Wig erinnerte sich daran, dass er auf den Posten kommen sollte. Also fuhr er zur Polizei. Das heißt, er musste sie erst einmal suchen. Wig wusste, dass sie letztes Jahr umgezogen war, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wohin. Er fand sie draußen vor der Stadt, an der Bundesstraße unweit der Audi-Werkstätte, und während er in der Sicherheitsschleuse wartete, um vorgelassen zu werden, fiel ihm ein, dass er ja seines fehlenden Führerscheins wegen hierher gebeten worden war. Dieser war aber nach wie vor mitsamt dem Volvo und Maria unauffindbar.
Der Blick der diensthabenden Beamtin wechselte konzentriert zwischen Monitor und Computer-Tastatur, während sie seine Aussagen protokollierte. Wig hatte ihr das meiste, aber nicht alles gesagt. Dass Maria zum Beispiel noch einmal zu Hause gewesen sein musste, behielt er für sich.
Immer wenn die Frau mit dem Tippen seiner Antworten beschäftigt war, studierte Wig ihr Gesicht. In ihrer unnahbaren Art erinnerte sie ihn ein wenig an Maria. Sie offenbarte ihre Schönheit nicht jedem. Das lag zum Teil auch an ihrer Frisur. Wig fand sie verunglückt, jedenfalls den Haarschnitt. Dass man es absichtlich so wollte, konnte er sich jedenfalls nicht vorstellen. Die Strähnen standen auf Kriegsfuß miteinander. Die ungleich langen Stirnfransen wirkten abgenagt und konnten unmöglich das Werk einer Schere sein.
»Es handelt sich bei der abgängigen Person um ihre Gattin, und Sie wollen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Habe ich das richtig verstanden?« Das Wort Vermisstenanzeige und das gleichzeitige Vibrieren seines Mobiltelefons in der linken Hosentasche samt dem schrillen Signalton (es war noch immer auf maximale Lautstärke eingestellt) versetzten ihm einen Schreck. Eine Nachricht war eingegangen. Wig fischte sich das Handy heraus und warf einen Blick auf sein Display. Die Augen der Polizistin waren gespannt auf ihn gerichtet. Das SMS war von Nora. »bin auf dem weg zu dir. 11 h, cafe gschwandtner?«
Wigs sichtbare Erleichterung war der Dame in Uniform nicht entgangen. »Ein Lebenszeichen von Ihrer Frau?«
»Leider nicht. Eine Nachricht von der Schule«, log er. »Einen Augenblick bitte.« Er tippte »passt — danke, w« und drückte auf Senden.
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Herr Berger.«
Er schaute wieder zur Polizistin. »Ja, richtig. Eine Vermisstenanzeige, sagten Sie, heißt das. Ja, ich möchte eine Vermisstenanzeige machen.«
»Dann muss ich Sie jetzt einige Sachen fragen.« Sie öffnete ein neues Dokument auf ihrem Bildschirm. »Fangen wir mit den Personaldaten an. Familienname?« — »Neuhauser.« — »Geburtsname?« — »Ebenfalls Neuhauser.« — »Ich dachte, Sie sind verheiratet?« — »Ja, wir haben jedoch beide unsere Nachnamen beibehalten. Das heißt, eigentlich haben wir einen Doppelnamen: Neuhauser-Berger. Wir haben ihn nur nie verwendet.«
»Vorname?« — »Eva Maria Magdalena.«
Die Polizistin schmunzelte. »Geschlecht weiblich. Gehe ich jetzt einmal von den Namen her aus.« — »Ja.« — »Geburtsdatum und Geburtsort?« — »5. 1. 1962 über dem Karstein.«
»Das ist erstens kein Ort, sondern ein Berg, und wie kann man zweitens über einem Berg geboren werden? Kam sie in einem Flugzeug oder einem Hubschrauber zur Welt?«
»In einer Seilbahn. Meine Frau kam in einer Seilbahngondel zur Welt.«
»Ach so, verstehe. Der Karstein gehört zu Seehof. Dann ist ihr Geburtsort Seehof, Punkt«, sagte und tippte sie.
