, das Löschwasser durchnässte mich.

Ich gelangte zur Haube, legte die Hände auf das Glas, schrie auf, als es mir die Haut verbrannte, versuchte aber trotzdem, sie mit der anderen Hand zu öffnen, als wäre das mir allein möglich. Zwei Arme packten mich und hoben mich fort, mehrere andere hielten mich fest, sosehr ich mich auch wehrte. Noch war Zeit. Noch konnte sie gerettet werden. Aber einen Moment später zersprang das Glas der Haube mit einem Knall, mehr Rauch stieg auf.

Das konnte niemand überleben.

Ich erinnerte mich nicht, wie ich in unser Zimmer kam. Ich erinnerte mich nicht, dass ich in den Waschraum ging und mich bekleidet auf den Boden der Dusche setzte. Das Wasser war nicht aufgedreht, aber ein Hahn tropfte. Irgendwann merkte ich, dass sich das Licht veränderte, während ich die Fliesenwand mir gegenüber anstarrte, ohne etwas wahrzunehmen.

Ich war wie gelähmt. Mein Verstand war nicht willens oder nicht bereit, das Geschehene aufzunehmen. Bisweilen drang ein Bild des brennenden Wracks durch den Nebel in meinem Kopf zu mir vor, und ich holte keuchend Luft, als hätte ich sie unwillkürlich angehalten. In den Momenten schoss mein Blick umher, ich nahm meine rot verbrannten Handflächen wahr, meine von Asche verdreckte, nasse Kleidung, die nach Rauch stank. Und dann schloss ich die Augen wieder und überließ mich dankbar der Dunkelheit.

Anna fand mich eine ganze Weile später, wie ich vorgebeugt dort kauerte, das Gesicht auf dem Boden.

»Audrey?«, sagte sie und berührte mich zaghaft am Bein. »Bist du …?«

Ich starrte sie aus leeren Augen an und schloss sie wieder.

»Audrey? Liebes?« Ich öffnete die Augen wieder, aber jetzt saß Nola vor mir, das Gesicht tränenüberströmt. Von Anna war nichts zu sehen.

Mittlerweile war es Abend geworden, im Fenster war der dunkle Himmel zu sehen.

Ich hievte mich hoch, zuckte wegen der Schmerzen in den Händen zusammen, während ich mein Gesicht von den Fliesen schälte.

»Audrey«, wiederholte sie, dann stockte ihre Stimme. »Ich kann nicht … Ich weiß nicht …«

Ich begegnete ihrem kummervollen Blick, und wir schlangen die Arme umeinander, fühlten uns untröstlich und gleichzeitig taub und benommen.

Als ich wieder aufwachte, lag Nola neben mir. Ihr hübsches Gesicht war im Schlaf gerunzelt. Auf ihrer Nase hatte sie lauter helle Sommersprossen, die mir nie zuvor aufgefallen waren, und durch ihre langen, dunklen Haare zogen sich vereinzelte rote Strähnen.

»Hi.«

Vorsichtig drehte ich mich um und begegnete Beatrices besorgtem Blick.

»Anna musste vor ein paar Stunden losfliegen. Sie hat mir erzählt …« Ihre Augen wurden feucht, sie schniefte und fuhr sich mit dem Arm übers Gesicht, dann zeigte sie mir eine Papiertüte. »Deine armen Hände. Ich habe vom Sanitäter Salbe und Verbandszeug bekommen. Wenn du möchtest, kann ich sie dir verbinden. Vielleicht, nachdem du geduscht hast?«

Ich nickte. Gemeinsam weckten wir Nola, die zu ihrem Bett taumelte und dort weiterschlief. Ich stellte mich unter die Dusche, meine Tränen vermischten sich mit dem Wasser, mein Schluchzen hallte von den Fliesen wider. Als ich mich abgetrocknet hatte, verarztete Beatrice meine Wunden.

In der Nacht schlief ich in Annas Bett. Ich wollte nicht von meinem zu Carol Anns leerem Bett hinüberblicken müssen. Nola stand einmal auf, um zur Toilette zu gehen, und legte sich immer noch angekleidet wieder hin. Beatrice bewegte sich leise durch den Raum, sah nach uns beiden, ehe sie das Licht löschte, und als es still wurde, durchlebte ich noch einmal den Albtraum vom Tod meiner besten Freundin.

