Kapitel 15
Es wurde Oktober, und weitere Kriegsnachrichten trafen ein, unter anderem die Meldung, dass die Japaner auf Wake Island achtundneunzig amerikanische Zivilisten hingerichtet hatten. Doch jede Information, jeder Bericht motivierte uns noch mehr, uns in die Arbeit zu knien und unseren Beitrag zu leisten.
In der zweiten Oktoberwoche kam eine neue Gruppe Auszubildender, und gleichzeitig wurde es kühler. Statt der drückenden 35 Grad herrschten jetzt gerade einmal knapp 25, was uns im Vergleich kalt erschien, auch wenn wir in den Fliegerkombis nach wie vor schwitzten.
Und es wehte fast ständig ein böiger Wind, der alles unter einer Staubschicht begrub, einschließlich dem Boden unseres Zimmers, sodass wir mindestens dreimal am Tag fegen mussten.
Ich hatte den Besen gerade zum zweiten Mal an dem Tag weggestellt und mich an meinen Schreibtisch gesetzt, um mich meiner Flugkarte zu widmen, als Carol Ann von ihrem Navigationslehrbuch aufblickte.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Das war ein tiefes Seufzen.«
Ich war derart in meiner Arbeit aufgegangen, dass mir gar nicht bewusst war, auch nur einen Laut von mir gegeben zu haben.
Ich hatte James auf seinen letzten Brief noch nicht geantwortet. Als ich an dem Abend nicht zum Essen erschienen war, hatte Carol Ann sich auf die Suche nach mir gemacht und mich weinend unter dem Flügel der Fairchild gefunden. Wir hatten lange zusammengesessen und darüber gesprochen, wie es wohl für ihn dort drüben sein musste. Welche Spuren es hinterlassen musste, so viele Freunde und Kameraden zu verlieren, in welche Hoffnungslosigkeit man verfallen konnte, wenn man ständig in der Angst lebte, bombardiert oder abgeschossen zu werden – eine Hoffnungslosigkeit, aus der man vielleicht keinen Ausweg mehr sah. Zum ersten Mal fragte ich mich, wo wir uns alle wiederfinden würden, wenn der Krieg vorbei war. Was diejenigen von uns betraf, die ihn am eigenen Leib erfahren hatten – wir mochten überlebt haben, aber würden wir den Krieg auch seelisch überstehen?
Ich starrte auf das Bild von uns auf meinem Schreibtisch.
»Bist du dir sicher, dass du ihm nicht doch schreiben möchtest?«, fragte Carol Ann. Ihre Stimme war sehr sanft.
»Wozu?«
»Weil er unglücklich ist. Außerdem wette ich, dass er sich über Nachrichten von zu Hause freuen würde. Vor allem von dir.«
»Er will nichts mehr von mir wissen. Das hat er überdeutlich klargemacht.«
»Wirklich? Ich glaube, du liest da etwas hinein, das so nicht dort steht.«
»Es ist sein Tonfall, wenn er schreibt: ›Ich wünsche dir alles Glück der Welt.‹ Das ist ein Abschied.«
»Weißt du, manchmal bekomme ich von Gus einen Brief, nach dem ich am liebsten zu ihm fliegen und ihm die Ohren langziehen möchte. Mir ist schon klar, dass es dort drüben grauenhaft ist, aber ich brauche keinen Jammerbrief, damit ich mir noch mehr Sorgen mache als ohnehin schon! Schreib ihm. Erzähl ihm von dem, was du hier machst. Erzähl ihm von deiner tollen neuen Freundin Carol Ann und dass sie die hübscheste, witzigste und schlaueste Frau ist, der du je begegnet bist.«
Ich lachte, und sie tat gekränkt, bevor sie ebenfalls in Lachen ausbrach.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Es kommt mir sinnlos vor. Und wenn er nicht reagiert …«
»Ehrlich, Audrey – es ist egal, was du sagst. Gus erzählt mir immer wieder, wie abgeschnitten er sich fühlt. Dass er das Gefühl hat, er würde so viel verpassen, und das macht ihn traurig. Bestimmt geht es James genauso. Wahrscheinlich kommt es ihnen vor, als würde dieser Krieg nie zu Ende gehen. Er hat zu viele Tote gesehen. Zu viel Schlimmes. Gib ihm etwas, worüber er lächeln kann. Erzähl ihm von uns. Von Sharon und ihren Augenbrauen und von Tanya mit ihrer Zigarette hinterm Ohr, selbst wenn sie schläft. Dann geht’s ihm besser, und vielleicht antwortet er sogar früher.«
»Aber was, wenn er wirklich Lebwohl gesagt hat?«
Carol Ann stieß sich vom Schreibtisch ab, drehte sich zu mir und nahm mein Gesicht in ihre Hände, sodass ich sie ansehen musste. Meine Augen standen voll Tränen.
