Maria war von Kindheit an gesegnet mit einem schon fast animalischen Pragmatismus. Reden war nicht ihr Ding. Praktisches Handeln zog sie langem Grübeln vor. Diskussionen waren ihr eine Qual. Vernunft war in ihren Augen eine theoretische Größe und Kategorie. Sie war ergebnis-, nicht vernunftorientiert. Maria war in den Augen der meisten kein hübsches Mädchen. Ihre Schönheit lag verborgen unter einer kratzbürstigen Wildheit, die kein Gefallenwollen kannte.
Das Unbändige machte sich vor allem im Winter bemerkbar. Man hätte glauben können, dass der dramatische Lebensauftakt und der Schock des ersten Atemzuges in der Eiseskälte ihrer Geburtsstunde bei Maria einen Grausen vor Kälte und Schnee ausgelöst haben müssten, aber das Gegenteil war der Fall. Sie liebte die Kälte, sie liebte das Eis, und sie liebte den Schnee. Sie liebte es, auf spiegelglatten Flächen talwärts zu rasen. Es verging kein Jahr, in dem nicht ein Schlitten oder ein Schi zu Bruch ging. Und viele Jahre später, als sie ihr erstes Auto erstand, einen grasgrünen, acht Jahre alten Ford Escort mit Hinterradantrieb, liebte sie es, auf den Schneefahrbahnen durch die Kurven zu driften und auf den Parkplätzen Pirouetten zu drehen. Sie war und blieb ein Winterkind.
Weil ihr die Kälte nichts ausmachte, bekam sie von ihrem Vater, der ihr zum Einschlafen gerne vogelwilde Indianergeschichten erzählte, den Spitznamen Eskimo. Das war für Maria innerhalb der Familie kein Problem. Es sprach sich jedoch bis in den Kindergarten herum, wo es eines Tages zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kam. Nachdem sie mehrmals darauf bestanden hatte, bei einem ihrer richtigen Vornamen genannt zu werden — sie stellte es allen frei, bei welchem —, einer der Buben jedoch nicht damit aufhörte, sie weiterhin Eskimo zu nennen, stürzte sie sich auf ihn, und es begann eine wilde Prügelei, die damit endete, dass sie ihrem Gegner ein Büschel Haare ausriss, diese wie eine Trophäe schwenkte und dabei schrie, sie würde alle skalpieren, die sie weiterhin Eskimo nannten. Damit war die Sache gegessen.
Die ersten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte Eva Maria Magdalena Neuhauser in einem beschaulichen Dorf am oberen Ende eines vom Gletscher gespeisten Bergsees. Gegen Süden verhinderten abweisende, meist senkrechte Felswände ein Entkommen. Es bedurfte eines mehrstündigen, steilen Aufstiegs, um das Plateau zu erreichen, und noch eines ganzen Tagesmarschs, um es zu überqueren und die nächste Siedlung zu erreichen. In Richtung Norden verwehrten steile, bewaldete Flanken den Blick auf das untere Ende des Sees. Eine schmale, wegen Steinschlag- und Lawinengefahr im Winter oft gesperrte Straße war die einzige Nabelschnur zur Welt da draußen. Abgesehen von einer sommerlichen Schiffsverbindung.
Wie ein Fjord lag er da, der See. Seine schwarzgrünen Wasser lockten selbst an heißen Sommertagen nur wenige abgehärtete Einheimische zum Schwimmen. Der Ort markierte für alle, die sich hierher verirrten, das Ende der Welt. Für die hier Aufgewachsenen bedeutete er den Anfang.
So war es zumindest bis vor kurzem. Dann kam der Touristen-Tsunami, der Kolonnen von Reisebussen und scheinbar nie versiegende Völkerschaften fremder Menschen aus aller Damen und Herren Länder, vor allem aber aus dem fernen Osten in den Talschluss spülte. Es fehlten nur die Kreuzfahrtschiffe. Aber zum Glück war es eben doch kein Fjord.
Die Besucher waren wie ein Befall. Man muss jetzt nicht gleich an Läuse denken. Es reicht auch das Bild von Schmetterlingen. Ein großer Schwarm bunter Schmetterlinge, der jeden Tag das Dorf befällt. Jahrein, jahraus. Den Gastwirten gefiel das natürlich, jedenfalls den meisten. In der Biologie ist der Wirt ein Organismus, der einen als Gast bezeichneten artfremden Organismus mit Ressourcen versorgt. Wenn es zum beiderseitigen Vorteil ist, nennt man das eine Symbiose. Wenn die Wirt-Gast-Beziehung zu Ungunsten des Wirtes geht, wird der Gast zum Parasiten. Ab einer gewissen Anzahl werden auch bunte Schmetterlinge zu Schädlingen. Inzwischen lässt man die Bevölkerung durch den Abtransport der Ausscheidungen homöopathisch am Aufschwung teilhaben.
Damals, wie gesagt, war alles noch abgelegen, versunken, versponnen, verträumt und geheimnisvoll. Nur wenige Reisende verirrten sich hierher, und auch das nur in den Sommermonaten.
Georg Neuhauser, Marias Vater, arbeitete für die örtliche Seilbahn, die im Sommer Ausflügler und im Winter einheimische Schifahrer hinauf auf den Berg brachte. Marias Mutter hieß Mathilde und hatte eine Anstellung im an die Bergstation angebauten Hotel. Dort oben, jenseits der Baumgrenze und mit grandiosem Blick auf das Ende der Welt einerseits und ihren vergletscherten, sonnenbeschienenen Anfang andererseits, fanden Georgs und Mathildes Herzen zueinander — und in Folge bald auch ihr genetisches Erbgut.
