Aegidius und Ioannis waren sich vor nicht ganz zwanzig Jahren über den Weg gelaufen. Ioannis war damals fünfundzwanzig und Agidius neunzehn Jahre alt.
Das Dorf, in dem Aegidius aufgewachsen war, liegt im Norden Griechenlands. Seine Familie, das heißt, eigentlich das ganze Dorf lebt dort seit vielen Generationen vom Weinbau. Der Legende nach soll Dionysos, der Gott des Weines, dort geboren sein. Zum Gipfel des Olymp, dem mythischen Sitz der griechischen Götter, sind es von dort nur schlanke fünfzig Kilometer, vorausgesetzt, man ist ein Gott und kann die Luftlinie fliegen. Für Sterbliche sind es doppelt so viele Straßenkilometer, etwa gleich viele wie nach Saloniki. Aegidius’ Familie besaß neben ihrem Weingarten noch einen Esel, ein paar Schafe und Ziegen und einen alten, inzwischen lachsfarbenen japanischen Pritschenwagen, der, bevor ihn die raue Zunge der Witterung blass geleckt hatte, einmal leuchtend rot gewesen war.
Aegidius war das zweitjüngste von fünf Kindern. Als er zwölf war, nahm ihn sein Vater erstmals mit nach Saloniki, wohin er jedes Frühjahr zwei Fässer seines Rotweines brachte und wo er mit dem Geld, das er dafür bekam, Sachen für zu Hause kaufte. Aegidius gefiel die Stadt. Das Gewurl am Hafen, das Gedränge im Bazar und die luftig-bunten jungen Frauen und Männer, die von seinem Vater abschätzig, und weil er kein stimmloses H am Anfang eines Wortes aussprechen konnte, Chippies genannt wurden. Als Aegidius mit der Schule fertig war und der Lehrer ihn fragte, was er denn jetzt mit seinem Leben vorhätte, war seine Antwort: »Chippie in Saloniki werden.«
Der Lehrer lachte und meinte, dies wäre eine gute Wahl. Aber erstens heiße es Hippie, und zweitens sei das kein Beruf, sondern eine Lebenseinstellung. Er würde daneben auch noch eine Aufgabe brauchen. Saloniki sei eine Universitätsstadt und er, Aegidius, ein vifer Bursche. Er riet ihm zu einem Studium und versprach, ihm dabei zu helfen, ein Stipendium für die Aristoteles-Universität und einen Platz in einem Studentenheim zu bekommen. Wenn er das wolle. Aegidius wollte, und so kam es, dass er nach tränenreichem Abschied von seiner Familie, ausgestattet mit einem Rucksack voller Zwiebeln, Schafskäse, Gläser mit Honig und eingelegten Oliven, den Bus in die Stadt bestieg.
Aber schon nach einem Jahr hatte sich das bunte Treiben in Saloniki für Aegidius ebenso abgenützt wie sein Interesse für naturwissenschaftliche Studien, für die er inskribiert hatte. Er war die nächtlichen, musikbeschallten und alkoholgetränkten Diskussionen über Gott, die Welt und die Unergründlichkeit des Lebens satt geworden. Er bekam den Blues. Zu seinen Freunden sagte er, es sei die Unbegrenztheit und Unergründlichkeit des Meeres, auf das er stundenlang hinausschauen konnte, die seinen Gefühlen den Boden entzogen hätten. Aber das sagte er nur, weil er zu stolz war, die Wahrheit zu sagen. Die Akephiá, das griechische Wort für Blues, ist weiblichen Geschlechts. So wie Helene, die engelhafte, blondgelockte deutsche Touristin, in die Aegidius sich unsterblich verliebt hatte und die, nachdem sie ihm seine Unschuld geraubt hatte, genauso mir nichts, dir nichts aus seinem Leben entschwebte, wie sie hineingeflattert war.
Er verlor den Zugriff auf sein Denkvermögen, und als er eine Prüfung nach der anderen schmiss, verlor er auch seinen Platz im Studentenheim. Zurück ins Dorf wollte und getraute er sich nicht mehr. Zu groß die Scham und die Gewissheit, für sein Scheitern verspottet zu werden. Also blieb er in Saloniki, lebte von der Hand in den Mund, schlief einmal dort und einmal da, jobbte als Tellerwäscher, Kellner, Botengänger, Hafenarbeiter, Parkplatzwächter und Verkäufer von Marihuana an Touristen.