»Vielleicht hat er das«, sagte sie. »Vielleicht empfindet er mehr für dich, als er je zugeben wird, und deswegen muss er sich von dir verabschieden, weil es ihn innerlich umbringt. Vielleicht hat er Angst und ist traurig und muss sich von dir entfernen, damit er weiter die entsetzlichen Dinge tun kann, die dieser Krieg von ihm verlangt. Vielleicht liebt er dich, aber es schmerzt ihn zu sehr, zu wissen, dass er jede Minute sterben könnte. Das erlebt er jeden Tag mit seinen Kameraden. Vielleicht macht es ihn ein bisschen glücklich, sich vorzustellen, dass du dein Leben lebst, dass du weiterlebst … wenn auch ohne ihn. Vielleicht musst du dich wirklich von ihm verabschieden. Aber letztlich kannst du nur das tun, was dein Herz dir sagt, Audrey. Und was das ist, weißt nur du allein.«
Die Tränen liefen mir übers Gesicht.
»Ich weiß nicht, ob ich mich von ihm verabschieden kann.«
»Dann tu’s nicht. Schreib ihm einen fröhlichen Brief mit lauter Geschichten wie dem Skorpion, den du neulich umgebracht hast. Junge, hat das geknackt, als du draufgetreten bist. Oder der Motor, der vergangene Woche Feuer fing, gerade bevor Tanya abheben wollte. Oder wie viel Spaß das Schwimmtraining in den Overalls macht.«
Ich lächelte. Das Schwimmen war grauenhaft.
»Ich werde es mir überlegen«, antwortete ich und wandte mich wieder meiner Flugkarte zu.
Carol Ann tat ihr Bestes, mich den Oktober über abzulenken. Jeden Tag stapfte ich auf dem Weg vom Schießunterricht zur Navigationskunde und weiter zum Schwimmtraining neben ihr her, wobei ihre Freude über meine Fortschritte mit der Pistole und ihre eigenen im Wasser nicht zu übersehen waren.
Einige Frauen beschwerten sich über das rigorose Ausbildungsprogramm. Drei waren bereits ausgeschieden, weil sie nicht mithalten konnten und mehrere Prüfungen nicht bestanden hatten trotz der langen Abende, die sie sich über die Bücher gebeugt hatten. Carol Ann, die anfänglich befürchtet hatte, der Unterricht würde sie überfordern, schlug sich besser als erwartet, aber in letzter Zeit schwächelte Maxine, und wir taten uns alle zusammen, um ihr zu helfen. Wir hatten uns vorgenommen, dass unser Zimmer geschlossen die Abschlussprüfungen schaffen würde.
