Die Schule, die Nora für ihr Praktikum zugewiesen bekommen hatte, lag auf dem Land, eine Fahrstunde von der Festspielstadt entfernt. Als sie sich am nächsten Tag in aller Herrgottsfrüh zum Busbahnhof aufmachte, war sie noch immer gekränkt und wütend auf Per. Diese eingebildeten Kulturfritzen, diese wohltemperierten Snobs, diese Klassikklone. Sie ärgerte sich so sehr, dass sie keinerlei Sinn für die Schönheit der Landschaft hatte, die an ihr vorbeizog, die beschaulichen Dörfer, die bewaldeten Anhöhen, die stetig höher und immer mehr zu Bergen wurden. Nicht einmal die türkisblauen Wasserflächen der Seen schafften es, ihre Gedanken abzulenken, und auch die friedliche Heiterkeit des kleinen Städtchens am Zusammenfluss zweier Wasserläufe erreichte sie nicht. Vom Bahnhof zur Schule war es noch eine gute Strecke zu Fuß. Sie erkundigte sich nach dem Weg. Dort angekommen, fragte sie in der Direktion nach Herwig Berger. Ja, den kannte man. Das war ein Kollege, aber an einer anderen Schule. Bis sie dort war, hatte der Unterricht schon begonnen, und Herwig war schon im Klassenzimmer. Sie wartete bis zur Pause im Konferenzzimmer. Mit dem Läuten der Glocke beschleunigte ihr Herz die Schlagzahl. Die Tür ging auf, und eine Lehrkraft betrat den Raum. Nora sprang auf: »Herr Berger?« Der Mann schüttelte den Kopf und setzte sich wortlos an einen der Schreibtische. Sie nahm wieder Platz. Die Minuten tropften zäh von der Uhr über der Tür. Sie merkte, wie der Mann sie aus den Augenwinkeln heimlich beobachtete, und wollte ihn gerade fragen, ob er vielleicht wisse, wo sie Herrn Berger finden könnte, da öffnete sich erneut die Tür. Der Mann blickte auf und sagte mit einer Kopfbewegung, die auf Nora wies: »Du hast Besuch.«
Es wäre nicht nötig gewesen. In dem Moment, wo sich ihre Blicke trafen, hatten sie sich erkannt. Denn so ist das, wenn zwei Seelen sich begegnen, die eine gemeinsame Geschichte haben, auch wenn diese weit zurück oder in diesem Fall erst vor ihnen lag. Sie fühlten sich auf den ersten Blick einander zugehörig.
Es war für Herwig Berger bis jetzt kein guter Tag gewesen. Er hatte Maria für einen gemeinsamen Kinobesuch gewinnen wollen und als Antwort ihre kühle Schulter bekommen. An einem schönen Spätsommertag wie diesem würde sie sich sicher nicht in ein muffiges Kino setzen. Sie habe außerdem schon was vor. So was müsse er ihr schon am Tag vorher sagen.
Nachdem er Nora gefragt hatte, was sie sich für ihren ersten Unterricht überlegt habe, und mit ihrer Vorbereitung zufrieden war, stellte er sie der Klasse vor und ließ sie dann allein.
Die Nachbesprechung verlegte Wig ins Café Gschwandtner. Es lag am Ende der Flusspromenade. Die Terrasse war trotz des herrlichen Wetters nur spärlich besucht, und sie bekamen einen Tisch direkt am Ufer unter einem Kastanienbaum. Nora bestellte sich ein Soda Zitron, Wig nahm einen weißen Spritzer.
»Erzählen Sie, Frau Hansen. Wie ist es Ihnen gegangen?«
»Gut. Es ist eine tolle Klasse. Sie haben sich jedenfalls von ihrer besten Seite gezeigt.«
Dann beschrieb sie Wig ihre Unterrichtsplanung und welche Ziele sie sich gesetzt hatte. Wig lobte ihre Vorbereitung und gab ihr ein paar Ratschläge, was die schulinternen Gepflogenheiten betraf. Abschließend stellte er ihr noch eine private Frage.
»Sie haben eine nordische Klangfarbe, wenn Sie reden. Ihr Name, Frau Hansen, Sie verzeihen meine Neugier, ist er skandinavisch?«
Nora blinzelte in die Sonne und schien zu schmunzeln. Das ermutigte Wig nachzusetzen: »Sind Sie ein Nordlicht?« Jetzt war es zweifelsfrei ein Lächeln. Wigs Herz machte einen Zwischenschlag, denn es war ihm schon lange nicht mehr gelungen, eine Frau zum Lächeln zu bringen. Er hatte es auch schon lange nicht mehr drauf angelegt. Im Laufe der Jahre war aus seinem einst leichtfüßigen und ansteckenden Humor hintergründiger Spott geworden.