Als er sich eines Tages gerade noch einer Polizeikontrolle entziehen konnte, indem er sich in einer Kirche versteckt hielt, kam er in der langen Zeit des bangen Wartens mit Gott ins Gespräch. Von den unzähligen Kirchen, die es in der Stadt gab, war er just in jene gelaufen, welche die Weisheit schon im Namen trug. Die Agia Sofia.
Anfangs tat er nur zur Tarnung so, als würde er beten. Doch aus dem Als-ob wurde ein ernsthafter Dialog mit sich selbst, an dessen Ende der Vorsatz stand, in Zukunft die Finger von illegalen Geschäften zu lassen.
Von nun an stattete Aegidius dem Gotteshaus regelmäßig Besuche ab und zündete auch allabendlich zwei Kerzen an. Eine für seine Rettung vor der Polizei und eine zweite für Helene. Er tat es den anderen Trost- und Ratsuchenden gleich, küsste wie sie demütig alle Ikonen, besonders jene der Gottesmutter mit Jesuskind, beugte sein Haupt, bekreuzigte sich unzählige Male und betete für Helenes Rückkehr. Zugegeben, ein Teil von ihm war nicht wirklich bei der Sache. In gewissem Sinn war er staunender Zeuge seiner Rituale.
Nachdem sein Bemühen kein Resultat zeitigte, wurde die Verzweiflung quälender, und er betete bald nur noch um sein Seelenheil, das er in Gefahr sah, auf immer und ewig verlorenzugehen. Denn Aegidius überlegte sich ernsthaft, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Als er wieder einmal zusammengesunken und resigniert ob ausbleibender Zeichen und Hilfe von oben auf seinem ihm vertrauten Betstuhl saß, vernahm er ein metallisches Geräusch. Es kam aus dem Altarraum. Dieses Allerheiligste war durch eine Wand goldener Ikonen vom großen Gemeinschaftsraum der Kirche getrennt und Priestern vorbehalten. Da teilte sich mit einem Rascheln der schwere, bestickte Vorhang, und begleitet von zwei leisen, hellen Glockentönen trat eine Gestalt in wehendem schwarzem Talar heraus. Das heißt, nicht nur der Umhang, alles an ihm war schwarz. Alles außer Stirn und Nase. Auf dem Kopf trug er einen hohen, zylindrischen, krempenlosen Mönchshut, über den ein Tuch wie ein Schleier nach hinten über die Schultern fiel. Ein mächtiger krauser Bart umrahmte sein Gesicht und gab ihm etwas Strenges, aber die Augen unter den schweren Lidern blickten wohlwollend. In seinen Händen hielt er eine Schatulle, die er wie einen Schatz fest umschlossen an die Brust drückte.
Es war Emilianos, ein griechisch-orthodoxer Priester, der auf dem Heiligen Berg lebte. Er kam jedes Jahr einmal in die Stadt, um der heiligen Maria Magdalena zu Ehren eine Messe zu zelebrieren. Am Vortag war er zu Fuß von seinem Kloster aufgebrochen, das hoch über dem Meer auf einem Felssporn thront. War mit dem Pilgerschiff in die Himmelsstadt und von dort mit dem Bus weiter nach Saloniki gefahren.
Als Emilianos die bedrückte Gestalt von Aegidius bemerkte, ging er auf ihn zu und grüßte ihn mit den Worten: »Christos Anesti — er ist auferstanden!«
Aegidius wusste nicht, was er sagen sollte, und tat, wie er es als Kind bei den Erwachsenen gesehen hatte. Bevor er noch darüber nachdachte, küsste er die Hand des Priesters.
»Woher kommst du, junger Mann? Gibt es etwas, das ich für dich tun kann?« Aegidius schüttelte nur den Kopf. »Fehlt dir etwas?« Aegidius nickte. Der Priester legte fragend den Kopf leicht zur Seite. »Bist du krank?« Wieder Kopfschütteln. »Hast du jemanden verloren?«
»Ja, Helene«, brachte er kaum hörbar hervor.
»Helena, die Schöne. Verdreht sie noch immer den Männern den Kopf und bricht ihre Herzen? Sind zehn Jahre Krieg, eine zerstörte Stadt und ich weiß nicht wie viele Tote nicht genug? Jetzt hat sie auch noch dein Herz gebrochen?«
Aegidius nickte, obschon ihm der homerische Kontext ein wenig verstiegen vorkam und er den Priester verdächtigte, sich über ihn lustig zu machen. Aber es traf die epische Dimension seines Schmerzes.
