Maria saß entspannt auf Ioannis’ Terrasse. Die Oktobersonne neigte sich dem Horizont zu und mischte Orange ins türkise Blau des fernen Meeres. Lisa saß mit einem Buch neben ihr.
»Auch ein Bier?« Ioannis kam, drei Flaschen Mythos in der Hand, lächelnd aus der Küche heraus und setzte sich den beiden gegenüber. »Morgen um acht Uhr geht’s los. Ich habe alles vorbereitet. Mein Großvater weiß auch Bescheid.«
»Dein Großvater lebt also als Fischer auf einer Insel?«, fragte Maria. »Stammst du aus einer Fischerfamilie?«
»Nein. Die Familie meines Großvaters stammt aus Stagira. Sie waren Bauern und Handwerker, bis der Krieg alles durcheinanderbrachte. Mikis hatte sich auf die Seite der Kommunisten geschlagen und gegen die Faschisten gekämpft. Als nach dem Krieg der Aufruf zur Entwaffnung kam und er sein Gewehr abgab, hat man ihn trotzdem verhaftet und zur Umerziehung auf einer entlegenen Insel interniert. Nachdem Mikis freikam, hat er mit heimlicher Unterstützung aus der DDR das Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen und als Advokat den Kampf für Gerechtigkeit weitergeführt. Fischer wurde er erst, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Seither lebt er unten an der Chalkidiki, auf einer Insel im Golf von Agion Oros. Er hat sich ein kleines Fischerboot gekauft und liebevoll restauriert. Anfangs haben ihn alle belächelt. Nur Vassilis, sein Freund aus der Partisanenzeit, hat ihn ernst genommen. Er hat ihm gezeigt, in welcher Tiefe, an welchen Stellen, zu welcher Zeit die Fische stehen. Er hat ihm beigebracht, dass man mit den Fischen, den Kalmaren und insbesondere mit den Schildkröten und Delfinen reden könne. Dem Meer jedoch könne man nur zuhören. Das Meer sei wie eine Frau, es lässt sich nichts sagen. Man könne lernen, es zu verstehen, müsse aber immer auf der Hut und darauf gefasst sein, dass es die Meinung wechselt. Besonders jener Teil des Meeres rund um das Kap des Heiligen Berges. Viele Boote, ja ganze Flotten seien dort schon untergegangen, weil sie die Sprache des Meeres nicht verstanden haben.
Mein Großvater kennt viele Geschichten. Viele hat er aus Erzählungen der Mönche, mit denen er manchmal zusammen auf dem Meer draußen auf die Fische wartet. Während man auf die Fische wartet, hat man viel Zeit zum Zuhören, und die Mönche sind voller Geschichten, die in keinen Büchern stehen.«
»Wie ist der Name deines Großvaters noch einmal?«, wollte Lisa wissen.
»Mikis. Wie der größte lebende Komponist Griechenlands, Mikis Theodorakis.«
Nachdem sie am folgenden Tag die russischen Pilger, versorgt mit den nötigen Visa für die Einreise in die Mönchsrepublik, am Hafen von Ouranopolis abgeliefert hatten, machten sie sich auf den Weg zu Mikis. Eine schwarzgelbe Gewitterwolke entlud sich gerade prasselnd über dem Meer und dem angrenzenden Küstenstreifen, als der Volvo, begleitet von wilden Blitzen und krachenden Donnerschlägen, von der Fähre auf die Insel rollte. »Einfach der Straße folgen und immer geradeaus.« Ioannis hatte seinen Bus am Festland zurückgelassen und saß jetzt am Beifahrersitz des Volvo. Er wischte mit der flachen Hand über die beschlagene Windschutzscheibe. »Vorne rechts kommen wir gleich an einem Laden vorbei. Kannst du dort anhalten? Ich besorg uns sicherheitshalber noch Kaffee.«
Wenig später saßen sie auf Mikis’ Terrasse und blickten hinaus aufs Wasser. Drei Fischkutter waren an der Mole festgebunden, ein weiterer lag etwas weiter draußen vor Anker. Ein Großteil der Wolken war in Richtung Norden weitergezogen, der Regen hatte die Luft vom Staub gereinigt, und die letzten Sonnenstrahlen färbten das Meer tiefrot. In der Ferne konnte man im Gegenlicht die schon im Schatten liegende Küstenlinie von Sidonia ausmachen. Dahinter schob sich die Silhouette eines Gebirges aus dem Meer, und ihm gegenüber glühte ein mächtiger Berg in der Abendsonne. Der Heilige Berg. In der Kupferkanne begann der Kaffee aufzuschäumen, und knapp bevor er überging, nahm Ioannis ihn mit einer eleganten Bewegung von der Flamme, während er mit der anderen Hand gleichzeitig das Gas abdrehte. Nachdem er alle Tassen vollgeschenkt und seinem Großvater einen schlierigen, weil mit etwas Wasser verdünnten Tsipouro dazugestellt hatte, bemerkte er die in die Ferne gerichteten Blicke der beiden Frauen. »Ja, das ist er, der Heilige Berg, auch der ›Garten Marias‹ genannt.«
»Der Garten Marias? Dann versteh ich es noch weniger, warum er für Frauen tabu sein soll«, ereiferte sich Lisa.