»Das mit der Klangfarbe haben Sie richtig erkannt. Ich bin in Norwegen aufgewachsen. Meine Mutter ist von dort. Aber der Name ist der meines Vaters. Er ist Deutscher. Warum? Ist das wichtig?«
»Nein, natürlich nicht.« Wig lachte, nahm sein Weinglas in die Hand und prostete ihr zu. »Auf unsere Eltern.« Sie griff nach ihrem Soda Zitron und stieß mit ihm an: »Auf unsere Eltern.« Das Telefon in ihrer Tasche gab ein Geräusch von sich. Sie warf einen Blick darauf und sagte: »Ich muss mich verabschieden, mein Bus geht in einer halben Stunde.«
In diesem Augenblick verselbständigte sich etwas in seinem Sprachzentrum, und er hörte sich sagen: »Sie können mit mir fahren, wenn Sie wollen. Ich fahre ebenfalls nach Salzburg. Dort läuft ein Film mit Tom Hanks, den ich mir unbedingt anschauen will. ›Bridge of Spies‹. Ich lade Sie ein, mitzukommen, wenn Sie Lust haben.«
Sie hatte. Und so kam es, dass Wig an diesem Tag doch noch, zusammen mit Nora Hansen, in die Niederungen des Kalten Krieges eintauchte, an deren Ende, wie könnte es bei Tom Hanks anders sein, die Menschlichkeit obsiegte.
Nachdem sie sich mit Händedruck voneinander verabschiedet hatten, bekamen sie eine erste Ahnung von Sehnsucht. Sehnsucht nach Berührung. Und eine erste Ahnung von Verzweiflung ob der Unmöglichkeit einer angstfrei lebbaren Beziehung. Aber es waren nur Ahnungen. Gedanken, die man wegschieben konnte. Fürs Erste jedenfalls. Und Wig war es auch egal. Er war bereit, alles Leid auf sich zu nehmen für einen einzigen Kuss. Aber das hatte nicht einmal Jesus mit seinem Tod am Kreuz geschafft. Auch wenn es ihm angedichtet wird.
Seit seine Frau nicht nur das Bett, sondern das ganze erotische Spielfeld vermint hatte, spielte sexuelle Lust in Wigs Leben keine Rolle mehr. Vor diesem Hintergrund gelang es Wig eine Zeitlang, Noras körperliche Anziehung auszublenden. Sein Nervensystem hatte jedoch von Anfang an die Weichen auf Berührung gestellt, und wäre es nach seinem Herzen und seiner Körpermitte gegangen, hätte er sie schon am ersten Abend, während des Abspanns im Kino, geküsst.
Und wäre Maria aufmerksamer gewesen, hätte sie die Veränderung bemerkt. Wig begann sich anders zu kleiden, flotter, sportlicher und bunter. Er tauschte die Schnürlsamthosen gegen Jeans, El-Naturalista-Öko-Schuhe gegen schicke Eccos und ließ sich die Haare kurz schneiden. Er verlor in wenigen Wochen überschüssiges Körpergewicht. Und wer ihn morgens bei der Haustür hinausgehen sah, wurde angesteckt vom Lächeln, mit dem er der Welt und dem Tag entgegentrat.
Vor allem Nora ließ sich davon anstecken. Sie freute sich auf die wöchentlichen Jours fixes im vertraut gewordenen Café Gschwandtner mit ihm. Sie freute sich, wenn er während des Unterrichts in die Klasse kam. Sie bewunderte seine Souveränität, den uneitlen, respektvollen Umgang mit den Kindern, die Zuneigung, die er ihnen entgegenbrachte und die sie ihm zurückgaben. All dies verzauberte Nora, und aus der schon bei der ersten Begegnung spürbaren Hingezogenheit wurde ein Zustand der Verliebtheit. Die Melancholie, die ihn umgab, und nicht zuletzt seine Zurückhaltung und manchmal süße Unbeholfenheit im persönlichen Umgang mit ihr trugen nicht unwesentlich dazu bei. Es verlieh ihm eine Aura der Unnahbarkeit und weckte bei Nora den Wunsch, diese zu durchbrechen. Sie wollte ihn erobern.