»Staatsangehörigkeit?« — »Österreich.« — »Name der Eltern?« — »Mathilde und Georg Neuhauser.« — »Haben Sie mit ihnen schon Kontakt aufgenommen?« Sie unterbrach ihre Eingaben und schaute ihn an.
»Sie sind beide verstorben, vor einem halben Jahr.«
»Richtig. War da nicht etwas mit einer Pilzvergiftung?« — »Genau die.« Sie sah ihn an, als würde sie an seiner Aussage zweifeln, dann blickte sie wieder auf den Monitor.
»Familienstand verheiratet, haben Sie gesagt.« Sie klopfte es in die Tasten.
»Kinder?« — »Keine.«
»Anschrift?« — »Weißenbachweg 21.«
»Haben Sie eine Telefonnummer und vielleicht auch E-Mail-Adresse von ihr?« Wig wusste beide auswendig und sagte sie ihr.
»Was macht Ihre Frau beruflich?« — »Bankangestellte.« — »Bei welchem Institut?« Wig nannte es und teilte ihr mit, dass er dort bereits ohne Erfolg nach ihr gefragt hatte.
»Jetzt muss ich Sie noch bitten, das Äußere Ihrer Frau zu beschreiben.«
»Sie ist 172 Zentimeter groß, Gewicht um die 55 Kilo. Sie betreibt viel Sport, ist schlank und durchtrainiert.« — »Haare?« — »Dunkelblond, schulterlang, Mittelscheitel wie Hedy Lamarr.«
»Wie wer?«
»Vergessen Sie’s. Mittelscheitel reicht.«
»Augenfarbe?« — »Grün.« — »Brillen?« — »Nein. Nicht einmal Sonnenbrillen.«
»Schuhgröße?« — »Ist das denn wichtig?« — »Alles ist wichtig, sonst würde ich Sie nicht danach fragen.« — »Ich glaube, 38.«
»Sonst irgendwelche Besonderheiten? Narben, Tätowierungen …?« — »Nein.«
»Was hat sie zuletzt getragen?«
Wig musste nicht lange überlegen: »Ein blaugeblümtes Kleid und orangefarbene Sandalen mit Absätzen.«
»Irgendwelche Probleme? Krankheiten? Depressionen?«
»Nein, weder noch.«
»Hatten Sie Streit in letzter Zeit? Ich muss Sie das fragen.«
»Natürlich müssen Sie das. Nein.«
»Hat Ihre Frau irgendwelche Sachen mitgenommen?«
»Meinen Volvo.«
»Ihren Volvo?«
Sie wusste offensichtlich nichts von der Amtshandlung ihrer Kollegen vor drei Stunden. Wig sollte es recht sein.
»Ja, meinen Volvo. Selber besitzt sie einen Audi, aber der hatte einen Defekt und war in der Werkstatt.«
An der Wand über der Tür hing eine Uhr. Es war inzwischen Viertel nach zehn, und Wig fragte, wie lange es noch dauern würde. Er hätte um elf Uhr einen Termin.
»Wir sind fürs Erste durch. Für die Fahndung bräuchten wir noch ein aktuelles Foto Ihrer Frau und wenn möglich eine DNA-Probe. Ihre Zahnbürste und ihre Haarbürste wären gut, wenn Sie die vorbeibringen könnten.«
»Und was passiert jetzt? Wie geht es weiter?«
»Die Anzeige geht an die Kriminalpolizei. Die Kollegen werden mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Nachdem Frau Neuhauser eine mündige Person ist und es keinen Hinweis auf ein Verbrechen oder Verdacht auf Suizid gibt, wird es vorerst keine Maßnahmen geben. Aber wir halten die Augen offen. Die Informationen kommen ins Fahndungssystem und sind dann auch in allen Schengenstaaten abrufbar. Ihre Daten brauche ich auch noch, Herr Berger. Haben Sie Ihren Personalausweis dabei? Und eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können.«
Nachdem sie fertig war, druckte sie das Protokoll aus, bat Wig, es auf seine Richtigkeit zu überprüfen und dann zu unterschreiben.