»Du hast recht«, sagte Ioannis, »aber so ist es nun einmal. Es gibt viele Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten. Die Mönchsrepublik gehört da zu den harmlosen Seltsamkeiten unserer Welt. Bevor wir aber jetzt über Dinge reden, die geändert werden müssen, lass uns lieber Mikis zuhören.«
Die weißen Schlieren im Anisschnaps hatten sich inzwischen gleichmäßig verteilt und gaben ihm eine milchige Farbe. Mikis nahm einen Schluck davon, lehnte sich zurück und erzählte.
»Deutsch habe ich von den Deutschen gelernt. Im Zweiten Weltkrieg. Ich bin mit achtzehn Jahren zu den Partisanen gekommen. Zuerst haben wir gegen die Italiener, dann gegen die Deutschen und dann gegen die Engländer gekämpft. Am Ende haben sich sogar die eigenen Leute gegen uns gewandt oder wir uns gegen sie. Das ist Ansichtssache. — Schon während des Krieges sind Deutsche zu uns übergelaufen und haben sich unserem Widerstandskampf angeschlossen. Als nach dem Krieg die deutschen Truppen abgezogen wurden, blieben viele von ihnen in Griechenland. Sie schlugen sich auf die Seite der Partisanen und kämpften mit uns zusammen gegen die Faschisten. — Kämpfen war das Einzige, das wir gelernt hatten. Vier sinnlose und verlustreiche Jahre haben wir noch Waffen getragen.« Mikis sprach langsam und nahm sich zwischendrin immer wieder Zeit, an seinem Tsipouro zu nippen und nach Worten zu suchen.
»Warum haben die Deutschen nicht abgerüstet und sind nach Hause gegangen?«
»Der Krieg war verloren. Sie wussten, Deutschland lag in Trümmern. Sie wussten, und das war das Schlimmste, dass eine Schande über ihrer Heimat lag. Sie taten mir leid. Einer von ihnen wurde mein Freund. Horst und ich waren gleich alt. Mit achtzehn sind wir in den Krieg gezogen. Als er vorbei war, waren wir dreiundzwanzig und standen beide auf den Fahndungslisten der Faschisten. Wer nicht Gefahr laufen wollte, eingesperrt, gefoltert oder standrechtlich erschossen zu werden, musste zusehen, dass er untertauchte oder wegkam. Wir haben uns eine Zeitlang hier auf dieser Insel versteckt. Hier haben wir auch Vassilis kennengelernt, der bis heute mein bester Freund ist. Später sind die meisten Deutschen und auch viele Griechen nach Deutschland gegangen. Aber nicht in den Westen, sondern in den kommunistischen Osten, in die DDR.