»Dann haben wir Glück«, frohlockte der Priester. »Denn wenn du Fieber gehabt hättest oder Syphilis, müssten wir den heiligen Georg bemühen, und gegen Rückenschmerzen, oder wenn du was mit den Augen hättest, bräuchten wir den heiligen Thomas. Weder zum einen noch zum anderen haben wir im Moment direkten Zugang. Aber für dein Leid habe ich genau das Richtige.« Er bedeutete ihm augenzwinkernd mitzukommen. Aegidius folgte ihm zu einer Nische mit einem Tisch, auf dem liturgische Bücher lagen. Nachdem er diese zur Seite geräumt hatte, stellte er die Schatulle ab und öffnete mit einem Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug, das Schloss.
»Was ist denn das, bitte?«
In der Schatulle lagen, eingebettet in einem samtroten Tuch und von Resten pergamentartiger Haut zusammengehalten, die Knochen einer Hand.
»Diese Hand«, sagte der Mönch mit einer Stimme voller Ehrfurcht und Stolz, »hat Jesus berührt. Das ist die linke Hand der heiligen Maria von Magdala. Weißt du, wer das ist?«
Aegidius war entsetzt, aber der Schreck hatte auch sein Gutes und verjagte für einen Augenblick seinen Kummer. Er lachte laut auf. »Sollte es nicht heißen: Wer das war?«
»Nun ja, es ist tatsächlich nicht viel übrig von ihr. Aber es reicht, um Wunder zu wirken. Hast du noch nie von Maria Magdalena gehört?«
»Doch. War sie nicht die Freundin von Jesus?«
»Sie war Teil der Apostelgemeinschaft, aber nicht seine Freundin.«
»Meine Großmutter hat mir erzählt, dass sie es war, die er am meisten geliebt hat. Sie war an Jesus’ Seite bis zu seinem Ende, als er ans Kreuz geschlagen wurde. Alle Jünger hatten sich versteckt. Weil sie Angst davor hatten, selber auf eines genagelt zu werden. Nur die Frauen waren mutig genug und gingen hin. Meine Oma hat mir das Evangelium vorgelesen. Dort steht es so geschrieben. Dort steht auch, dass Maria von Magdala die Erste war, der Jesus nach seiner Auferstehung erschienen ist. Ihr hat er den Auftrag gegeben, den Aposteln davon zu berichten. Und Jesus hat zu ihr nicht gesagt, berühre mich nicht, wie es immer falsch übersetzt wird, sondern halte mich nicht fest.«
»Halleluja! Gott segne deine Großmutter. Und Gott segne dich. Du hast gut aufgepasst. Dann weißt du auch, dass sie die Schutzpatronin der Verführten und der Liebenden ist.«
»Und warum schleppst du diese Knochen mit dir herum?«
»Es ist eine wundertätige Reliquie. Sie heilt alle, die mit ihr in Berührung kommen. Sie verwandelt Schmerz in Freude. Und wenn ich dich so anschaue, wirkt sie bereits. Gerade eben warst du noch betrübt.«
»Ja, vielleicht.« Aegidius wollte dem Mönch und der fröhlichen Harmonie, die sich während des Gespräches in ihm ausgebreitet hatte, nicht widersprechen, und Emilianos ermutigte ihn, die Gebeine zu berühren.
»Es verstärkt die Heilkräfte. Die meisten wollen sie küssen. Aber das erlaube ich nicht mehr, seit ihr einer das letzte Glied vom kleinen Finger abgebissen hat und dann davongelaufen ist.«
»Schade.«
Emilianos entging die gespielte Enttäuschung nicht, und er sagte strahlend: »Aber bei dir mach ich eine Ausnahme. Du darfst sie küssen.«
Aegidius blieb nichts anderes übrig, und nachdem er die Reliquie geküsst und der Priester die Schatulle wieder verschlossen hatte, legte dieser segnend seine Hand auf seinen Scheitel, rief die Frohbotschaft »Christos Anesti« in die Kuppel, schlug das Kreuz nach Art der Ostkirche, verbeugte sich dreimal in Richtung Allerheiligstes und eilte, ein mehrfaches Kyrie Eleison singend, aus der Kirche.
Aegidius wollte ihm folgen, doch als er ins Freie hinaustrat, war er für ein paar Augenblicke vom Sonnenlicht so geblendet, dass er ihn aus den Augen verlor, und bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, war weit und breit nichts mehr von einem Mönch zu sehen.
