Wäre es nach Herwig gegangen, hätten wir unser Gespräch erst beendet, nachdem bei einem von uns der Akku erschöpft gewesen wäre. Ich mag es, mit Menschen zu reden, aber ich telefoniere nicht gerne.
Eigentlich wollte ich Herwig den Brief ja mit der Post zuschicken. Nachdem er begonnen hatte, mich mit seinen Fragen zu überschütten, und meinen Unwillen spürte, auf all das am Telefon einzugehen, schlug er vor, mich zu treffen, das heißt, er bestand darauf und bot mir auch gleich an, die Zugreise zu bezahlen sowie für eine Unterbringung aufzukommen. Neugierig geworden, ihn kennenzulernen, willigte ich ein.
Die Fahrt dauerte sieben Stunden. Es war ein kalter Februartag. Als der Zug vom Bahnsteig abfuhr, ging gerade die Sonne auf. Sie schien trübe und kraftlos durch das linke Fenster meines Abteils, um gleich darauf im nebligen Dunst zu verschwinden. Für den restlichen Tag schlich sie als heller Fleck hinter schneeschwangeren Wolken in einer flachen Bahn von Südost nach Südwest.
Als der Zug in die Festspielstadt einfuhr, zeigte sie sich noch einmal, bevor sie kurz danach hinter dem Horizont verschwand.
Herwig hatte gesagt, er würde in der Bahnhofshalle stehen. Dort gebe es eine Bäckerei, vor der würde er auf mich warten. Mit einer schwarzen Wollmütze, und für den Fall, dass es noch andere schwarzbemützte Männer gäbe, halte er eine Zeitung in der Hand. Eine Furche. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Leser dieses Blattes zur selben Stunde am selben Ort stünden, meinte er, sei statistisch vernachlässigbar.
Die Zeitung hätte es nicht gebraucht. Es gab unter den Wartenden nur einen einzigen Herrn mit schwarzer Wollmütze.
Ich weiß nicht, warum, denn Maria hatte sein Äußeres nie beschrieben, aber ich hatte ihn mir kleiner, auf jeden Fall untersetzter vorgestellt und rundlicher, wahrscheinlich auch älter. So wie er dastand, in seinen olivgrünen Cordjeans und schwarzem Anorak, hätte ich ihm nicht viel mehr als fünfzig Jahre gegeben. Sein Gesicht war glattrasiert, und die hellen Augen tasteten flink über den Strom ankommender und abreisender Menschen. Nur die nach unten weisenden Mundwinkel und eine über die Mitte der Stirn hin zur Nasenwurzel gezogene Falte ließen auf den Kummer schließen, der ihn seit sechs Monaten begleitete. Ich ging auf ihn zu und sprach ihn an: »Herr Berger?« Erleichterung gemischt mit Staunen huschte über sein Gesicht. Er hatte sich mich auch anders vorgestellt, wie er mir später gestand. Er nahm die Mütze ab, und darunter kamen mittellange strubbelige brünette Haare zum Vorschein. Er streckte mir die Hand entgegen. »Gott sei Dank, dass es geklappt hat. Ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind.« Sein Blick fiel auf meinen Rucksack. Ich konnte seine Gedanken lesen.
»Der Brief. Ja, er ist da drinnen. Wollen Sie ihn gleich haben?«
»Nein, nein. Ich habe so lange auf eine Nachricht gewartet, da kommt es auf ein paar Minuten mehr nicht an. Kommen Sie. Wir haben eine Stunde Autofahrt vor uns. Da haben wir Zeit und Gelegenheit zu reden.«
Sein Auto stand in der Tiefgarage. Es war Marias Volvo. Ich erkannte ihn an der verbogenen Antenne und den Aufklebern an der Heckscheibe.
»Sie kennen dieses Auto?«
»Ja. Maria und ich sind damit zusammen nach Griechenland gefahren.«
Ich fragte ihn, wie er wieder zu dem Wagen gekommen sei. Er startete den Motor.
»Ich bekam eine Nachricht von der Polizei aus Saloniki und habe ihn dort abgeholt.«
»Wann war das?«
»Vor drei Monaten. Letzten November war ich dort.«
Wir verließen die Garage. In der Zwischenzeit war es dunkel geworden, und es hatte auch begonnen zu schneien. Nachdem wir uns in den Verkehr eingeordnet hatten, folgte die Straße stromaufwärts einen Fluss entlang.
