Gegen Ende des Sommers wurde er abgrundtief müde. Die Vorstellung, wieder zu arbeiten, vor einer Klasse zu stehen, Dompteur und Inspiration zu sein, jagte ihm Angst ein. Er versuchte an seiner Leidensfähigkeit zu arbeiten, in der irrigen Annahme, Leidensintensität sei gleich Erlösungsintensität. Als das nichts half, probierte er es mit Askese. Dann fiel ihm beim Aufräumen eine Joe-Jackson-CD in die Hände: »Blaze of Glory«. Ein verzichtbares Werk, wie er sich zu erinnern glaubte. Aber eine Nummer gab es darauf, die ihm gefallen hatte. Wie hieß sie noch einmal? Er drehte das Cover um und ging die Titel durch. Der vorletzte hatte eine Markierung. Discipline. Er schob die Scheibe in den Laptop …
Er suchte und fand die Earl-Grey-Dose, die ihm Konrad gegeben hatte. Wie pflegte dieser doch zu sagen? »Nimm einen Zug vom THC, dann tut die Welt nicht mehr so weh.«
Eine Weile ging es ihm wirklich besser. Er begann sich wieder auf die Schule zu freuen. Anfangs lief es auch wunderbar, aber es dauerte nicht lange, da zeigten sich erste Ausfälle. Vergesslichkeiten, ein zu kumpelhafter Umgang an einem Tag, Ungeduld und Intoleranz am anderen. Er verlor seine Linie, und die Schüler nützten das gnadenlos aus. Sie wurden undiszipliniert. Als eine Reaktion von ihm ausblieb, wurden sie noch schlampiger, noch fauler und noch frecher.
Eines Tages ging es in der Geografiestunde um Afrika und das koloniale Erbe. Es entspann sich eine Diskussion über die Verantwortung der nachfolgenden Generationen. Ein Thema, zu dem Wig eine sehr klare Meinung hatte und bisher keine Gelegenheit ausgelassen hatte, diese kundzutun. Doch statt in die provokante und von manchen zynisch geführte Debatte einzugreifen, war sein Auge auf einen Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet, unterbrochen nur von regelmäßigen Blicken auf die Uhr oberhalb der Tür. Ab da begannen sie sich Sorgen um ihn zu machen. Und Wig, der merkte, wie sie sich um ihn bemühten, kam zu sich.
Enttäuschungen würden sie im Laufe ihres Lebens noch genug erfahren. Er wollte ihnen nicht als solche in Erinnerung bleiben. Und er wollte ihnen auf keinen Fall etwas vorleiden.
Am nächsten Tag kam er in die Musikstunde mit einer großen Schachtel und einem Stapel Vinyl-Platten. In der Schachtel waren ein Plattenspieler, zwei Boxen und eine Menge Kabel.
»Geil, Oida! Das ist ja voll retro, Herr Professor«, tönte es aus der hinteren Reihe. »Ein USB-Stick ist aber schon handlicher.«
»Ja, Moser, da haben Sie recht. Aber so wie der Teufel nur in der Not Fliegen frisst, höre auch ich nur in der Not MP3. Zauner, würden Sie mir bitte beim Aufbauen helfen.« Ein paar kicherten, wurden aber gleich niedergezischt. Wig blickte auf. »Zauner! Was ist denn mit Ihren Haaren?«
»Ich will nicht drüber reden.«
»Kein Problem, aber helfen Sie mir doch bitte, den Tisch in die Mitte zu stellen.« Andi Zauner war ein blonder Lockenschopf in der ersten Reihe. Jetzt waren die Locken allerdings weg, und aus dem Rest ergab sich irgendwie keine Frisur. Punk, schoss es Wig durch den Kopf. Aber das konnte es nicht sein. Weil Andi genau das Gegenteil von einem Rebellen war. Er kam aus einem streng katholischen Elternhaus und war einer der Fleißigsten und Wohlerzogensten der ganzen Klasse.
»Hat schon einmal jemand einen Plattenspieler bedient?«, fragte Wig in die Runde. Es stellte sich heraus, dass die Hälfte der Klasse einen zu Hause stehen hatte, aber nur zwei schon einmal gesehen hatten, wie einer in Betrieb genommen wurde. Selber Hand anlegen hatte noch niemand dürfen.