An den folgenden Tagen kam er immer wieder zurück an den Ort der Begegnung. Er sah einige schwarzbekuttete, rauschbärtige Kirchenmänner kommen und gehen, aber keiner von ihnen hatte eine Schatulle dabei, keiner sah aus wie der, nach dem er suchte, und wenn er jemanden fragte, konnte niemand mit seiner Beschreibung etwas anfangen. Auch von einer Reliquie der heiligen Maria Magdalena wollte keiner etwas wissen.
In dieser Zeit ist Ioannis ihm zum ersten Mal begegnet.
Es war brütend heiß. Seit Wochen hatte eine Hitzewelle die Stadt fest im Griff. Und es gab keine Aussicht auf Abkühlung. Ioannis hatte ein paar Münzen in den Opferstock geworfen und sich drei Kerzen aus dem Regal genommen. Nachdem er sie angezündet hatte, blieb er eine Weile stehen, um die Kühle des Gotteshauses noch ein wenig zu genießen. Dann trat er hinaus auf den Vorplatz. Die blendend weißen Marmorplatten reflektierten nicht nur das Licht der Sonne, sondern auch ihre Glut. Ioannis beeilte sich, in den Schatten der Bäume zu kommen, und steckte sich gerade eine Zigarette an, da steuerte Aegidius, dessen suchender Blick ihm vorher schon aufgefallen war, auf ihn zu. Ioannis dachte, er wolle sich eine Zigarette schnorren, und hielt ihm die Packung entgegen. Aegidius lachte und machte eine abwehrende Geste. Dann erzählte er von seiner Begegnung mit dem Mönch und dessen knochigem Schatz und fragte Ioannis, ob er irgendetwas über ihn wüsste oder gehört hatte.
Ioannis sagte ihm, seine Beschreibung des Mannes träfe auf praktisch alle Popen zu. Das Besondere daran war nur die Schatulle mit der Hand beziehungsweise den Knochen, die er gesehen hatte. Dem müsste man nachgehen. Ioannis wusste von einigen Priestern, die mit Reliquien zu tun hatten. Aber das sind meist nur kleine Stückchen von Knochen. »Ich habe einen Mönch gesehen, der mit einem Küchenmesser Späne von einem Schienbeinfragment des heiligen Cyrill abgeschabt hat, um dem Abt eines befreundeten Klosters ein Geschenk zu machen. Der hat sich dermaßen darüber gefreut, dass er zwei Tage lang nicht aufgehört hat zu singen.« Von einer ganzen Hand hatte er aber nur einmal gehört. Eines der Klöster am Heiligen Berg soll im Besitz der Hand des heiligen Georg sein. Jener Hand, mit der er den Speer geführt und den Drachen getötet haben soll. Aber die Hand einer Frau? Noch dazu am Heiligen Berg, wo Frauen ja tabu sind?
Als die Sonne barmherziger wurde und die Häuser längere Schatten über die Gehsteige zu stülpen begannen, meinte Aegidius, nun wäre ein guter Zeitpunkt, zur Uferpromenade hinunterzugehen, er würde Ioannis gerne auf ein Bier einladen. Aber Ioannis winkte ab: »Spar dir das Geld und lass uns zu mir gehen. Meine Eltern sind in Athen. Ich habe Wein im Kühlschrank und eine Dachterrasse.«
Der steile Anstieg und die Hitze des Tages hatten sie durstig gemacht. Der geharzte Wein war erquickend und stieg Aegidius zuerst in den Kopf, dann senkte er sich in sein Gemüt und machte ihn euphorisch. Er glaubte aber zu spüren, dass es weniger der Alkohol war, sondern etwas mit der knochigen Hand zu tun hatte. Der Kuss lag zwar schon einige Tage zurück, aber genau seither, so stellte er fest, ging es ihm von Tag zu Tag besser. Das konnte ein Zufall sein, aber von seiner Großmutter hatte Aegidius gelernt, dass Zufälle eben deshalb so heißen, weil sie einem von oben zufallen. Und oben ist nun einmal der Himmel. Damit war der göttliche Ursprung geklärt.