Als er ins Freie trat, stand die Sonne schon hoch. Einen kurzen Moment lang suchte er seinen Volvo, bis sein Blick auf den schwarzen Audi fiel. Er öffnete die Tür, und die aufgestaute Hitze schlug ihm entgegen. Während der Fahrt brannte sich das heiße Sitzleder durch die Hose hindurch in seine Oberschenkel. Nora war schon da. Sie saß im kühlen Schatten eines Kastanienbaumes auf der Terrasse des Cafés Gschwandtner und sah Wig von weitem den Audi abstellen. Man konnte es ihm ansehen, dass er nicht im Gleichgewicht war. Seine linke Schulter war hochgezogen, er hielt den Kopf schief, und sein Lächeln war bemüht.
Er wollte ihr einen Kuss auf die Wange geben, aber sie entzog sich mit einer schnellen Bewegung. »Spinnst du? Hier in aller Öffentlichkeit! Was ist los mit dir, und warum bist du mit Marias Auto unterwegs?« — »Sie ist noch immer nicht aufgetaucht.« Wig setzte sich Nora gegenüber und schilderte ihr die Ereignisse der letzten Stunden.
»Du hast eine Vermisstenanzeige gemacht?«, fragte sie ungläubig. »Ist das nicht übertrieben? Sie ist seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden verschwunden, und du lässt sie schon suchen?« Wigs Telefon klingelte. Es war eine ihm unbekannte Nummer. »Berger?« Er wurde steif. »Wann?«, fragte er mit lebloser Stimme. »Danke.« Er legte auf. Sein Blick verlor sich.
»Wer war das?«
»Die Polizei. Sie haben gerade mit dem Bankdirektor gesprochen. Er hat gesagt, Maria hätte gestern gekündigt.« Wig rang um Selbstbeherrschung. Nora versuchte ihm Mut zuzusprechen: »Immerhin schließt die Nachricht einen Unfall aus.«
»Ein Unglück ist es trotzdem — und ein Rätsel. Warum tut sie so was? Ausgerechnet jetzt.« Ein rotes Kanu, gepaddelt von einem jungen Mann, glitt vorbei. Im Bug saß ein Bub mit einer Angel.
Wig schaute Nora in die Augen. Er zwang sich zu einem fröhlichen Gesichtsausdruck und wechselte das Thema.
»Wie geht es dir? Ist dir übel? Bist du müde?« Er berührte zärtlich ihren Bauch.
Nora schüttelte den Kopf und lachte. »Mir geht’s gut. Es hat sich ja nicht viel verändert. Außer, dass ein kleiner Wurm in mir heranwächst. Es ist alles noch etwas unwirklich.«
»Ich versteh es auch nicht. Wir haben doch immer aufgepasst.«
»Wir vielleicht schon.« Seine fröhliche Fassade bekam einen Riss, und Traurigkeit begann durchzusickern. »Freust du dich denn?«, fragte er Nora.
»Ich weiß noch nicht, aber ich werde es auf alle Fälle austragen. Mein Gott, wie das klingt.« Sie entzog sich seiner Berührung und rührte nachdenklich mit dem Strohhalm in ihrem Eiskaffee. »Und wie geht es dir damit?«
»Es wäre ein Geschenk, in meinem Alter noch Vater zu werden.«
Wig sah ihre Mundwinkel ein Lächeln andeuten. »Das sagt noch nicht, dass du dich darüber freust.«
»Ist es dafür nicht zu früh? Wo wir doch gar nicht wissen, wer der Vater ist.«
»Wäre es dir denn lieber, es wäre von Oskar?«
»Nein. Gar nicht. Aber ich fühle mich ein wenig wie Abraham.«
»Wieso?«
»Er hat mit neunzig seine Magd geschwängert und mit hundert seine Frau.«
Nora lachte so laut, dass sie die Blicke anderer Gäste auf sich zog. Sie beugte sich Richtung Herwig und flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist erstens gerade einmal sechzig, und zweitens bin ich nicht deine Magd. Oder denkst du jetzt daran, einen eigenen Stamm zu gründen?«