»Ich verstehe einfach nicht, warum ich das ganze Zeug wissen muss!«, schrie Maxine eines Tags und schleuderte ihren Bleistift quer durchs Zimmer, sodass er Sharon nur knapp verfehlte. »Wir sind doch gar nicht in der Armee, wir fliegen bloß für sie!«
Ihr Argument leuchtete mir ein, und bisweilen ging mir das Gleiche durch den Kopf. Andererseits würden wir als zivile Pilotinnen Militärflugzeuge fliegen, und dafür mussten wir militärisch ausgebildet sein. Das bedeutete unter anderem, dass wir auf den Treibstofftank schießen konnten, sollten wir in Gefangenschaft geraten, während wir vertrauliche Nachrichten transportierten, dass wir in unseren Fliegeroveralls schwimmen und mit Zielschleppsäcken fliegen konnten sowie Flugkarte, Kompass und geografische Merkmale zu nutzen verstanden, um uns in der Luft zu bewegen. Als zivile Auszubildende mussten wir die gleichen Kurse absolvieren wie die Pilotenanwärter, zudem mussten wir aber auch zusammengeflickte und fabrikneue Flugzeuge testen, damit sie anschließend zu diversen Stützpunkten in den USA überführt werden konnten, um von dort nach Übersee gebracht und im Kriegsgebiet eingesetzt zu werden. Unsere Arbeit entlastete die Männer an der Front. Und diese Verantwortung nahmen wir ernst.
Bald kam die letzte Woche unseres zweiten Ausbildungsmonats, und wir wurden in jedem Kurs geprüft, um unsere Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Im Schießunterricht überraschte der Ausbilder uns mit einigen witzigen Aufgaben. So hielten wir etwa jeden Tag einen Wettbewerb ab, bei dem der Preis aus einer blauen Schleife und einem Teller selbst gebackener Kekse bestand. Carol Ann gewann zweimal und teilte ihren Gewinn mit uns.
Im Schwimmtraining wurde beim Bahnenschwimmen unsere Zeit gestoppt, zudem mussten wir uns innerhalb einer bestimmten Zeit im Wasser unserer Flugbekleidung entledigen. Am Ende jeder dieser Stunden hievten wir uns erschöpft und ausgehungert mit letzter Kraft aus dem kalten Wasser.
Im Navigationsunterricht übten wir in einem neu entwickelten Flugsimulator, auch liebevoll »blauer Horrorkasten« genannt. Dabei handelte es sich um eine blaue Kapsel, die mit dem runden Rumpf und den kleinen Flügeln wie die Trickfilmversion eines Flugzeugs aussah und einen Blindflug vortäuschte, wie etwa bei Nachtflügen oder wenn Rauch die Sicht behinderte. Der Pilot setzte sich in die Kapsel, die geschlossen wurde, und musste sich ausschließlich auf die Instrumente vor ihm verlassen, um simulierte Flugbedingungen zu navigieren. Diese Übung diente als Vorbereitung für die nächste Ausbildungsstufe – Fliegen »unter der Haube«. Die Haube war eine Art Schirm, der die Sicht behinderte und bei einem Tagflug auf den Helm gestülpt wurde. Sobald wir in der Luft waren, wurde er heruntergelassen, wir konnten nur noch die Instrumente vor uns sehen. Waren wir in der Lage, unter der Haube zu fliegen, wurden wir für Nachtflüge zugelassen. Doch bevor wir dazu kamen, mussten wir noch einige Stunden im Unterrichtsraum sitzen. Womit die Frauen mehr Zeit hatten, Officer Wilson anzustarren, und ich mehr Zeit hatte zu tun, als bemerkte ich seine Blicke nicht.
»VFR«, sagte Officer Wilson und schritt vor der Klasse auf und ab. »Wofür steht das?«
Ich steckte die Hände unter meine Oberschenkel und richtete den Blick auf Maxines Rücken vor mir.
Nola meldete sich.
»Ja, Miss Jenner?«
»Visual Flight Rules, also Sichtflug«, sagte sie. »Das Wetter ist so gut, dass man nach Sicht navigieren kann. Man muss die Umgebung des Flugzeugs sehen, die Höhe kontrollieren und Hindernissen ausweichen können. Insbesondere anderen Flugzeugen.«
»Gut«, sagte er. »Und wenn das Wetter nicht den Sichtflugwetterbedingungen entspricht, dann fliegen Sie nach den …?«
Sharon meldete sich und wedelte eifrig mit der Hand, aber Officer Wilson rief mich auf.