Ein halbes Jahr lang teilte Ioannis sein Zimmer mit Aegidius. Seine Eltern nahmen ihn auf wie einen zweiten Sohn, und Aegidius tat alles, um das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachten, zu rechtfertigen. An den Tagen, wo er keine Arbeit fand, putzte er die Wohnung. Er ging auf den Markt und kaufte ein. Er wusste ein gutes Tzatziki und Salat zu machen. Und von seiner Großmutter hatte er gelernt, wie man Bisteki zubereitet. Mit faschiertem Lammfleisch, Ei, Zwiebel, Knoblauch und einem Stück Schafskäse in der Mitte. Jeder Tag war ein Geschenk. An den Abenden, an denen Ioannis musizierte, begleitete er seinen Freund zu den Auftritten. Meistens spielte er mit seinen Freunden im selben Restaurant. Auch dort machte Aegidius sich nützlich und half beim Geschirr-Wegräumen und Abwaschen. Dafür bekam er zu essen, und nicht selten steckte ihm der Wirt auch einen Teil vom Trinkgeld zu. Die Gäste waren fast ausschließlich Griechen. Nur selten verirrte sich ein ausländisches Pärchen in die Obere Stadt. Es wurde gegessen, getrunken, getanzt, gelacht, und manchmal, wenn spät in der Nacht Rosa, die Frau des Wirtes, aus der Küche kam, die Schürze abband und sich auf den Sessel neben Ioannis setzte, konnte es vorkommen, dass auch geweint wurde. Ihre Stimme war von einer anderen Welt. Denn sie sang die alten Lieder, die ihre Mutter noch aus Kleinasien mitgebracht hatte. Es waren Melodien, die schon seit vielen Generationen auf Wanderschaft waren, und wenn sie gespielt und gesungen wurden, verbreitete sich der Duft des Orients und der Ferne.
Aegidius hatte noch nie jemanden so schön singen gehört. Als er Ioannis am Heimweg einmal darauf ansprach, nickte dieser und sagte: »Sie ist eine Aschkenasi.«
»Und was heißt das?«
»Hast du noch nie von den Aschkenasi gehört? Von den Juden aus dem Osten? Rosas Mutter war eine von ihnen. Vor achtzig Jahren mussten sie aus Kleinasien flüchten, um den Pogromen der Türken zu entkommen. Aber sie kamen vom Regen in die Traufe. Denn zwanzig Jahre später marschierte Hitler ein. Hast du gewusst, das Saloniki einmal das Jerusalem des Balkans genannt wurde? Die ersten Juden kamen vor fünfhundert Jahren aus Spanien. Nach der Zurückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Christen flüchteten viele von ihnen hierher. Man nennt sie Sepharden. Dieses letzte Lied, das Rosa gesungen hat, das war in Ladino gesungen, der Sprache der Sepharden.«
»Also gibt es noch welche?«
»In Saloniki sind nicht mehr viele übrig. Von den sechzigtausend, die noch vor hundert Jahren hier gelebt haben, sind vielleicht gerade einmal tausend übrig. Da, wo deine Universität steht, darunter liegt eine halbe Million Juden aus den vergangenen Jahrhunderten begraben. Die Deutschen haben den Friedhof eingeebnet und das Land bebauen lassen.«
»Was haben sie mit den Knochen gemacht?«
»Sind wir wieder einmal bei den Knochen gelandet? Ich weiß es nicht. Pappous Mikis kann dir vielleicht mehr erzählen. Ich fahre übrigens in ein paar Tagen zu ihm. Magst du mitkommen?«
Natürlich sagte Aegidius zu. Sie nahmen den Bus, der Richtung Südosten fuhr, und stiegen zwei Stunden später an einer Haltestelle wenige Kilometer vor der Himmelsstadt und gegenüber einer kleinen Insel aus. Eine Schotterstraße führte zu einem Anlegeplatz, wo eine Fähre soeben dabei war anzulanden. Die heruntergelassene Laderampe schabte knirschend über den betonierten Teil des Ufers. Nachdem sie zum Stillstand gekommen war, verließ zuerst eine kleine Schar Fußgänger das Boot und machte sich eilig auf den Weg zum Bus, der mit laufendem Motor wartete. Dann rumpelten noch zwei Pkws und ein Lastwagen an Land. Einer der Fahrer winkte Ioannis zu und rief etwas, aber das Scheppern der Rampe und das Brummen des Schiffsdiesels überlagerten alles. Ioannis hob die Hand und winkte zurück.