Ich hatte keine Schreie gehört, nicht wie in den grauenvollen Minuten, bevor Peggy Walters in Avenger Field gestorben war. Nur die lodernden Flammen des brennenden Flugzeugs waren zu hören gewesen, das meine Freundin einschloss, sie in Rauch hüllte und bei lebendigem Leib verbrennen ließ, während ich hilflos zusehen musste.

Als die Sonne mehrere Stunden später aufging, lag ich noch in derselben Position, mein Kissen nass vor Tränen. Die Taubheit, dank der ich die Nacht überstanden hatte, war verschwunden und durch den schrillen Schmerz von Verlust ersetzt, der mich körperlich zerriss und mir die Luft zum Atmen nahm.

Carol Ann war tot.

James war vermisst.

Jean.

Catherine …

Bill und Mae.

Wie viele Menschen, die mir am Herzen lagen, würde ich in diesem Krieg noch verlieren?

Ich ballte die verbundenen Hände und brüllte, die qualvollen Schreie eines verwundeten Tiers.

»Audrey!« Nola kam zu mir gelaufen.

Meine Verzweiflungsschreie gellten durch den Raum, während sie und Beatrice mich tröstend umarmten und wiegten.

Auf Nolas Drängen hin beantragte ich eine Woche Urlaub, den ich auch bekam. Sieben Tage. Nicht mehr, nicht weniger. Das Militär brauchte mich.

»Soldaten bekommen zum Trauern keinen Urlaub«, sagte mein Vorgesetzter, aber seine Stimme klang freundlich, was seinen Worten ihre Schärfe nahm.

Die meiste Zeit verbrachte ich auf meinem Bett, wo ich zu Carol Anns Seite hinüberschaute und mir ihr Gesicht vorstellte. Wenn niemand da war, unterhielt ich mich manchmal mit ihr, erzählte ihr im Flüsterton, wie sehr sie mir fehlte, dass ich mir nicht sicher war, ob ich jemals wieder fliegen konnte, und wie unendlich leid es mir tat, dass ich sie nicht hatte retten können.

Zwei Tage nach dem Unglück hörten wir inoffiziell, der Absturz sei Carol Anns Schuld gewesen.

»Was haben sie gesagt?«, fragte ich entsetzt, als Anna uns die Nachricht brachte.

»Nur, dass sie die Jug nicht richtig im Griff hatte«, sagte sie und verwendete den Spitznamen des Flugzeugs. »Sie sei zu klein gewesen.«

»Das ist gelogen«, fuhr Nola auf. »Sie konnte mit noch viel größeren Flugzeugen umgehen!«

»Nichts als miese Ausreden«, sagte Anna. »Sie kennen den Grund nicht, also ist es die Schuld der Frau.«

Ich drehte mich im Bett um, wandte dem Gespräch den Rücken zu. Undenkbar, dass das Flugzeug abgestürzt war, weil Carol Ann nicht damit hatte umgehen können. Irgendetwas hatte versagt.

Wie sich herausstellte, stimmte das auch. Drähte im Zündsystem hatten sich gelockert und an einem der Metallteile gescheuert. Heißes Metall und funkensprühende Drähte wirkten in einem ohnehin glühend heißen Motor wie Brandbeschleuniger. Dazu die verklemmte Haube, ein bei Thunderbolts bekanntes Problem – Carol Ann hatte keine Chance gehabt.

Am nächsten Morgen starrte ich mit verweinten Augen zu ihrem Bett hinüber. Es war mir völlig egal, ob ich je wieder flog. Das Fliegen hatte mich früher immer aufgerichtet und mich jeden Tag mit neuer Hoffnung erfüllt, aber jetzt, da James als vermisst galt und meine beste Freundin tot war, graute mir davor, wieder in eine Maschine zu steigen. Nicht aus Angst, sondern wegen dessen, was mir das Fliegen genommen hatte. Ich war wütend, verzweifelt, untröstlich. All meiner guten Absichten zum Trotz konnte ich mich zu nichts aufraffen. Welchen Sinn hatte es weiterzumachen? Warum hatte ich überhaupt noch Träume, wenn sie sich doch nur in Albträume verwandelten?

»Ich gebe auf«, flüsterte ich Carol Anns Kissen zu.

Und was machst du stattdessen?, hörte ich sie fragen.

»Das ist egal«, antwortete ich und drehte mich von ihrem Geist fort.