Für Wig war sie seit jenem Moment unten am Fluss, als sie lächelnd in die Sonne blinzelte, zur Traumfrau geworden. Ihr Bild legte sich über seinen Alltag und versüßte ihm die bitteren Augenblicke zu Hause.
Allein das Gewicht des Altersunterschiedes hielt den Deckel der Phantasie fest verschlossen. »Sie könnte deine Tochter sein«, sagte er sich immer dann, wenn er in den roten Bereich kam. Und Nora ging es nicht anders. Es gab flüchtige Berührungen, die sie beide stets als zufällig abtaten. Hoffend, dass es nicht so war.
Sechs Monate später, an einem spätwinterlichen Gründonnerstag, lagen Wig und Nora hingegossen und erfüllt von samtigem Wohlgefühl auf dem Bett in ihrer Garçonniere. Vereint in einem paradiesischen Halbschlaf, den nur ein langes, beglückendes Liebesspiel zu spenden vermag. Noras rotblondes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern und umrahmte die entspannten Züge. Die Luft war getränkt mit dem Atem der Leidenschaft und dem Duft ihrer Jugend. Sie lag auf dem Bauch, einen Arm über den Kopf gestreckt, das Gesicht zu Wig gewandt. Ihre Augen waren geschlossen. Die helle Haut ihres Busens zeichnete eine sinnliche Kurve auf das dunkelbraune Bettlaken. Wigs Blick glitt über die Schultern und die Wölbung ihres Hinterns hinab bis zu den Zehen. Wenn es Gott gab, dann war Gott eine Frau, und sie lag gerade neben ihm.
Wig gab einen Brummton von sich. »Was ist?«, murmelte Nora, ohne die Augen zu öffnen. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ihm eine irritierende Frage durch den Kopf gegangen sein musste.
Nora hatte nach dem Abbruch ihrer Beziehung mit Per aufgehört, die Pille zu nehmen. Die erotischen Stunden mit Wig kamen da zur Unzeit. Aber sie gewöhnten sich daran aufzupassen. Mit Ausnahme jener Tage, wo Nora ihre Monatsblutung hatte. Für Wig war es mehr Einschränkung als für Nora, aber er konnte gut damit umgehen und fand sogar Gefallen daran.
Sie öffnete die Augen, blickte ihn an und wiederholte ihre Frage: »Woran denkst du?«
»Was ist, wenn du schwanger wirst?«
»Gott behüte! Du bist doch nicht …«
Wig lachte. »Nein, nein. Alles gut. Mach dir keine Sorgen. War nur so ein Gedanke. Außerdem muss es heißen: Gott verhüte!«
Noras Haltung zum Leben war nicht so kompliziert wie die von Herwig Berger. Während der zweiwöchigen Weihnachtsferien war sie sich zum ersten Mal einer Sehnsucht nach ihm bewusst geworden, und als ihr ein Monat später die Semesterferien erneut eine Abstinenz bescherten, rief sie ihn kurzerhand an, ob er samstags nicht Lust auf einen Kinoabend hätte.
Maria war das Wochenende über in Südtirol Schi fahren. Ein Betriebsausflug, wie sie sagte. Wig war zu allem bereit.
Diesmal ging es nicht um den Kalten, sondern um einen heißen Krieg. Allerlei mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Kreaturen hinterließen eine Spur der Verwüstung, aber die Sache gipfelte letztendlich doch in der Rettung der Menschheit. Nach dem Film hatte Nora Herwig einfach mit nach Hause genommen. Narr, der er war, ging er mit.
Es war das erste Mal, dass sie allein in einem Raum waren. Bisher waren ihre Gefühle unter der unauffälligen Zensur der Öffentlichkeit gestanden. Wie sehr, wurde ihnen jetzt erst bewusst. Es war, als hätten sich die Pole eines Magneten gedreht. Jene Kräfte, die sie bisher auf Distanz gehalten hatten, wirkten nun wie ein Sog. Sie standen sich nur kurz gegenüber, dann umarmten sie sich zum ersten Mal, ohne Argwohn oder Absicht, und es war, als fiele alles an seinen vorbestimmten Platz. Es regnete Botenstoffe des Glücks, und von da war es nur noch ein kleiner Schritt, dass sich ihre Lippen berührten.