Die Überfahrt dauerte nicht lange. Die Zeit reichte gerade für einen Kaffee aus dem obligaten Pappbecher der Schiffskantine, dann hatten sie auch schon wieder festen Boden unter den Füßen. Sie verließen den Fährhafen und wanderten auf der einzigen Straße eine Viertelstunde lang geradeaus, bis sie nach Überqueren einer Anhöhe die gegenüberliegende Seite der sichelförmigen Insel erreicht hatten. Dort lag, in einer zauberhaften, kreisrunden Bucht, im Südosten von einer betonierten Mole vor Winterstürmen geschützt, ein Fischerhafen. Auf der Mole stand ein funkelnagelneuer karmesinroter Opel Corsa mit offener Heckklappe und offenen Seitenfenstern. Großvater Mikis’ Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und war das einzige auf dieser Seite der Insel. Die Zufahrt war von einem Container mit Kühlaggregat blockiert. Eine schläfrige Ruhe lag über der ganzen Insel. Umflattert von kleinen, orangefarbenen Schmetterlingen stiegen sie über ausgewaschene Stufen den Weg zum Haus hinauf. Mikis saß auf der Terrasse im Schatten eines Eukalyptusbaumes auf einem Schemel und winkte ihnen zu. Eine alte Tür, über ein paar Kisten gelegt, diente als Arbeitstisch. Er war gerade mit dem Ausnehmen seines Fanges fertig geworden. Sieben Makrelen, die ihm heute Morgen ins Netz gegangen waren, lagen küchenfertig vor ihm. In einem Respektabstand lauerten drei Katzen auf Abfälle. Mit einem Auge beobachteten sie die Bewegungen des alten Mannes, mit dem anderen eine Möwe, die auf dem Süllrand eines halbverfaulten, mit Erde gefüllten Beibootes, das offenbar der Zucchinizucht diente, auf und ab patrouillierte. Allesamt auf eine passende Gelegenheit wartend.
Mikis streifte die Innereien in einen Plastikkübel, nahm die Schürze ab und wischte sich die Hände an ihr sauber. Sein Haar war schneeweiß und kurz geschnitten, das Kinn und die Wangen bartstoppelig. Ein mächtiger Schnauzbart verdeckte zur Gänze seinen Mund und delegierte das Lachen an seine Augen.
»Jásou, Pappous! Kala isse?«, rief Ioannis. Sein Großvater kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen und küsste ihn auf die Wangen. Dann schob er Ioannis von sich weg, hielt ihn aber weiter an den Schultern fest und gab ihm einen prüfenden Blick. »Sieht er nur gut aus, oder geht es ihm auch gut? Was macht unser Künstler? Sind ihm die Musen hold, oder zieren sie sich? Den Göttern gleicher, erdgeborener Freund des Gesangs.« Das Zirpen der Zikaden steigerte sich zu einem wabernden, pulsierenden Kreischen, um bald darauf wieder in einzelne schabende Geräusche zu zerfallen. »Hört, hört!«, rief Mikis. »Die unsterblichen Boten der Musik und des Tanzes scheinen dir gewogen. Ich hoffe, du hast deine Cithara mitgebracht. Meine Ohren sind seit einer Ewigkeit auf Diät.«
»Dafür verwöhnen dich hier die Vögel mit ihrem kunstvollen Gesang und der Rhythmus der Meereswellen. Ist das denn kein Ersatz für die Musik?«
»Das sind möglicherweise die allergöttlichsten Melodien. Aber nur, wenn man wie du die Phantasie hat, Gottes Stimme in der ganzen Natur zu hören. Mir fehlt diese Gabe. Daher bin ich auf deine Kunst angewiesen, mir den Gesang der Natur in Melodien zu übersetzen, die mein Herz versteht, und in einen Rhythmus, der meine Füße zum Tanzen bringt.«
Ioannis wandte sich nach Aegidius um und winkte ihn heran: »Ich möchte dir meinen Freund Aegidius vorstellen.«
»Jásou, Aegidius. Willkommen! Ich hoffe, ihr habt noch nichts gegessen. Es gibt Fisch mit Reis.«
Stunden später, als von den Fischen nur noch die Köpfe und Gräten auf den Tellern lagen und der schwere Wein begonnen hatte, den Gedanken Leichtigkeit zu verleihen, als die Nacht schon hereingebrochen und der Mond zwar noch nicht aufgegangen war, aber dem Gipfel des Heiligen Berges schon sein überirdisches Licht verlieh, da holte Ioannis seine Bouzouki aus dem Koffer und begann zu spielen. Melodie um Melodie reihte sich aneinander. Großvater Mikis saß in seinem Korbsessel und schien zu schlafen. Auch als Ioannis eine Pause machte und nach dem Weinglas griff, blieben Mikis’ Augen geschlossen, aber sein Bart begann sich zu bewegen, und er fragte seinen Enkel: »Ioannis, weißt du noch, welches Lied sich Sophia immer von dir gewünscht hat?«