»Gut. Wir wollen aus der Musikstunde jetzt keine Physikstunde machen. Es geht heute nicht um Frequenzen und Dynamik, um Kilohertz oder Dezibel. Vinyl ist ein analoges Speichermedium und als solches, das muss gleich vorneweg gesagt werden, dem digitalen Medium messtechnisch in allen Belangen unterlegen, von der Handhabung ganz zu schweigen. Aber bei Musik geht es nicht um das Messbare und auch nicht um den größtmöglichen Bedienungskomfort. Es geht darum …«, er hielt inne und blickte sie lächelnd an, »… den Zauber freizusetzen. — Geben Sie mir ein paar Beispiele für Nichtmessbares.«
»Geschmack?«
»Richtig. Was noch?«
»Die Liebe.« Ein paar kicherten.
»Jaaaa … Gefühle sind ebenfalls nicht messbar, Freude, Leid, Zorn …«
»Gott ist auch nicht messbar.« Das war Andi Zauner.
»Das ist richtig und ein gutes Beispiel. Denn wir bewegen uns hier auch ein bisschen im Bereich des Glaubens. Vinyl ist die Orthodoxie unter den Tonträgern, im Gegensatz dazu ist MP3 Atheismus. Was Weihrauch und Kerzenlicht für die Kirche, sind für die Musikwiedergabe der Plattenspieler und die Nadel in der Rille einer Vinylscheibe. Die Spannung und Bereitschaft, hinzuhören, sich auf ein Stück zu konzentrieren, wird durch das Ritual, man könnte auch sagen, die zeremonielle Handlung erhöht. Vom Herausnehmen der Innenhülle aus dem Plattencover über das Entnehmen der schwarz glänzenden Scheibe bis zum Auflegen auf den Teller des Plattenspielers, das Starten des Motors und Auskuppeln des Antriebs, die Positionierung der Nadel über den Rillen und schließlich das Absenken des Tonarms, das alles erhöht die Spannung und Vorfreude.«
Wig zog, ohne lang zu überlegen, die erstbeste Platte aus dem Stapel. Nina Hagen Band, keine gute Wahl, dachte er, als er das kolorierte Porträt der Sängerin, mit Zigarette im Mund, erkannte, und wollte sie schnell gegen eine andere austauschen. Zu spät.
»Wer ist das? Bitte hochheben?« Was soll’s, dachte Wig und zog die Scheibe aus der Schutzhülle. Dann ließ er das Cover durch die Bänke gehen. Während er auflegte und überlegte, wo er mit einer Erklärung anfangen sollte, kam schon die erste Frage von einem der Mädchen.
»Wie alt ist die?«
»Die Platte ist 1978 erschienen, etwa um die Zeit, als eure Eltern geboren wurden. Nina Hagen war, glaub ich, damals dreiundzwanzig.«
»Und was für eine Musik hat sie gemacht? Pop?«
»Das war Punk-Musik. Man nannte sie die Mutter des deutschen Punk.«
»Ich finde, ihre Frisur sieht ein bisschen so aus wie die neue von Andi. Können wir jetzt hören, wie das klingt?« Wig drehte die Lautstärke auf und lehnte sich zurück.