Ohne den Blick voneinander abzuwenden, stolperten sie zum Bett und schliefen aus Selbstschutz so, wie sie waren, eng umschlungen ein. Es reichte ihnen vorerst, davon zu träumen, was sein könnte, aber nicht sein durfte. Wange an Wange, im Herzschlag vereint und die Atemluft teilend, vereinigten sich ihre Seelen. Und weil Alter angesichts der Unsterblichkeit von Seelen keine Bedeutung hat, jedenfalls nicht dieselbe wie für den endlichen Menschen, waren von nun an auch die dreiunddreißig Jahre Altersunterschied kein Hindernis mehr. Das Ereignis ihres feinstofflichen Beischlafs verdampfte auch die gesellschaftlichen Moralvorstellungen der grobstofflichen Welt. Alle Schlagbäume hoben sich und gaben den Weg frei in die Schwerelosigkeit.
Nur lässt es sich auf Dauer darin nicht leben. Zumindest nicht für Menschen. Aber für Engel ist das kein Problem, und immer, wenn sie zusammen waren, betrachteten sie sich gegenseitig als solche.
Nun erinnerte sich Wig an jene erste Nacht bei Nora, und das Bild von Scarlett Johansson tauchte auf. Sie hatte in dem Fantasy-Film eine Figur namens Natasha gespielt und an einer Stelle gesagt: »Nichts ist für die Ewigkeit.« Warum fiel ihm das jetzt ein?
Er dachte an seine Jugend und suchte nach den Veränderungen. Sein Leben war im Laufe der Jahre verschnörkelt und barock geworden. Es gab nichts mehr, das ihn überraschen konnte. Jedenfalls dachte er das. Er hatte seine verlorengegangene Naivität vermisst. Naivität war das Privileg der Jugend. Und wenn es etwas gab, das er am Älterwerden nicht leiden konnte, so war es der Verlust seiner Naivität.
Warum sollte das ein Verlust sein? Wie konnte durch Mehrung, in dem Fall von Wissen, ein Verlust entstehen? Erich Fromms Diktum, jedes Stück Haben sei ein Stück weniger Sein, bekam eine neue Dimension. Wissen als Habe im Gegensatz zu Naivität als Sein? Der Unterschied zu damals war, dass er jetzt um seine Naivität wusste. Sonst war alles wie früher. Was sollte sich da auch ändern? Mann und Frau, Testosteron und Östrogen, Haut auf Haut, Phallus und Vulva, füreinander geschaffen. Von Gott oder aus sich heraus.
Jahrelang hatte er Erotik komplett aus seinem Leben ausgeblendet. Nora hatte die Tür wieder weit aufgestoßen. Seit der ersten Liebesnacht wanderten seine Gedanken immer wieder in ihren Schoß. Er konnte und wollte die Vorstellung auch gar nicht unterdrücken. Er wollte ihre Lust entfachen, sich ihr hingeben, in sie eindringen, sich mit ihr ineinanderschlingen, sie verschlingen und von ihr verschlungen werden. Ihr in die Augen und in die Seele schauen, den Kreis schließen.
Ja, sie hatten sich gefunden. Es war ein herrlicher Sonnenaufgang, aber es war, aller Einzigartigkeit zum Trotz, einer von vielen. Der Gedanke tat weh. War der Mensch doch auf der Suche nach dem Absoluten, nach dem Nicht-Austauschbaren.
Jahre später, wenn sie auf diesen Lebensabschnitt zurückblickten, wurde ihnen beiden klar, dass es, wenn auch vielleicht nicht die wichtigste, so doch mit Sicherheit die schönste Zeit ihres Lebens war. Es war eine Zeit außerhalb der Zeit. Damals genügten sie sich selbst. Der Rest der Welt war Hintergrund, austauschbare Kulisse, er zog vorbei wie die Landschaft, wenn man im Zug sitzt, und sie hatten ein Abteil ganz für sich alleine, mit einer Fahrkarte bis ans Ende der Welt. Nur das mit der Unendlichkeit war so eine Sache. Sie ist gedacht für das, was über das Menschsein hinausgeht.