Horst und meine Schwester Ioanna fühlten sich von Anfang an zueinander hingezogen. Im Jahr 1948 flüchteten sie zusammen über die bulgarische Grenze. Vassilis schloss sich ihnen an. Er war damals erst vierzehn oder fünfzehn, und seine Eltern waren in einem Umerziehungslager interniert. Horst und Ioanna landeten nach einer Odyssee schließlich in Dresden. Während der Flucht brachte Ioanna ihren Sohn Carlos zur Welt. Carlos ist der Vater von Ioannis. — Ioannis, da ich gerade von dir spreche: Mach uns doch noch einen Kaffee. Aber diesmal Metrios. Der Kaffee, den du mitgebracht hast, ist nicht so bitter wie der letzte. Da braucht es nicht so viel Zucker. Ah ja, ich habe ganz vergessen, dich zu fragen: Was ist jetzt eigentlich mit deinen Russen? Konntest du sie alle versorgen?«
»Sie sind überglücklich. Nachdem sie vom positiven Visumbescheid erfahren hatten, haben sie die restliche Fahrt eine Hymne nach der anderen gesungen. Sie sind sicher der Meinung, ihre Gebete hätten es gerichtet.« Ioannis ging ins Haus und machte sich daran, Wasser aufzustellen.
»Was wurde aus Ioanna und Horst?«, fragte Maria, einerseits um das Schweigen zu brechen, aber auch aus Neugier.
»Nachdem Griechenland 1975 per Volksabstimmung die Monarchie abgeschafft und eine neue Verfassung bekommen hatte, kamen sie zurück und kauften sich das Haus, vor dem wir jetzt sitzen. Vassilis war schon viele Jahre vor ihnen wieder heim auf seine Insel gekommen — er hat es ohne Meer nicht lange ausgehalten. Carlos ist noch in Dresden geblieben, um dort sein Architekturstudium abzuschließen. Auch er hatte inzwischen eine Familie gegründet. Seine Frau und er haben sich auf der Uni kennengelernt und, als Ioannis unterwegs war, geheiratet. Ute ist ebenfalls Architektin. Nach ihrem Umzug nach Saloniki eröffneten sie zusammen ein erfolgreiches Bauunternehmen. Vor zehn Jahren haben sie alles verkauft und sind zurück nach Deutschland gegangen.
Aber um deine Frage, was aus Ioanna und Horst geworden ist, fertig zu beantworten. Sie starben beide, wie auch meine Frau, noch vor dem Fall des Eisernen Vorhanges. Horst überlebte seine Frau um nur zwei Monate, und ein Jahr darauf folgte ihnen meine Sophia. Damals bin ich hierhergezogen. Das Haus gehört inzwischen Ioannis. Ich habe ihn gefragt, ob er es mir verkaufen würde. Aber er wollte kein Geld dafür und hat es mir einfach so überlassen.«
»Entweder ich steh auf der Leitung, oder …?« Ioannis kam mit einer Kanne fertigem Kaffee zurück und bemerkte Marias verwunderten Gesichtsausdruck. »Was ist? Hab ich etwas versäumt?«
»Du nicht, aber ich vielleicht. Dein Vater Carlos, der jetzt mit deiner Mutter in Deutschland lebt, ist doch der Sohn von Ioanna und Horst, oder?«
»Ja. Warum?«
»Und Mikis ist Ioannas Bruder.«
»Richtig.«
»Wie kann dann Mikis dein Großvater sein?«
»Du hast recht. Streng genommen ist Mikis mein Großonkel«, gab Ioannis zurück. »Aber wir sind eben nicht so streng. Außer mit den Abfahrtszeiten der Fähren. Wir sollten zusammenpacken, damit wir die letzte Überfahrt zum Festland erwischen.«
»Können wir nicht die Nacht über hierbleiben und erst morgen nach Saloniki fahren?«
»Ihr schon. Pappous Mikis hat sicher nichts dagegen. Aber ich muss noch heute den Bus zurückbringen.«
So kam es, dass Ioannis, in frohgemuter Erwartung eines baldigen Wiedersehens, wieder einmal jemanden auf der Insel zurückließ und vom Schicksal eines Besseren belehrt wurde. Das fiel ihm jedoch erst auf, als es schon zu spät war.
Am nächsten Morgen, die beiden Freundinnen nahmen gerade zusammen ihr Frühstück zu sich, da setzte sich Pappous Mikis zu ihnen und fragte, ob sie vielleicht Lust hätten, mit ihm aufs Meer hinaus und ein Stück die Küste des Heiligen Berges entlangzufahren. Er wolle ein paar Netze auslegen, und sie könnten bei der Gelegenheit einen Blick auf ein paar Klöster erhaschen.
Maria war gleich dafür. Lisa, die nie richtig schwimmen gelernt hatte, war nicht so begeistert, aber die Neugier siegte über die Angst.