»Da gab es viele. Aber ich glaube, ich weiß, welches du meinst. ›Ta pedia tou Pirea‹ — ›Die Kinder von Piräus‹, stimmt es?« — »Ja, das war Sophias Lieblingslied.« Mikis’ Augen öffneten sich und fixierten für eine Weile einen imaginären Punkt am Boden zwischen den Tischbeinen. »Sie und Manos waren Nachbarn, wusstest du das?«
»Sie kannte Manos? Sie kannte Manos Hadjidakis?« Ioannis schaute ihn ungläubig an. »Warum hat mir das bis jetzt keiner erzählt?« Mikis machte mit den Schultern eine entschuldigende Bewegung. »Manos und Sophia stammten aus der gleichen Stadt, aus Xanthi. Nicht weit von hier Richtung Osten. Sie wuchsen zusammen auf. Ich glaube, sie wohnten sogar im selben Haus. Jedenfalls bis sie zehn Jahre alt waren. Dann zog Manos mit seinen Eltern nach Athen. Immer wenn sie mich ärgern wollte, erzählte sie mir die Geschichte, dass Manos sie überreden wollte mitzukommen, und dass sie mit ihm wohl ein besseres Los gezogen und mehr von der Welt gesehen hätte als mit mir. Ich musste ihr natürlich recht geben.«
Ioannis zog den Kopf skeptisch zurück, als müsse er etwas Abstand zu dieser Nachricht gewinnen. »Davon hat sie mir nie etwas erzählt.«
Er griff nach seinem Tabakbeutel und begann sich eine Zigarette zu drehen. »Dreh mir doch eine mit«, bat ihn sein Großvater. Nachdem er sie in Empfang genommen hatte, fischte er sich die Streichholzschachtel vom Tisch und steckte die Zigarette an. Nachdenklich ließ er das Holzstäbchen bis an seine Finger brennen, bevor er die Flamme ausblies. »Sie wollte nicht gerne Rückschau auf ihre Kindheit halten. Sie glaubte, die Erinnerung daran zu verlieren, wenn sie zu viel darüber sprach. Sie hatte Angst, dass sich die Bilder ihrer Jugend in Rauch auflösen würden.« Er machte einen Zug und stieß eine mächtige Wolke aus. »So wie diese Zigarette. Sie war der festen Überzeugung, das Lied über die Kinder von Piräus sei ein Andenken an ihre Jugendzeit und Manos hätte es für sie beide geschrieben.«
Ioannis umspielte die ersten Takte der Melodie auf seinem Instrument und sagte zu seinem Freund Aegidius: »Mit diesem Lied hat Manos Hadjidakis 1961 in Amerika den Oscar gewonnen. Viele seiner Lieder gingen um die ganze Welt. Auch dieses hier.« Er wechselte in eine andere Tonart und spielte eine neue, melancholische Weise. Mikis übernahm mit seiner Bariton-Stimme die Melodie, während Ioannis die Zwischenräume mit einem Ornament von Noten füllte, das wie funkelndes Sternenlicht den Gesang umspielte und dem sehnsuchtsvollen Lied Leichtigkeit verlieh.
San sfirixis tris fores
Tha s’ agixo sto skotadi
Tha me dis mes stis foties
San sfirixis tris fores …
»Wenn du dreimal flüsterst, werde ich dich in der Dunkelheit berühren und deiner Seele Zärtlichkeit schenken«, hieß es in dem Lied.
Aegidius war schon müde und wohl auch ein wenig entrückt vom Wein und der Musik. Sein Geist war so weit wie schon lange nicht mehr. Er war frei von Wollen und Streben, frei von Trauer und frei von Freude, frei von Ängsten und auch frei von Hoffnungen. Er spürte, wie die Luft seine Lungen füllte und aus ihnen herausströmte, er spürte das Schlagen seines Herzens und spürte das Blut durch seinen Körper strömen.
Just da rollte der noch nicht ganz volle Mond hinter dem Vorgebirge des Heiligen Berges hervor. Da war ihm, als würde das Meer zu einer silberglänzenden Ikone, und der Schatten, den das Gebirge auf die Wasserfläche warf, nahm für einen Augenblick die Gestalt einer Frau an, die ihm ihre ausgestreckte Hand entgegenhielt.