Ein Jahr später bekam die Sache eine Wende. Oskar tauchte wieder auf. Für Wig war es, um beim Bild zu bleiben, als würde jemand zusteigen und es sich im selben Abteil bequem machen. Oskar war auch ein Reisender ohne Ziel. Treibend, nicht getrieben. Die Arbeit als Fremdenführer hatte ihm ein gesichertes Einkommen und damit die Unabhängigkeit von seinen Eltern beschert sowie seinen kommunikativen Knoten gelöst. Er war, wenn schon nicht eloquent, so doch gesprächig geworden, manchmal sogar unterhaltsam, und er befuhr zwar noch immer gerne die schäumenden und tosenden Oberläufe von Flüssen, aber er hatte in seine Sammlung von Wildwasserkajaks nun auch ein familientaugliches Kanu aufgenommen. Ein offenes Boot, mit dem man gemeinsame Fahrten auf den ruhigeren Abschnitten unternehmen konnte. So ergab es sich an einem den Sommer vorwegnehmenden und für die Jahreszeit viel zu warmen Tag im Mai, dass Oskar einen neuen Anlauf nahm, Nora für sich zu gewinnen. Sie saß bei einer Tasse Kaffee und überflog ihre Post. Über der Stadt hatte das morgendliche Siebenuhrgeläut gerade angefangen, sich auszubreiten, sodass es eine Weile dauerte, bis sie ihre Türglocke wahrnahm. Nora sprang zum Fenster und blickte nach unten. Da stand er, das Auto in zweiter Spur geparkt, auf dem Dach sein neu erworbenes, flaschengrünes Kanu festgezurrt, und rief ihr winkend zu, ob sie Lust hätte, mit an den See zu fahren.
Wenn Wig sie etwas gelehrt hatte, so war es, das Leben als Abenteuer zu sehen. Nicht nur in die Tiefe, sondern ab und zu auch in die Weite zu gehen.
Die Felder rings um den See leuchteten in saftigem, hellem Frühlingsgrün. Löwenzahn und Bocksbart streuten ihre dottergelben Blüten dazwischen. Ein schlankes Segelboot trieb gemächlich von der Thermik getrieben der Morgensonne entgegen. Oskar hatte an alles gedacht, Isomatte, Jausenbrote, eine Flasche Wein, zwei Trinkbecher … Es war ein Tag zum Küssen und in den Himmel schauen.
Erst als es kühl wurde, packten sie zusammen und fuhren zurück in die Stadt. Oskar hatte noch immer dasselbe Basislager wie schon vor zwei Jahren. Aber seine Wohnung vermittelte nicht mehr das Gefühl eines Fuchsbaus wie damals. Die Wände waren frisch gestrichen. Er hatte die Phase dunkler Erdfarben hinter sich gelassen und sein Lebensgefühl in Gelb und Grün getaucht. Der Plafond war in hellblauer Farbe ausgemalt mit weißen Schlieren, die wie Wolken aussahen. Sein Zimmer war die Fortsetzung der Frühlingswiese, und in diese ließ Nora sich nun fallen. Sie begann ein Doppelleben zu führen. Es entsprach dem Lebensgefühl ihrer gerade vollendeten sechsundzwanzig Jahre und nahm etwas von ihrer Wehmut, mit Wig wohl nie eine normale Beziehung eingehen zu können. Ihr Herz war groß genug für zwei Geliebte. Auch das hatte sie sich von Wig abgeschaut. Sie genoss es, von zwei Männern geliebt zu werden, und lernte das Jonglieren.
Und sie mutete es Wig zu, Kenntnis von ihrer neuen Beziehung zu haben. Sie fand es fair, ihm gegenüber und auch ihrer im wahrsten Sinne außerordentlichen Liebe gegenüber. Also erzählte sie Wig von ihrem Verhältnis, und dieser schlitterte in eine mittelprächtige Depression.
Oskar verschonte sie. Wobei verschonen nicht das richtige Wort ist, jedenfalls nicht in Bezug auf Oskar. Es war eher so, dass sie sich und die Beziehung zu ihm von der unvermeidlichen Schwere verschonte, die eine Eröffnung mit sich gezogen hätte. Eine bis in ihre Eingeweide gehende dunkelblaue Mondlicht-Liebe reichte ihr. Jene zu Oskar sollte im Sonnenlicht gedeihen dürfen.
Herwig, gefangen von ihrer Anmut und ihrer Hingabefähigkeit, war bereit, jeden Preis zu bezahlen, jeden Schmerz auszuhalten. Für eine Liebe ohne Plan und ohne Ziel, ohne Perspektive, eine Liebe ohne Zukunft. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie hatten kleine, bescheidene Mikroträume und dazu — nie ausgesprochen — einen verwegenen großen Traum, nämlich alles hinter sich zu lassen und am Ende der Welt einen Neuanfang zu machen.