Drei Tage lang verließ ich unser Zimmer nicht. Die anderen brachten mir, wenn sie von einem Einsatz zurückkamen, oft einen Teller mit Essen, den sie aus der Kantine geholt hatten, zu welcher Tageszeit auch immer. Sie verarzteten auch meine Hände und erinnerten mich daran zu duschen.

Am dritten Tag führte Nola mich zum Büro, damit ich zu Hause anrief.

»Du musst ihnen sagen, was passiert ist«, forderte sie mich auf.

»Wieso?«, fragte ich tonlos, ohne ihre Gründe wirklich hören zu wollen.

»Weil sie deine Familie sind. Und weil du helfen kannst, damit sie nach Hause kommt.«

Da wir offiziell nicht dem Militär angehörten, waren bei Verletzungs- und Todesfällen wir und unsere Familien zuständig.

Wie wir wussten, hatten Carol Anns Tante und Onkel wenig Geld. Sie hatte Geschichten erzählt, wo es an Geburtstagen und zu Weihnachten Geschenke nur für sie, Carol Ann, gab; ihre Tante und ihr Onkel verzichteten, um ihre einzige Nichte zu verwöhnen. Unvorstellbar, dass sie es sich leisten konnten, Carol Anns sterbliche Überreste nach Hause zu überführen und obendrein die Beerdigung zu bezahlen. Aber meine Eltern schon. Und das würden sie auch tun.

»Mama?«, sagte ich.

»Audrey?«, sagte meine Mutter, und allein der Klang ihrer Stimme ließ mich schlucken. »Mein Schatz, ist alles in Ordnung?«

Mehr brauchte ich nicht, um wieder in Tränen auszubrechen. »Ach, Mama.«

Wie erwartet kümmerte sich meine Mutter um alles. Sie rief Carol Anns Tante an, um ihr ihr Beileid auszusprechen, schickte Blumen und organisierte, was mit den sterblichen Überresten meiner Freundin geschehen sollte. Sie wählte eine Urne für die Asche, buchte meinen Hin- und Rückflug nach Tuscumbia, Alabama, und beauftragte einen dortigen Caterer für die Trauerfeier und einen Floristen für den Blumenschmuck.

Sie bot an, mich zu begleiten, aber ich lehnte ab. Carol Ann war meine Freundin gewesen, und wenn ich mich von ihr verabschiedete, wollte ich das allein durchstehen.

Sechs Tage nach der Tragödie, die Carol Ann das Leben gekostet hatte, saß ich in einem Linienflug mit ihrer Asche in einer weiß-blauen Keramikurne, auf die eine fliegende Taube gemalt war. Am Flughafen erwartete mich ein Wagen, der mich zum Haus ihrer Tante und ihres Onkels brachte.

Am Anfang des Kieswegs blieb ich stehen und betrachtete das kleine blaue Haus. Hier und da war die Farbe abgeblättert, von der Dachtraufe hing ein halbes Dutzend Windspiele. Ich ging die Stufen zur Tür hinauf und lächelte, als die oberste knarrte, genau wie Carol Ann gesagt hatte.

»Ziemlich unmöglich, unbemerkt aus dem Haus zu schleichen«, hatte sie lachend erzählt.

Auf einem Schild neben der Eingangstür stand: »Gott schütze dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus.«

Ich klopfte und schaute, während ich wartete, auf den großen Garten vorm Haus, wo überall Wildblumen blühten, ihre rosa, gelben und orangefarbenen Gesichtchen alle zur Sonne gewandt.

»Sie müssen Audrey sein«, sagte eine Frau, als sie die Fliegengittertür öffnete.

»Ja, Ma’am«, sagte ich und trat beiseite.

»Ich bin Nan, Carol Anns Tante. Aber das haben Sie sich wahrscheinlich schon gedacht, nicht?«

»Doch, Ma’am.«

»Dann kommen Sie doch rein. Der Trauergottesdienst ist erst in zwei Stunden. Darf ich Ihnen ein Glas süßen Tee bringen?«

»Gern.«

Ich folgte ihr durch ein dunkles Wohnzimmer, bemerkte die liebevoll gepflegten Möbel und die vielen Pflanzen, manche in Blüte, andere rankten sich empor und klammerten sich an welche Stütze auch immer sich ihnen bot.