Während der ersten Stunde musste sie immer wieder gegen ihre Panik ankämpfen. Mit der Zeit fand sie aber Zutrauen zu dem kleinen Fischerboot und seinem zuverlässig tuckernden Dieselmotor und zu Mikis’ sicherer Hand an der Pinne. Nach und nach verlor die dunkelblaue Tiefe ihren Schrecken. Vor allem fand sie Gefallen an der friedvollen, unberührten Landschaft und den stillen Buchten. Maria und Lisa waren fasziniert von den geheimnisvollen Klöstern. Stoisch und abweisend schienen sie über die Welt zu wachen. Abweisend nicht nur ihren Blicken gegenüber, auch abweisend gegenüber der Zeit. Sie hatten etwas Unvergängliches und auch Verwunschenes. Sie schienen außerhalb jeder Zeit. Mikis sagte ihnen, sie stünden hier seit über eintausend Jahren. Eintausend Jahre waren für die fünfundzwanzigjährige Lisa nur unwesentlich weniger weit entfernt als der Urknall. Als sie in der windstillen Abenddämmerung zurückfuhren, um Netze und Reusen wieder einzuholen, lag eine sinnliche Stille über den dicht bewachsenen Bergflanken. Vereinzelt rollten melodiöse Glockentöne von den Klöstern herab ins spiegelglatte Meer und verschwanden in seiner Tiefe. »Der Ruf zum Gebet«, murmelte Mikis und bekreuzigte sich. Lisa war sich nicht sicher, ob das eine Aufforderung war, übernahm aber sicherheitshalber die Geste und bekreuzigte sich ebenfalls. Alles, was zu einer sicheren Rückkehr an Land beitragen konnte, war willkommen.
Aber alles ging gut, und nachdem sie trockenen Fußes wieder auf Mikis’ Insel waren, bekamen sie Hunger. Mikis war verschwunden, also machten sie sich allein auf die Suche nach einem Restaurant und fanden eine Pizzeria. Der Ofen war leider kaputt, deshalb bestellten sie Gyros mit Salat und Pommes.
»Also ich weiß nicht, wie’s dir geht«, sagte Lisa, während sie auf das Essen warteten, »aber ich habe eigentlich genug gesehen. Schon ein komischer Ort, findest du nicht? Mir ist hier alles viel zu mittelalterlich. Lass uns morgen wieder abreisen. Wir könnten noch ein paar Tage in Saloniki abhängen und dann hinunter nach Athen fahren.«
»Ich versteh, was du meinst. Mir ist diese Welt auch nicht geheuer. Aber es gibt etwas, das mich anzieht. Und hast du mich nicht gelehrt, das Leben anzunehmen? In allen Farben des Regenbogens? Ich muss das auch mit meinen Ängsten machen. Solange ich mich ihnen nicht stelle, werden sie mich verfolgen. Keine Ahnung, was da auf mich zukommt, aber ich will es wissen. Und du kannst mir auch nicht dabei helfen. Ich muss das alleine machen. Also folge deiner Stimme und geh zurück nach Saloniki. Und sag Ioannis, ich komme nach. Versprochen!«
Am nächsten Morgen, drei Monate nachdem sie sich kennengelernt hatten, gingen die beiden Freundinnen wieder getrennte Wege. Lisa brach nach Athen auf, und Maria ging Mikis bei der Fischerei zur Hand.