»Miss Coltrane?«, sagte er.
Sharon ließ die Hand sinken, ihre Unterlippe schob sich zu einem hinreißenden Schmollen vor. Mehrere Köpfe drehten sich zu mir, deren Hand eindeutig nicht in die Luft ragte.
»IFR, den Instrument Flight Rules«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen. »Das ist der Instrumentenflug. Man fliegt vorwiegend mit Hilfe von Instrumenten.«
»Korrekt«, sagte er und kehrte zur Tafel zurück.
»Es heißt aber auch ›I Fly by the Railroad‹«, fuhr ich fort. »Ich fliege entlang der Schienen.«
Gedämpftes Kichern, er drehte sich wieder um. Die Klasse wurde still, er zog die Mundwinkel kaum merklich zu einem Lächeln nach oben.
»Sehr gut, Miss Coltrane«, sagte er und ließ seinen Blick auf mir ruhen, bevor er sich an die restliche Klasse wandte. »Wenn Sie sich verirrt haben, halten Sie Ausschau nach einer Bahntrasse.«
»Ich weiß, ich bin verlobt«, sagte Carol Ann am Ende der Stunde, »aber eifersüchtig bin ich trotzdem.«
Am Freitag fanden die Abschlussprüfungen in jedem der drei Kurse statt, an denen wir im vorhergehenden Monat teilgenommen hatten. Im Schießunterricht bestand die Prüfung aus zwei Teilen. Zunächst mussten mindestens fünfzehn unserer zwanzig Schüsse ein statisches Ziel treffen. Der zweite Teil war schwieriger, das Ziel bewegte sich im Zickzack, als wäre es ein fliegendes Flugzeug.
In Navigation bekamen wir ein Blatt Papier, auf dem ein Ziel, ein Wetterbericht und ein bestimmtes Flugzeugmodell standen. Ausgehend von Fluggeschwindigkeit und Wetterbedingungen mussten wir eine Route berechnen. Anschließend setzten wir uns der Reihe nach ein letztes Mal in den Flugsimulator, wo jede zwei Versuche hatte, ausschließlich mit Hilfe der Instrumente zu navigieren.
»Bereit?«, fragte Martha, die Frau, die die Übungen leitete.
»Ja, Ma’am.«
Ich nahm in der Kapsel Platz und setzte den Kopfhörer auf. Martha schloss die Luke, und ich war allein in dem kleinen Simulator. Ich holte tief Luft und hielt den Blick auf die Geräte gerichtet.
»Hören Sie mich?«, fragte Martha über den Kopfhörer.
»Ja, Ma’am.«
»Dann geht’s los.«
Ich brauchte nur einen Versuch, um mein vorgebliches Flugzeug erfolgreich zu fliegen und damit zu landen. Mit einem triumphierenden Lächeln stieg ich aus. Ich war überglücklich, diese Prüfung überstanden zu haben und sowohl dem Navigationsunterricht als auch den Blicken von Officer Wilson endgültig zu entkommen.
Die letzte Prüfung des Tages war in Schwimmen. Wir schwammen Bahnen, mussten uns eine bestimmte Zeit lang über Wasser halten, entledigten uns unserer Flugbekleidung und ließen dabei die tickende Stoppuhr nicht aus den Augen.
»Wenn ich im Wasser lande«, sagte Sharon völlig außer Atem, als sie sich aus dem Becken hievte und auf dem Rand zusammenbrach, »lasst mich einfach ertrinken.«
Irgendwie bestanden wir alle die Prüfungen. Wir waren zwar nicht überzeugt, dass wir eine Notwasserung überleben würden, aber wir wussten, dass wir zumindest eine gewisse Chance hatten.