In der Küche, die nach Osten ging und in die jetzt das Sonnenlicht fiel, konnte ich die Frau, die meine Freundin großgezogen hatte, zum ersten Mal richtig betrachten. Nan war eine kräftige Frau mit abgearbeiteten Händen und einer sanften Stimme. Ihr dünnes rotblondes Haar war von grauen Strähnen durchsetzt und zu einem ordentlichen Dutt zurückgebunden, was sehr hübsch aussah. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, keinen Schmuck und war barfuß.

Ich hielt die Urne weiter im Arm, weil ich nicht wusste, wohin ich sie stellen sollte, aber auch weil ich noch nicht bereit war, sie loszulassen.

»Ist das unser Mädchen?«, fragte sie, als sie mit dem Rücken zu mir Tee aus einem Glaskrug einschenkte.

»Ja«, sagte ich leise.

»Die Urne ist etwas ganz Besonderes. Haben Sie sie ausgesucht?«

»Nein, meine Mutter.«

»Ein guter Mensch, Ihre Mutter«, sagte sie und reichte mir ein randvoll gefülltes grünes Glas. »Sie hat angerufen und mir ihr Beileid ausgesprochen, von Mutter zu Mutter.« Sie schniefte, ihre Augen wurden feucht. »Ich hab ihr gesagt, dass Carol Ann meine Nichte ist, aber sie wusste Bescheid. ›Wenn man sie aufzieht, dann sind sie die eigenen Kinder‹, hat sie gesagt. Eine feine Dame ist das. Sie haben Glück.«

Ich nickte und trank einen Schluck Tee.

»Darf ich?«, fragte Nan und deutete auf die Urne.

Ich holte tief Luft. »Natürlich.«

Vorsichtig drückte sie sie sich an die Brust und schloss die Augen.

»Sie war eine Draufgängerin, stimmt’s nicht?«, sagte sie.

»Doch.«

»Bei jedem Anruf hat sie von Ihnen erzählt. Hat gesagt, dass Sie sehr hübsch sind und hart im Nehmen. Es tat mir sehr leid, das von Ihrem Kavalier zu hören. James heißt er?«

Ich nickte, Tränen traten mir in die Augen.

Sie streckte die Hand aus, und ich legte meine in ihre.

»Gott mutet uns nicht mehr zu, als wir ertragen können.« Sie hob die Urne ein wenig an. »Das sage ich mir auch selbst immer wieder. Aber ich weiß, Sie haben in kurzer Zeit sehr viel verloren. Was Sie erlebt haben, trifft einen jungen Menschen wie Sie besonders schlimm. Aber ich sehe auch, was Carol Ann in Ihnen gesehen hat. Sie sind aus härterem Holz als die meisten anderen geschnitzt. Sie überstehen das, so schwer es jetzt gerade auch sein mag. Und was immer mit Ihrem Soldaten passiert, na, das werden Sie auch überstehen.«

Sie stellte die Urne ab und strich sanft darüber, dann zog sie mich an sich. Eine ganze Weile hielten wir uns in den Armen, keine wollte die andere loslassen.

Ich war schon beim zweiten Glas Tee angelangt, als schließlich Kurt, Nans Ehemann, den Raum betrat.

»Ist das so in Ordnung?«, fragte er, dann erst bemerkte er mich. »Oh, entschuldigen Sie. Mir war nicht klar, dass wir Besuch haben. Sie müssen Audrey sein. Carol Ann hat in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Und ich weiß, dass sie Sie sehr mochte. Danke, dass Sie gekommen sind.« Er warf einen Blick zur Urne. »Und danke, dass Sie unser Mädchen nach Hause gebracht haben.«

Der Trauergottesdienst für Carol Ann Bixby fand in einer kleinen Kirche oben auf dem Hügel statt. Ich saß hinter ihrer Tante und ihrem Onkel, die beide leise weinten. Dann schaute ich zu dem gerahmten Foto einer weiteren Freundin, die ich durch den Krieg verloren hatte.

Hinterher setzte ich mich, von Nan dazu aufgefordert, auf das Bett in Carol Anns Zimmer und betrachtete die Wände, an denen lauter Bilder von Flugzeugen hingen. Von der Decke baumelten Mobiles mit kleinen Vögeln.