»Aegidius!« Die Stimme Ioannis’ weckte ihn am frühen Morgen aus einem Traum, von dem er nicht mehr wusste, worum es ging, außer dass er absurd gewesen war. »Ja, was gibt’s?«
»Ich muss zurück nach Saloniki. In einer halben Stunde sollten wir an der Fähre sein.«
Aegidius befreite sich strampelnd von der Bettdecke, in die er sich eingedreht hatte, und trat barfuß hinaus auf die Veranda. Sie lag noch im Schatten, aber die Morgensonne blinzelte schon durch das Blattwerk des mächtigen Eukalyptusbaumes, der hinter dem Haus stand und seine Äste schützend über das Haus breitete.
Noch etwas orientierungslos setzte sich Aegidius auf einen der Stühle. Gähnend durchwühlte er mit den Händen sein Haar, um sich seinen Kater aus dem Kopf zu kratzen. Ioannis verstaute gerade sein Instrument in einem Koffer und rief ihm etwas zu, das er nicht verstand.
»Was?«
»Auf dem Herd steht Kaffee. Mikis ist unten bei seinem Boot.« Aegidius ging das alles ein wenig zu schnell, und Ioannis sah es ihm an. »Hey. Wenn du magst, kannst du auch gerne noch hierbleiben.«
»Meinst du wirklich?«
Ioannis’ Mundwinkel zogen sich in die Breite: »Mikis hat gerne Menschen um sich, die seine Geschichten noch nicht kennen. Du würdest ihm eine große Freude machen, ihm zuzuhören.«
»Dann bleibe ich gerne noch ein paar Tage.«
Jetzt erinnerte sich Aegidius wieder an seinen Traum. Er hatte sich gerade von einer Klippe über dem Meer abgestoßen in der Meinung, er wäre eine Schwalbe und könne fliegen.
Ioannis hängte sich seine Tasche um und schnappte sich den Koffer mit der Bouzouki. »Ich muss gehen. Und glaub nicht alles, was er dir erzählt. Wenn du von Geschichten, Fischen und Kalamari genug hast, kommst du mit dem Bus nach.«
»Abgemacht.«
Niemand, am allerwenigsten Aegidius selbst, konnte an jenem Morgen ahnen, welcher Weg vor ihm lag. Denn wenn die Zeit reif ist, passieren die Dinge wie von selber, ohne Anstrengung und ohne dass man das Gefühl hat, sich dafür entschieden zu haben.
»Bis zum Wiedersehen mit Aegidius sollte ein ganzes Jahr vergehen«, schloss Ioannis seine Erzählung. »Als mein Großvater mir erzählte, dass er den Heiligen Berg besucht habe und gedenke, bis auf Weiteres dortzubleiben, fiel es mir schwer, das zu glauben. Als er nach einem Jahr noch immer nicht zurückgekommen war, begab ich mich auf die Suche nach ihm und fand ihn schließlich auch.
Er war ein anderer geworden, nannte sich Zosimas und trug bereits den schwarzen Talar und den Hut der Novizen. Auf die Frage, was er denn so den ganzen Tag mache, sagte er lachend: beten, arbeiten, essen und schlafen. Er kümmere sich um die Rebstöcke im Klostergarten, helfe dem Ikonenmaler beim Grundieren seiner Bildtafeln und sei gerade dabei, von ihm zu lernen, wie man die Farben anrührt.
Angesprochen auf seine Suche nach dem Popen mit der knöchernen Hand in der Schatulle, wurde er ziemlich verlegen. Er versuchte zuerst, mich abzulenken, und begann mir zu erklären, dass es drei Klassen von Reliquien gebe, Reliquien erster Klasse, das seien ausschließlich Körperteile von Heiligen, also Knochen, Haare, Haut, gestocktes Blut, Fingernägel, Zähne und so weiter, Reliquien zweiter Klasse, das seien Objekte, die von Heiligen berührt worden sind, und dann gebe es noch Reliquien dritter Klasse, das seien dann Gegenstände, die mit einer Reliquie erster Klasse in Berührung gekommen sind.
Erst als ich ihn bedrängte und versprach, ihn nicht für verrückt zu erklären, erzählte er mir die Geschichte der Hand Maria Magdalenas. Er hatte herausgefunden, dass es eine solche Reliquie einst wirklich gegeben hatte, und zwar genau in jenem Kloster, in dem wir uns befanden. Die Reliquie sei jedoch vor über hundert Jahren einem Brand zum Opfer gefallen und zusammen mit vielen wertvollen Schriften und anderen heiligen Gegenständen zu Asche geworden. Ebenso wie der Mönch, der versucht hatte, sie zu retten. Sein Name war Emilianos.«