»Es sei denn, es gibt Krokodile«, sagte Tanya. »Dann sieht’s mies aus.«
Wir schleppten uns zu unserem Zimmer zurück, um vor dem Mittagessen zu duschen und uns umzuziehen. Auf dem Weg zur Kantine machten Sharon und Maxine einen Abstecher zum Hauptbüro, um die Post abzuholen.
»Haltet zwei Plätze für uns frei«, rief Sharon.
»Oooh!«, rief Carol Ann, als die beiden ein paar Minuten später einen Berg Briefe in die Mitte unseres Tischs legten.
Wir reichten den Stapel weiter, und jede suchte die an sie adressierten Briefe heraus. Ich hatte drei bekommen: einen von meinem Vater, einen von Claire und den dritten von Ruby.
Den meines Vaters las ich als Erstes und lächelte, als er Evies Aufregung schilderte, nachdem sie ihr letztes Paar Strümpfe ruiniert hatte. Außerdem schrieb er von Tom Barrows, mit dem ich zur Schule gegangen war. Er war groß und sehr schlank, und seine schwarzen Locken hatten ihren eigenen Willen, was seine Mutter auf die Palme trieb. Jeden Morgen war sie ihm mit einem Kamm in der Hand zur Schule nachgelaufen, während er Reißaus vor ihr nahm.
Er ist wieder zu Hause. Vor drei Monaten hat er im Oberschenkel zwei Kugeln abbekommen, und sie dachten, dass er es allein schon wegen des Blutverlusts nicht schaffen würde. Aber er ist munter und fröhlich wie eh und je und hat wieder seine alte Arbeit auf dem Hudson Airfield aufgenommen. Letzte Woche habe ich ihn zufällig getroffen und ihm gesagt, dass du den Flugplatz bald leiten würdest. Er war sehr stolz zu hören, dass du in Avenger bist, und meinte, er hätte immer schon gewusst, dass du zu etwas Großem berufen bist. Außerdem hat er mich gebeten, ein gutes Wort einzulegen, damit er seine Arbeit behält. Das hat er natürlich im Scherz gesagt, aber etwas Sorgen macht er sich doch …
Claires Brief las ich auf dem Weg zurück zu unserem Zimmer, wo wir uns auf den Flugunterricht vorbereiteten. Sie und ich schrieben uns ein-, zweimal im Monat, sie hielt mich auf dem Laufenden über das Leben auf der Insel. Sie wusste, dass ich mir Sorgen um die Menschen machte, die ich dort kennengelernt hatte, allen voran Erma, Ken und ihre Familie.
Claire hielt Wort und kümmerte sich wirklich an meiner statt um sie, manchmal schickte sie auch Fotos von ihnen. Annie war mittlerweile sieben und würde ihre Mutter später einmal eindeutig überragen. Sie zeichnete Bilder von Tieren und Blumen und schrieb mir Briefchen in großen, geschwungenen Buchstaben, die Claire mitschickte, denn von Erma selbst hörte ich nur selten.
Außerdem schickte Claire Fotos von der Insel und schrieb, wie unverändert schön O’ahu sei, es sich im Schatten des Kriegs aber auch verändert habe. Der Stacheldraht an den Stränden, die vielen Soldaten auf den Bürgersteigen und in den Läden, die zahllosen Jeeps und Panzer auf den Straßen.
»Die hawaiianischen Lebensgeister lassen sich nicht unterkriegen«, schrieb sie, »aber alle spüren die große Belastung.«
Rubys Brief hob ich mir für nach dem Abendessen auf. Sie hatte sehr lang gebraucht, um den Überfall auf Pearl Harbor zu verwinden. Das Erlebnis hatte sie bis ins Mark erschüttert, und die Überfahrt zum amerikanischen Festland auf einem Schiff, dessen Fenster ständig verdunkelt waren, hatte seinen Teil noch dazu beigetragen. Die lange Reise war das reine Grauen gewesen, auch wenn ein Zerstörer ihnen Begleitschutz gegeben hatte. Sie hatte ihre Kabine kaum verlassen aus Angst, draußen würde nur der Tod auf sie warten.