Ich nahm ein Modellflugzeug in die Hand und drehte es um. Als ich Carol Anns Schrift auf der Unterseite eines Flügels sah, musste ich lächeln. »Carol Ann, 11 Jahre«, hatte sie geschrieben.

»Sie sollten etwas mitnehmen«, sagte Nan, die in der Tür stand. »Zur Erinnerung. Das hätte sie sich gewünscht.«

Ich sah mich um. Ich wusste nicht, was ich nehmen sollte, das nicht fehlen würde.

»Hier«, sagte sie und trat in den Raum, öffnete eine Holzschachtel, die auf der Spiegelkommode stand, und nahm eine weiße Haarspange heraus. Bei näherem Hinschauen erkannte ich, dass sie einen Vogel darstellte.

»Die ist ja wunderschön«, flüsterte ich und nahm sie vorsichtig in die Hand.

»Die wollte sie zur Hochzeit mit Gus tragen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Dann sollten Sie sie behalten. Oder sie ihm geben.«

»Ach, Kindchen.« Nans Augen wurden wieder feucht. »Augustus ist zwei Tage vor Carol Ann gefallen. Sie hat es nicht mehr erfahren. Seine Familie bekam die Nachricht am selben Tag, an dem wir von ihrem Tod hörten.«

Ich sank auf das Bett und starrte auf die handgearbeitete Quiltdecke mit den Quadraten in Rosa und Gelb und den aufwändig genähten Flugzeugen.

Dieser Krieg hatte so viele Leben gekostet. Junge, Alte, Schuldige … und so viele Unschuldige. Der Reigen der Toten spannte sich über mehrere Meere und alle Kontinente hinweg. Niemand war verschont geblieben, die langen Finger der Zerstörung und des Kummers hatten fast jeden auf die eine oder andere Art berührt, ob sie nun ein Familienmitglied, einen Freund oder einen Nachbarn verloren hatten. Leid und Schmerz hielten unsere Welt umfangen, verdunkelten unsere Tage und erstickten alle Hoffnung.

Aber natürlich berührten meine eigenen Verluste mich am meisten. Der Tod der großartigen, starken und mutigen jungen Frauen, die meine Freundinnen geworden waren, meine Schwestern am Himmel, hatte mich im tiefsten Inneren getroffen. Die Nachricht, dass James vermisst wurde, hatte mir das Herz gebrochen; der Verlust des einzigen Mannes, den ich je geliebt hatte, war ein abgrundtiefer Schmerz.

Wenn ich nachts im Bett lag und sich Stille um mich her ausbreitete, sah ich ihre Gesichter und hörte ihre Stimmen. Ich schlief mit der Erinnerung an ihr Lachen ein. Dort fand ich Trost – in meinen Träumen lebten sie weiter. Wir tobten in der Brandung von Hawaii und jagten uns in den Militärmaschinen über den weiten Himmel von Texas. Ich lag neben James, der mit dem Finger mein Schlüsselbein nachfuhr zu dem kleinen Vogel in meiner Halskuhle. Und in diesen Träumen fand mich auch Carol Ann, unterhielt sich über den Abstand zwischen unseren Betten flüsternd mit mir, bis etwas mich weckte und ich erschreckt feststellte, dass sie nicht mehr da war.

Nachts fanden mich aber auch meine Albträume. Dann raubten Feuer und Rauch und Geschützdonner mir diese Menschen ein weiteres Mal. Wenn ich an solchen Tagen aufwachte, war mein Kissen nass von Schweiß und Tränen.

Und unter all der Qual lagen Wut und Angst. Wut, dass überhaupt jemand sterben musste. Dass so viele ihr Leben verlieren mussten. Und Angst. Wer konnte mir noch genommen werden? Würde ich die Nächste sein?

Nun betrachtete ich die auf dem Vorfeld in Fort Sam aufgereihten Flugzeuge eher mit Unbehagen als mit Aufregung. Hatte meine Liebe zum Leben inmitten der Wolken mich gezeichnet? Sollte es auch mein Schicksal sein zu sterben, wie ich lebte?

Aber wenn ich nicht flog … was blieb mir dann?

Ich erinnerte mich an eines der letzten Gespräche mit Carol Ann. Wie üblich hatten wir in unseren Betten gelegen und uns im Flüsterton unterhalten, während die Frauen unter uns schliefen.