Maria kam im tiefsten Winter auf die Welt. Ihre Eltern waren an jenem Tag die Einzigen oben am Berg. Man schrieb den 5. Jänner 1962, der Abend vor dem Fest der Heiligen Drei Könige. Georg hatte Dienst als Maschinist, und Mathilde wollte in ihrem Zustand an seiner Seite sein.
Es war eine Woche vor dem Geburtstermin. Draußen hatte es minus fünf Grad, und die Schneeflocken tanzten romantisch vom Himmel. Gegen Mitternacht pfiff bereits der Wind und rüttelte an den Fensterscheiben, obwohl sie von den Verwehungen schon fast zugewachsen waren. Da spürte Mathilde die erste Wehe. Georg lag schlafend neben ihr im Bett. Sie wollte ihn schon wecken, da verebbten die Schmerzen wieder. Vielleicht war es ja nur eine Verspannung. Sie wartete. Die nächste Welle ließ nicht lange auf sich warten. Mathilde begann stoßweise zu atmen, und Georg wurde von selber wach. Als er die Situation erfasste, war es mit seiner sonstigen Gelassenheit und Zuversicht vorbei. Er telefonierte gleich mit dem Betriebsleiter im Tal und bestand darauf, seine Frau mit einer Sonderfahrt hinunterzubringen, damit ein Arzt ihr beistehen könne. Entgegen Mathildes Flehen, sie jetzt bitte nicht alleinzulassen, schleppte er zuerst eine Matratze in die vereiste Gondel und verfrachtete sie dann, eingepackt in zwei Daunenjacken und unter einem Berg von Decken, in die mit Eiskristallen überzogene, klirrend kalte Blechkabine. Er verriegelte von außen die Tür, rannte zum Steuerstand, setzte die Maschine in Bewegung und löste die Festhalteklammer. Die Gondel glitt zwischen den Felsen in die Tiefe und war nach wenigen Sekunden aus dem Lichtkegel des Scheinwerfers im dichten Schneetreiben verschwunden. Georgs Augen flogen prüfend über die Instrumente. Stromspannung, Zugseilgeschwindigkeit, Tragseilvibrationen, alles war im erlaubten Bereich, nur der Windmesser machte ihm Sorgen. Bei manchen Böen schnellte er auf über achtzig Kilometer pro Stunde. Das Thermometer zeigte hier oben inzwischen minus siebzehn Grad. Weiter unten war es sicher nicht so schlimm.
Mit einem Male verstummte das dröhnende Surren hinter dem Steuerstand, und das große Umlenkrad, über welches das Zugseil lief, stand mit einem heftigen dumpfen Schlag still. Der Sturm heulte ungebrochen weiter, aber das Singen der Seile änderte die Frequenz, und beide Stahltrosse, das Zug- wie auch das Tragseil, begannen mit großer Amplitude wild auf und ab zu tanzen und schnalzten, begleitet von bedrohlichen Klängen, die an Glockenschläge erinnerten, gegen die Führungsschienen. Ein Blick auf die Instrumente sagte Georg, dass in der Gondel kurz vor der ersten Stütze eine Notbremsung ausgelöst worden war.
Genau so war es. Während der Talfahrt hatte der Sturm die Kabine in eine immer extremere Schräglage gedrückt, sodass sie, beinahe waagrecht am Seil hängend, gegen die Mittelstrebe der nächsten Stütze gekracht wäre, hätte Mathilde nicht geistesgegenwärtig den Notknopf gedrückt.
Und dort oben, hoch über den Felsen schaukelnd, vom Sturm gerüttelt, als würde ein Dämon sie in den Abgrund schleudern wollen, begleitet vom vielstimmigen Geheul des Sturms und mit jenem Gebet in ihrem bangen Herzen, das Mathilde von ihrer Großmutter als Kind gelernt hatte, wenn sie Trost und Zuspruch gebraucht und gesucht hatte, nämlich mit der Bitte um den Beistand der heiligen Gottesmutter Maria, brachte sie ihr Kind zur Welt und nannte es aus Dankbarkeit an die weibliche Heilige Dreifaltigkeit: Eva Maria Magdalena.
Als Maria ins Schulalter kam, siedelten die Neuhausers ins Tal, und als sie zehn Jahre alt und mit der Volksschule fertig war, zog die Familie in die nahe, ehemalig kaiserliche Kurstadt, wo es eine Mittelschule gab. Ihr Vater hatte dort eine Anstellung bei den Bundesforsten gefunden, und Marias Mutter kümmerte sich nun statt um Schifahrer und Bergsteiger um Kind, Mann und Garten.
Gerne hätten sie Maria auch auf die Universität geschickt und studieren lassen, Wirtschaft oder Jus. Sie war gut im Lernen, tat sich mit Zahlen leicht. Das Geld hätte auch irgendwie gereicht, aber Maria wollte nicht in die Stadt ziehen. Man entschied sich also dazu, das Mädchen in die gerade neu errichtete Handelsakademie zu schicken. Sie lag in Gehweite, und von allen Klassenzimmern aus hatte man einen großartigen Blick auf den Talschluss.