Es war an einem jener seltenen und kostbaren Tage, die sie für sich allein hatten. Echtzeit, wie Herwig diese Stunden nannte, im Gegensatz zur virtuellen Wirklichkeit, die er mit Maria teilte. Auf dem Tisch ihres Hotelzimmers standen eine Flasche Schilchersekt und zwei Gläser. Nora und Herwig feierten den zweiten Jahrestag ihres Liebesbundes. Wig saß auf der Couch, die Füße auf dem Tisch, Nora lag im rechten Winkel daneben, den Kopf auf seiner Brust, und erzählte von ihrer Mutter.
Als sie fertig war, sagte er: »Lass uns zusammen wegfahren. Einmal länger zusammen zu sein als eine Nacht, als nur ein paar Stunden, wäre das nicht was?« Nora drehte sich und schaute ihn an. Dann strich sie mit dem Handrücken über seine Wange. »Ach, sag doch nicht solche Sachen. Wie sollen wir das denn je anstellen? Wir müssten eine komplizierte Lügengeschichte erfinden. So was kann ich nicht und mag ich auch nicht.«
»Wir müssten gar nicht lügen. Wir müssten nur das tun, was wir bisher auch getan haben, nicht die ganze Wahrheit sagen. Oskar ist doch Fremdenführer. Hast du nicht gesagt, er verdiene in der Karwoche so viel wie sonst in einem ganzen Monat? Er wird in der Zeit also sicher nicht verreisen wollen. Und Maria will über Ostern mit ihren Freundinnen durch Sizilien radeln. Das ist unsere Chance.«
»Aber wo könnten wir uns frei bewegen und sicher sein, nicht Menschen über den Weg zu laufen, die uns kennen?«
Wig verzog sein Gesicht zu einem verschmitzten Lächeln. »Lappland! Ich glaube, du solltest wieder einmal deine Mutter besuchen.« Nora legte den Kopf schief und schaute ihn von der Seite zweifelnd an.
»Wir könnten nach Tromsö fliegen, uns ein Auto mieten und uns dann Richtung Nordkap treiben lassen.«
Sie kniff Augen und Lippen zusammen. Dann drehte sie sich weg von ihm und blickte zum Fenster hinaus: »Hast du eine Ahnung, was das kostet? Norwegen ist die Schweiz Skandinaviens.«
»Ohne deren Bequemlichkeiten und Luxus, aber genauso teuer. Ich weiß, aber du hast doch immer erzählt, die Fjorde seien voller Fische. Wir werden uns das Essen angeln. Und vielleicht schenkt uns deine Mutter einen Rentierschinken.«
»Du hast ja einen Vogel!« Nora lachte und schubste ihn weg. Wig griff im Fallen nach ihrem Arm, und so kippten sie beide um und fanden sich Gesicht an Gesicht am Teppich wieder, Aug in Aug, Mund an Mund, in einem langen Kuss den Plan der Reise in den Norden besiegelnd.
Die Zeit in Lappland sollte ihre schönste und längste gemeinsame Zeit werden. Aber es war auch der Anfang vom Ende. Danach vergingen zwei Wochen, bis sie sich wiedersahen. Zwei ganze Wochen ohne Kuscheln, ohne Berührung, ohne Liebe, ohne Küsse, ohne Streicheln und Flüstern und all die Dinge, an die sie sich so gewöhnt hatten.
Trotzdem dachten sie, so weitermachen zu können wie zuvor, also ab und an zusammen essen, ins Kino, ins Theater oder in ein Konzert zu gehen und danach ins Bett. Ein Leben zwischen Sehnsucht und Erfüllung, zwischen Abstürzen und Abheben. Aber nachdem sie erlebt hatten, wie es sein könnte, wenn man sich nicht verstecken musste, wenn man sich nicht am Morgen oder gar noch in der Nacht verabschieden musste, zerbrach ihre Beziehung an Sehnsucht, oder vielmehr an der Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht.
Manchmal phantasierten sie noch von gemeinsamen Reisen. Auch wenn sie selber nicht mehr daran glaubten, wenigstens die Seele wollte weiterträumen.
Die wenigen Stunden, die sie zusammen verbrachten, fühlten sich irgendwann an wie Werbeunterbrechungen in ihrem Lebensfilm. Sie zeigten, wie es sein könnte, aber doch nicht war. War es zu schön, um wahr zu sein? Nein, sagten sie sich, nein und noch einmal nein! Es ist ja alles ganz wirklich. Der Frühlingsduft, die grenzenlose, hemmungslose Liebe. Das Leben in der Zeitlosigkeit. Wenn sie sich hatten, waren Vergangenheit und Zukunft ausgegrenzt. Erst wenn sie zu Hause waren, begann die Uhr wieder zu ticken, kamen Unrechtsgedanken und Zweifel auf.