»Können Sie bis morgen bleiben?«
»So lange Sie möchten, wenn Sie die Kosten tragen. Ich habe niemanden, der auf mich wartet, keine Haustiere, die gefüttert, und auch keine Pflanzen, die gegossen werden müssen.«
»Das ist gut. — Ich meine nicht, dass niemand auf Sie wartet. Sondern dass Sie bereit sind, sich die Zeit für mich zu nehmen. Danke.«
Die Schneeflocken waren riesig und schmolzen im selben Augenblick, wo sie den Boden oder die Scheiben berührten. Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, wurden die Flocken im Scheinwerferkegel kleiner und stabiler. Die Straße führte durch eine tiefwinterliche Landschaft. Links und rechts lag eine durchgehende Schneedecke. Außerhalb der Ortsgebiete waren wir umgeben von Dunkelheit. Hie und da sah man in der Ferne die beleuchteten Fenster eines abgelegenen Hofes. Streufahrzeuge und Schneepflüge warfen gelbe, rotierende Warnlichter durch die Finsternis.
»Wie sind Sie zu dem Brief gekommen?«
»Er lag vor zwei Tagen in der Post. Es war mit griechischen Briefmarken frankiert und ohne Absender.«
Ob ich den Inhalt des Briefes kenne? »Sie hat mich in einem beigelegten Brief darum gebeten, ihn zu lesen.«
»Könnten Sie ihn mir vorlesen?«
»Jetzt?«
»Ja.«
»Ich glaube, das ist keine gute Idee. Denn mir wird sofort schlecht, wenn ich während der Fahrt lese. Dazu müssten Sie anhalten. Dann können Sie ihn aber gleich selber lesen. Und das sollten Sie auch, und zwar in Ruhe und wenn Sie alleine sind. Es ist ein langer Brief.«
Schweigend setzten wir durch nun entstehenden Nebel unsere Fahrt fort. Scheinwerferkegel entgegenkommender Autos huschten über unsere Gesichter. Herwigs zusammengekniffene Augen fixierten die Fahrbahn, seine Lippen waren aufeinandergepresst. Vielleicht lag es an den Lichtreflexen. Aber für einen flüchtigen Moment schien es mir, als stünden Herwig Bergers Augen unter Wasser. Nach einer Weile begann die Straße anzusteigen. Sie wurde steiler und der Himmel immer heller. Als wir über eine Kuppe rollten, durchbrachen wir den Nebel und blickten auf ein Meer aus silbrig flauschigem Gewölk, über dem ein wachsender Halbmond stand. In der Ferne sah man die Lichter einer Stadt mit zwei Kirchtürmen. Herwig räusperte sich. »Da vorne ist unser Ziel.«
Das Hotel, in dem Herwig ein Zimmer für mich gebucht hatte, lag in der Straße, wo er wohnte. Ich holte meinen Rucksack von der Rückbank und überreichte ihm Marias Brief. Er nahm das Kuvert vorsichtig und mit beiden Händen in Empfang, als wäre es etwas Zerbrechliches. Er hielt den Atem an und ich mit ihm. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, als würde er mir den Brief zurückgeben wollen. Doch dann ließ er seine Angst mit der Luft aus sich herausströmen, und ich sah ihn zum ersten Mal an diesem Abend lächeln.
»Sollen wir morgen zusammen frühstücken? Wenn Sie wollen, gerne bei mir. Ich besorge uns frische Semmeln und hole Sie ab. Wäre neun Uhr okay, Frau …?«
»Sagen Sie doch einfach Lisa. Frühstück bei Ihnen ist wunderbar. Neun Uhr auch. Ich werde bereit sein.«
Mein Zimmer wies nach Süden. Ich öffnete die Vorhänge. Vor mir glitzerten die Wellen und vereisten Ufersteine eines Flusses. Alle Häuser auf der anderen Seite bis auf eines waren unbeleuchtet. Die Berge ringsum lagen im Gegenlicht des Mondes. Hinter jedem Berg erhob sich ein weiterer, noch höherer, noch mächtigerer, und dahinter wieder einer. Licht fiel nur auf die Grate und Gipfel. Ihre mir zugewandten Flanken lagen im Schatten. Die Wolken hatten sich inzwischen fast zur Gänze verzogen. Nur noch im äußersten Süden, ganz hinten am Horizont, verhüllte ein letzter Bausch den allerhöchsten Gipfel. Dort schimmerte auch eine große Schneefläche. Vor meinen Augen lag der nächtliche, vom Mondlicht beschienene Gletscher, von dem Maria erzählt hatte. Ja, das musste er sein. Jener Gletscher, auf dem Herwigs Mutter ihr Leben gelassen hatte.
Das Hotelzimmer hatte eine Badewanne. Ein Luxus, den meine Wohnung leider nicht bot. Ich nahm ein heißes Bad und legte mich von Wärme durchdrungen ins Bett. Das Rauschen und Gurgeln des Flusses umhüllte meine Träume und versetzte mich in einen tiefen Schlaf.