»Was meinst du?«, hatte sie gefragt. »Werden wir, wenn wir alte Omas sind, auf der Veranda im Schaukelstuhl sitzen, süßen Tee trinken und über die alten Zeiten reden, während unsere Enkel im Garten herumlaufen? Dass wir nur Mädels in Flugzeugen waren, die ihre Arbeit erledigt haben, als wäre es eine wie jede andere? In der Zeit, als die Männer fort waren und die Welt endlich gezwungen war, uns eine Chance zu geben? Damals, als wir Flügel hatten?«

Ich hatte gelächelt, als ich die Szene vor mir gesehen hatte. Und dann hatte sie weitergesprochen.

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich je mit dem Fliegen aufhören werde. Sie werden mich mit den Füßen zuerst aus einem Flugzeug tragen müssen.«

Jetzt sah ich mich in Carol Anns Jugendzimmer um. Wie grausam poetisch es war, dass sie sie tatsächlich aus dem Flugzeug hatten tragen müssen. Und auch wenn es viel zu früh passiert war, ich war mir sicher – genau so hatte sie sterben wollen.

Ich warf Nan ein kleines Lächeln zu.

»Sie war mir eine wunderbare Freundin. Wie eine Schwester. Wir hatten so viel Spaß miteinander.« Ich schaute auf die kleine weiße Vogel-Haarspange und blinzelte die Tränen fort. »Es tut mir so weh, dass sie nicht mehr da ist.«

»Sie haben ihr viel bedeutet«, sagte Nan. »Eine so enge Freundin wie Sie hatte sie früher nie gehabt. Bitte, nehmen Sie den Vogel. Sie würde sich wünschen, dass Sie die Spange bekommen. Sie können sie tragen, wenn Sie eines Tages Ihren Kavalier heiraten. Dann ist es, als wäre sie dabei.« Sie lächelte traurig und ging zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen. »Und fliegen Sie weiter.«

»Wie bitte?«, fragte ich.

»Sie hat mir erzählt, dass Sie in Pearl Harbor waren und dass es Ihnen danach eine Zeit lang nicht gut ging. Sie wusste, sollte ihr während der Ausbildung – oder auch danach – etwas zustoßen, würden Sie sich überlegen, ob Sie sich wirklich wieder in ein Flugzeug setzen sollten. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, Ihnen für den Fall, dass ihr etwas zustieß, zu sagen, dass Sie weiterfliegen sollen.« Sie zögerte. »Haben Sie daran gedacht aufzuhören?«

Ich nickte, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen.

»Was würden Sie stattdessen tun?«

Ich zuckte die Achseln. Etwas anderes als Fliegen war mir nie in den Sinn gekommen.

»Tun Sie es mit Liebe?«

Ich begegnete ihrem Blick. »Ja, doch, sehr sogar.«

»Dann, Kindchen, dürfen Sie jetzt nicht aufhören. Wie ich Carol Ann immer sagte, obwohl ich jedes Mal, wenn sie abhob, Angst hatte – warum soll man leben, wenn man nicht tut, was man am meisten liebt?«

Eine Stunde später verabschiedete ich mich mit einer langen Umarmung, der Vogel-Haarspange und einem von Carol Anns Windspielen in einer Papiertüte, dazu ein Stück Kuchen »für die Heimfahrt«, wie Nan sagte. Ich versprach, mich wieder zu melden, und ging über den langen Kiesweg zum bereitstehenden Wagen.

Am Ende der Straße mussten wir warten, um einen Traktor vorbeifahren zu lassen, und ich sah zum Fenster hinaus. In einem blühenden Busch flatterte ein Kolibri. Ich dachte an James und den Vogel, den er mir in dem Laden in Florida gekauft hatte.

»Sie erinnern einen daran, das Schöne im Leben zu sehen«, hatte er gesagt.

Seufzend lehnte ich mich zurück und schaute in den hellen Nachmittagshimmel. Die Woche war entsetzlich gewesen, und es hatte mir davor gegraut herzukommen. Aber irgendwie hatte der Tag auch eine Unbeschwertheit gehabt, eine Leichtigkeit in den Unterhaltungen, beim gemeinsamen Essen, in den Blicken, die sich verständnisvoll begegneten. Und das war nur Carol Anns wegen gewesen, die wie ein Kolibri in mein Leben hinein- und wieder hinausgeflogen war, wie der kleine Vogel neben dem Wagenfenster, der gerade davonschwirrte.