Glück, dachte er bei sich, fühlt sich anders an. Glück braucht ein reines Herz. Wobei er zugeben musste, vor nicht allzu langer Zeit sehr wohl ein reines Herz gehabt zu haben und trotzdem nicht glücklich gewesen zu sein.
Stand seine Lust dem Glück entgegen? War Lustlosigkeit erstrebenswert? Oder das erträglichere, aber reizlose Mittelmaß? Er wollte und konnte es nicht glauben. Sein Glück war am vollkommensten, wenn Nora in seiner Nähe war.
Wenn sie in seinem Blickfeld war, verfolgte er hingerissen jede ihrer Bewegungen. Hörte er ihre Stimme, durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Strom. Das Schönste aber war, wenn er in ihre Augen blickte. Dann sah er nämlich, dass es ihr genauso ging.
»Glaubst du, wir könnten für immer glücklich sein?«, hatte ihn Nora einmal gefragt, und Wig hatte mit Nietzsches »Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit« geantwortet und hinzugefügt: »Ewigkeit ist leider keine Kategorie für Menschen, sondern für Götter. Unsere einzige Chance ist also, das Göttliche in uns nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn uns das gelingt, ist unsere Liebe …« Er suchte nach dem passenden Wort.
»Unkaputtbar!«, ergänzte Nora.
»Ja genau, unkaputtbar.«
Aber im Herbst desselben Jahres tat Nora einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Es war ein Schritt weg vom Abenteuer hin zur Normalität. Weg vom Ausnahmezustand und hin zur, ja sagen wir es ruhig, denn so viel Ehrlichkeit muss sein, hin zur Eintönigkeit. Sie wollte Sicherheit und festen Boden unter den Füßen, und sie bekam ihn, indem sie ihre Wohnung aufgab und bei Oskar einzog.
Wig gab sich tapfer, aber es trübte von nun an seinen Blick auf die Welt, auch wenn er Verständnis für ihre Entscheidung hatte. Er wusste, dass er mit Nora nie zusammenziehen und eine Familie gründen würde. Dazu fehlte ihm der Mut, man könnte auch sagen die notwendige Rücksichtslosigkeit; sowohl gegenüber Maria, die er trotz allem nicht loslassen konnte oder wollte, wie auch gegenüber Nora und sich selbst. Dem Gerede in der Stadt hätte man durch einen Ortswechsel entfliehen können, dem Altersunterschied auf Dauer nicht. Es war zum Verzweifeln.
Auch Nora haderte immer wieder mit ihrer Entscheidung. Am liebsten hätte sie mit beiden Männern unter einem Dach gewohnt. Oder mit einem Mann, der beide Qualitäten, die sonnige Unbekümmertheit von Oskar und die Gemütstiefe und Erotik von Wig, in sich vereinte.
Sie fanden nach wie vor Zeit und Gelegenheiten, einander zu sehen und zu lieben. Aber die Gelegenheiten wurden immer seltener. Statt miteinander über Gott und die Welt zu reden, schrieben sie sich E-Mails, diese gingen über in Kurznachrichten und endeten schließlich im ikonisierten Gefühlsaustausch. Dort ein Smiley, da ein Herz, je nach Stimmungslage rot, blau, durchbohrt oder gar gebrochen …
Wig begann sich überflüssig zu fühlen. Er kam sich vor wie ein Klotz an ihrem Bein. Sein Leben wurde zu einer 360-Grad-Depression. Dabei war sein Kopf so klar wie ein Bergsee. Seit Wochen rauchte er nicht mehr und trank keinen Tropfen Alkohol. Er haderte auch nicht mit seinem Schicksal, nur mit den Umständen.
Er ging in die Kirche, ein wenig Weihrauch schnüffeln, und um zu beten. »Frau, ich bin nicht würdig, dass ich eindringe in deinen Schoß, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« Wo immer er war, behielt er das Display seines Telefons im Blick. »Ein Kuss nur, so wird meine Seele gesund.« Hoffnung auf Erlösung hatte er keine, bestenfalls auf kurze Linderung.