»Ich habe ständig gedacht, dass wir jeden Moment von der Dunkelheit verschlungen werden«, hatte sie mir später geschrieben. »Dass wir mit Mann und Maus untergehen.«
Nach dem Anlegen war sie schnurstracks zum Bahnhof gegangen und nach Kansas gefahren. Seitdem hatte sie keine Maschine mehr geflogen, und offenbar fehlte es ihr auch nicht. Jetzt war sie glücklich, auf der Farm ihrer Familie zu arbeiten, Kühe zu hüten, Eier einzusammeln und den Hunden nachzujagen.
Ich mag jetzt die Erde unter den Füßen spüren. Ich erneuere die Verbindung mit dem ’aina, wie Erma sagen würde. Nach dem Gottesdienst laufe ich mit den Kindern barfuß durchs Gras, spiele mit ihnen Fangen und höre sie kreischen und lachen. Mittlerweile unterrichte ich in der Sonntagsschule und überlege mir, aufs College zu gehen. Kannst du dir das vorstellen? Ich glaube, ich könnte eine gute Grundschullehrerin abgeben. Allerdings streife ich auch gern über unsere Farm und frage mich, ob das Leben, vor dem ich Reißaus genommen habe, nicht doch genau das richtige für mich ist.
Es gibt vier Kühe, die gern in einer Gruppe zusammenstehen. Sie erinnern mich an uns vier. Eine hat einen dunklen Fleck ums Auge – das ist Catherine. Eine läuft ständig um die anderen herum und treibt sie zusammen – Jean. Die fülligste, die sich nur ungern zu etwas bewegen lässt, bin ich, und die schmale, die immer in die Ferne schaut, bist du.
Aber mein Gott, manchmal habe ich das Gefühl, ohne euch in meiner Nähe keine Luft zu bekommen.
Nachdem ich den Brief wieder in den Umschlag gesteckt hatte, blieb ich lange auf dem Bett sitzen und dachte über das Leben nach und wie unterschiedlich die Menschen auf Ereignisse reagierten. Wie einige von uns sich nicht beirren ließen, während andere davon zerrissen wurden und der Schmerz sie völlig vereinnahmte, und wieder andere fanden einen neuen Weg, der zwar anders verlief als der ursprünglich geplante, aber trotzdem genauso befriedigend war.
Ich schwang die Beine aus dem Bett und holte von meinem Schreibtisch ein Blatt Schreibpapier.
»Wie geht’s Ruby?«, fragte Carol Ann.
»Es klingt, als würde sie das, was passiert ist, endlich hinter sich lassen können und etwas Neues beginnen.«
»Das ist schön, Audrey.« Sie lächelte und schaute auf das Blatt in meiner Hand. »Willst du ihr antworten?«
Ich nickte.
Sie holte sich ein paar Seiten ihres Schreibpapiers und setzte sich ebenfalls auf ihr Bett.
»Ich sollte Gus schreiben. Wahrscheinlich hat er nichts als Unsinn im Kopf und muss daran erinnert werden, dass er sich nicht umbringen lässt, weil auf der anderen Seite der Welt seine Verlobte auf ihn wartet.«
Ich saß mit dem Stift in der Hand da, aber anstatt Rubys Name stand plötzlich der von James auf dem Blatt.
Unvermittelt klopfte mir das Herz bis zum Hals, als ich den vertrauten Namen dort las.
In den Wochen seit seinem Brief hatte ich mehrere Versuche unternommen, ihm zu schreiben, aber nie die richtigen Worte gefunden, um meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sollte ich gar nicht auf seinen melancholischen Unterton eingehen, wie Carol Ann vorgeschlagen hatte, oder sollte ich seine Distanziertheit akzeptieren und mich still und leise aus der Freundschaft zurückziehen, die mir so viel bedeutete?