In den ersten beiden Tagen holten sie mit dem Netz nur ein paar kleinere Fische aus dem Meer. Auch an den behakten Ködern der Leine, die sie hinter dem Boot nachzogen, verfing sich nichts. Am dritten Tag zog Maria ihren ersten Oktopus aus einer Reuse und ließ sich von Mikis zeigen, wie man damit umgeht. Sie waren auf der Rückfahrt und gerade dabei, die vorgelagerten Felsen zu umschiffen, hinter denen der Hafen lag. Maria war immer noch beeindruckt von dem vielarmigen Wesen, dessen Saugnäpfe im Todeskampf kreisrunde rote Flecken auf ihren Unterarmen hinterlassen hatten, und befühlte neugierig den leblosen, weichen Körper. Da spannte sich mit einem Ruck die Schleppleine. Mikis stellte sofort den Antrieb auf Leerlauf und rief ihr zu, schnell an die Kurbel zu gehen und die Schnur vorsichtig einzuholen. »Nicht zu schnell, nicht zu schnell. Ich glaube, das ist ein großer Bursche. Du musst ihn erst müde machen. Er wird versuchen abzutauchen. Wenn er sehr stark zieht, musst du ihm Leine geben, und wenn der Zug schwach wird, gleich wieder einholen. Das wird jetzt dauern. Zieh die Handschuhe an und lass dir Zeit. Und greif nicht in die Haken, wenn die Köder aus dem Wasser kommen.«
Dann wendete er das Boot und fuhr langsam wieder aufs offene Meer hinaus. Als sie weit genug von den Klippen weg waren, stellte er den Motor ab. Mikis legte den Enterhaken zurecht und zündete sich eine vorgedrehte Zigarette an. Nur die Geräusche der Wellen, wenn sie gegen das Boot schlugen, waren zu hören und das leise Ächzen der Ruderanlage sowie hie und da das Quietschen der Rolle, wenn Maria an der Kurbel drehte, um die Leine aufzurollen. Sie tat wie geheißen. Sie spürte die Kraft und das Gewicht des Fisches und seine Bewegungen in der Tiefe. Wie er immer wieder die Richtung änderte, aber auch wie er an Kraft verlor. Jedes Mal, wenn die Spannung der Leine nachließ, machte sie ein paar Drehungen mit der Kurbel.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie beide gespannt den Bewegungen der Schnur folgten und wie hypnotisiert in die schwarzblaue Tiefe spähten, bildete sich Maria ein, ein großes schimmerndes Etwas unter sich durchziehen gesehen zu haben.
»Hast du ihn gesehen? Er ist riesig. Er wird noch einmal alle seine Kräfte mobilisieren und ein letztes Mal versuchen, in die Tiefe zu gehen. Sei auf der Hut und gib sofort Leine, wenn er zieht, aber nicht vorher. Sie darf kein Spiel haben, wenn er Fahrt aufnimmt, sonst reißt er sie ab.«
»Was muss ich tun, wenn er aus dem Wasser springt?« Maria hatte noch nie einen Fisch gefangen, aber sie erinnerte sich an die Fliegenfischer zu Hause und an die wilden Sprünge der Forellen.
»Er wird nicht springen. Das ist ein Tónos. Tónoi springen nicht.«
Es war ein langer Kampf. Vassilis sah ihnen vom Ufer aus mit einem Feldstecher zu und fieberte mit. Bis zum Zeitpunkt, wo sie den Thunfisch im Boot hatten und in den Hafen einfuhren, war das halbe Dorf zusammengelaufen und stand ehrfürchtig an der Anlegestelle. Er maß über einen Meter, und auf der Waage zeigte die Nadel auf fünfundzwanzig Kilogramm. Seit Jahren war das der größte Fisch, den man hier gesehen hatte. Vassilis hatte im März einen mit der Leine gefangen, der fast zwanzig Kilo wog, das war eine Sensation gewesen. Und jetzt dieser hier! Vor zehn Jahren noch waren Tónoi mit über dreißig Kilogramm keine Seltenheit gewesen. Von Jahr zu Jahr wurden sie kleiner und immer seltener.
Eine feierliche, fast ehrfürchtige Stimmung griff um sich. Tsipouro wurde gereicht. Der Dorfpriester kam vorbei und segnete den Fisch sowie die beiden, die ihn an Land gezogen hatten. Mangels Weihwasser besprengte er alles mit Schnaps, und zu guter Letzt bekam auch noch das Meer eine Gabe ab.
Nachdem der Wirbel verflogen, der Fisch im Kühlraum und die Leute in ihren Betten lagen, ging Maria noch einmal hinunter an die Mole. Sie setzte sich auf einen Poller und versuchte ihre Gefühle zu ordnen. Der Kampf mit dem Fisch war ihr durch und durch gegangen. Manchmal war ihr gewesen, als sei sie es, die am Haken hing und um ihr Leben kämpfte. Dann erinnerte sie sich an das Bild des toten Fisches, wie er da kopfunter gehangen war, und an seine großen, leeren Augen. Und sie begann bitterlich zu weinen. Warum hatte sie ihm das angetan? Hätte er überleben können, wenn sie die Leine durchtrennt hätte? War es das, wofür sie hiergeblieben war?