Eines Abends, nachdem Nora zu Oskar gezogen war, traf sie sich mit Wig in einem Café in der Altstadt. Oskar war mit einer Gruppe Amerikaner in Tirol unterwegs und würde erst in zwei Tagen wieder zurück sein. Nora wollte Wig mit in die Wohnung nehmen, was dieser aber ablehnte. »Ich bring dich zur Haustür, aber hinauf komme ich nicht. Das musst du verstehen.« Vom Kaffeehaus zur Wohnung waren es vielleicht zehn Minuten. Wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegten, ließ Nora es nie zu, Hand in Hand oder gar Arm in Arm zu gehen. Diesmal hängte sie sich jedoch beim Versuch, ihn umzustimmen, bei ihm ein.
Als sie um die Ecke bogen, stand da Oskar vor der Haustür, der gerade nach dem Schlüssel suchte. Wig konnte gerade noch ihre Hand lösen und wegschieben, denn instinktiv drehte Oskar sich um. Ihre beiden Herzen setzten kurz aus. Noras sprang schneller wieder an. Sie schaltete blitzartig, lief auf Oskar zu und warf sich mit einem »Das ist aber eine Überraschung!« an seinen Hals, während Herwig unauffällig weiterging, als gehörte er nicht dazu. Und so war es auch, er gehörte nicht dazu.
Wig war sich sicher, von Oskar erkannt worden zu sein. Sie hatten zwar nur einmal Gelegenheit gehabt, sich kennenzulernen, aber dabei hatte er bestimmt einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es war bei einem Vortrag über die Bedeutung von »Sound of Music« für den Tourismus im Besonderen und für das Ansehen Österreichs im Allgemeinen. Sie hatten eine Kontroverse hinsichtlich der politisch schmeichelhaften Darstellung der Österreicher als Opfer des Nationalsozialismus. Ein Detail, das Oskar, wie er sagte, für vernachlässigbar hielt.
Es stimme sowieso nichts an diesem Stück außer die Kasse. Weder habe die Musik irgendetwas mit Österreich zu tun, noch die Darsteller. Selbst die Geschichte mit dem Kloster und der Novizin war erfunden. Also was soll’s?
Oskar hatte kein Problem mit der Verkitschung seiner Heimat. »Wenn die so blöd sind und das für bare Münze nehmen, wer bin ich, um die Münze zurückzuweisen? Wir sollten froh sein, dass es das Stück und den Film gibt. Nicht nur der Einnahmen wegen, sondern gerade wegen des Geschichtsbilds, das vermittelt wird.«
»Aber das ist eine historische Lüge.«
»Na und? Haben Sie noch nie gelogen? War Ihnen Ihr Wohlbefinden denn noch nie wichtiger als die Wahrheit?«
Diese Worte hallten gemeinsam mit seinen Schritten auf dem Pflaster durch Herwigs Kopf. Seine verrückte Liebe zu Nora, was anderes war sie denn als eine wohlige Lüge?
Nun waren sie also aufgeflogen. Dessen war er sich sicher. Oskar musste ihn erkannt haben. Zu heftig war die Auseinandersetzung gewesen, als dass sie und damit er, Herwig Berger, keinen Abdruck in seinem Gedächtnis hinterlassen haben konnten.
Auch Nora war sich sicher und wartete darauf, dass Oskar sie darauf ansprach, warum sie in Begleitung ihres Kollegen war und warum er so schnell verschwunden sei. Aber es kam nichts. Weder an jenem Abend noch an einem der nächsten Tage. Das Leben ging weiter wie vorher. Das heißt, nicht ganz. Denn von nun an war das Gefühl der Unrechtmäßigkeit ihres Tuns nicht mehr zu beschönigen. Nora betrog Oskar, und Wig betrog Maria. Betrügen war kein schönes Wort, aber es war die Wahrheit. Sie ließen beide ihre Partner im falschen Glauben, die Einzigen zu sein, und das Gefühl des Verrats färbte auch ihre Liebe ein. Wer zu einem Betrug fähig war, geriet unter Verdacht, auch andere Geheimnisse zu haben. Warum, so dachten sie nun voneinander, warum sollte es da nicht noch andere geben? Die Erkenntnis der Abgründigkeit ihrer leidenschaftlichen Beziehung ließ Herwig Berger nur noch dankbarer sein für alle gemeinsamen Stunden, für die, die in der Vergangenheit, wie auch jene, die hoffentlich noch vor ihnen lagen. Herwigs Großmutter hätte gesagt: kein Schaden ohne Nutzen.