Meine Unsicherheit hatte Wut hervorgerufen, der ich in meinen Briefen freien Lauf ließ. Ich warf ihm sein mangelndes Einfühlungsvermögen vor. Wie konnte er es wagen, mich abzuservieren nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden hatten? Wie konnte er es wagen, mir alles Gute zu wünschen und mich wegzuschieben? Wie konnte er es wagen, einfach aufzugeben?
Aber diese Briefe schickte ich nicht ab. Ich zerriss sie und warf sie weg.
Darauf folgte Verzweiflung. Traurige Sätze des Kummers, der Qual und der Hoffnungslosigkeit. Hatten wir auf der kleinen Insel wirklich gar nichts gelernt? Welch kostbare Güter Leben und Freundschaft waren? Welches Glück wir hatten, noch am Leben und Freunde zu sein?
Die zerriss ich ebenfalls.
Als ich jetzt auf meinem Bett saß, war mein Kopf klarer. Abstand und Zeit hatten mir zu dem Verständnis verholfen, das mir bis jetzt gefehlt hatte.
Unsere Freundschaft war, wie viele andere Beziehungen, ein Opfer des Kriegs. Und wenn er glaubte, sie beenden zu müssen, würde ich mich nicht dagegen wehren. Aber leicht würde ich es ihm auch nicht machen.
Mein lieber Freund,
Avenger Field ist großartig. Wir arbeiten hart, der Unterricht ist anspruchsvoll, das Fliegen fantastisch. Das Dröhnen eines Kampffliegers hat einfach etwas, das einen morgens aus dem Bett springen lässt.
Manchmal war’s sehr knapp. Meine Mitbewohnerin Sharon wurde in unserer zweiten Woche Mitglied des Caterpillar Club, nachdem sie vergessen hatte, das Geschirr anzulegen, und herausfiel, als der Ausbilder eine langsame Rolle flog. Leider muss ich sagen, dass sie nicht die Einzige war, der das passierte. Es war erschreckend mit anzusehen, aber auch komisch. Außerdem weiß ich jetzt erst so richtig zu würdigen, wie gut du an dem Morgen in O’ahu die B-17 im Griff hattest, mittlerweile habe ich nämlich selbst eine beschädigte geflogen. Stell dir das mal vor – ich, so klein, wie ich bin, am Steuer eines solchen Ungetüms.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sehr es dich jeden Tag bedrücken muss, wenn du dich fragst, ob du schon wieder die Habseligkeiten eines Freundes zusammenpacken musst oder ob es dieses Mal deine sein werden, die ein anderer zusammensucht. Die Angst, die du empfinden musst. Der Einsatz, den du zeigen musst. Und die Wut, überhaupt daran beteiligt sein zu müssen.
Ich träume auch von dem Tag, an dem dieser Krieg zu Ende ist. Ich träume davon, wie ich Hal mein Geld in die Hand drücke und er mir im Gegenzug die Schlüssel zu meinem Flugplatz überreicht. Wie ich die älteren Gebäude renoviere und mein neues Hotel plane. Und ich träume von dir und dass du nach Dallas fliegst. Dann erinnern wir uns bei einem Bier und einem Essen an den Tag, als wir den Japanern entkamen, und du übernachtest in meinem Hotel und bewunderst meine Fähigkeiten als Bäckerin, und am nächsten Morgen hebst du nach einer Umarmung wieder ab.
Ich möchte dir sagen, dass ich jeden Tag in Gedanken bei dir bin. Und jedes Mal denke ich, wie mutig und liebenswürdig du bist, ein Vorbild für alle. James Hart, du bist ein erstaunlicher Mensch. Ich fühle mich geehrt, mit dir befreundet zu sein.
Immer dein kleiner Vogel,
Audrey
Außer dem Brief steckte ich auch das Bild in den Umschlag, das Nola nach einem Testflug von einigen Frauen und mir vor einer B-17 gemacht hatte. Am nächsten Morgen warf ich den Umschlag mit zitternden Händen in den Briefkasten am Hauptbüro.