Nach kurzer, geräuschvoller Unentschlossenheit griff sich die Nadel des Tonabnehmers eine Rille, und es begann zu knistern und pritzeln. Dann schlurfte Blasmusik näher. Klarinetten und eine Basstuba spielten eine umpa-umpa-artige Einleitung, eine verzerrte Gitarre grätschte sich lautstark in den Vordergrund und drehte den Rhythmus um, ein deftiger Bassabgang verschob den Anfang des Taktes ein weiteres Mal und stellte zusammen mit dem Schlagzeug die Weichen endgültig auf Rock’n’Roll. Acht Takte später setzt Ninas Stimme ein:
Ich kenn’ einen Jungen
Der hat paar Augen, dass du träumst davon
Du sagst nix
Du siehst ihn bloß an
Und ganz langsam drehen sich deine Augen links ein
Und du schielst schon
Ich kenn’ einen Jungen
Der schnappt sich einfach deine heiße Hand
Du sagst nix
Du siehst ihn bloß an
Und während du vor Glück stöhnst
Frisst er dir den Kühlschrank leer
Und du schielst schon
Das ist ein (hoi hoi) Superboy
Der macht dich (hoi hoi hoi) glücklich
Der ist ein Hypnotisasator
Der schlaucht dich aus
Ich kenn’ einen Jungen
Der hat ’ne Nase, dass du träumst davon
Der sagt nix
Sein Kopf ist voll Stroh
Seine Klamotten sind aus’m Snob Shop aus Ohio
Das ist ein (hoi hoi) Superboy
Der macht dich (hoi hoi hoi) glücklich
Der ist ein Hypnotisasator
Der schlaucht dich aus
Einen Moment lang
Frisst du aus seiner herrlich männlichen Hand
Du frisst alles
Wenn er schon mal was sagt, dann frisst du das auch
Mensch pass bloß auf
Sonst wirste’n
Allesfresser, Allesfresser, Allesfresser, Allesfresser
Wig wollte eigentlich nur ein Lied spielen, aber die Klasse, vor allem die Mädels, hatte jetzt Blut oder besser Punk geleckt und wollte auch das nächste Stück hören. Es trug den Titel »Heiß« und war wegen seines expliziten Textes nicht geeignet für Fünfzehnjährige. Aber Herwig hatte das vergessen. Er hatte die Platte ewig nicht mehr gehört und war selber neugierig auf das, was folgte.
War es beim ersten Lied Blasmusik, so wurde jetzt ein verhalltes Keyboard langsam eingeblendet. Es spielte einen psychedelischen, reggaeartigen Rhythmus, bis irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, das Schlagzeug die Szene betrat. Mit einem Break, der sich anhörte wie ein Felssturz im Zeitlupentempo, löste es die Handbremse. Ein verzerrtes Gitarrenriff setzte sich auf den Rhythmus und fräste eine Schneise frei für Ninas Stimme: »Mir ist heisssssssssss. Ich bin heisssssssss …«
Erst als das Wort »Wichsmann« fiel, erinnerte Wig sich an die schlüpfrige Geschichte und konnte gerade noch rechtzeitig abdrehen, bevor sich die Geschichte zu einer Ménage-à-trois auswuchs. Aber der Same war gesät, und das Erste, was sie nach der Schule taten, war, sich diesen Song über YouTube reinzuziehen.
Nach der Stunde bat er Andreas Zauner, ihm beim Abbauen der Anlage zu helfen. Bei der Gelegenheit erfuhr er dann auch, was es mit seinen Haaren auf sich hatte.
Er war mit seiner Familie in Rom gewesen, bei einer Audienz mit dem Papst. Dabei hatte der Pontifex seine segnenden Hände auf Andis Haupt gelegt, was seinen Vater in Verzücken ausbrechen ließ, und kaum dass sie wieder zu Hause waren, schnitt dieser ihm kurzerhand die Locken ab. »Durch die Berührung vom Papst sind sie eine Reliquie, hat er gesagt. Der Haarschüppel kommt jetzt in eine Vitrine, und ich soll stolz sein und nicht plärren.« Wig versuchte ihn aufzuheitern. »Vor vierzig Jahren wärst du mit dem Haarschnitt ganz vorn dabei gewesen. Jedenfalls in London und in Berlin. Es dauert eben, bis solche Sachen zu uns kommen. Aber das kann man mit einem ordentlichen Haarschnitt wieder reparieren. Brauchst du Geld für einen Friseur?«
»Nein, danke. Ich lass es jetzt eine Weile so. Z’fleiß! Vielleicht schmier’ ich mir noch was hinein. Damit sie besser wegstehn.«
So wurde spät, aber doch der Punk im Hause Zauner zum Thema. Andi Zauner ließ es sich auch nicht nehmen, seine Eltern auf Nina Hagen anzusprechen. Diese kannten ihr Schaffen zwar nicht im Detail, aber was sie gehört hatten, reichte, um beim Elternverein der Schule eine Beschwerde gegen Herwig Berger einzureichen. Andi war untröstlich, denn er wollte eigentlich seinen Eltern eins auswischen und nicht seinem Lehrer. Aber Wig kam mit einem blauen Auge beziehungsweise einer Verwarnung davon.
Es war nicht so, dass Herwig nun gar nichts mehr rauchte, aber er hatte die Kifferei gut im Griff. Ein kleiner Spliff jeden Abend vor dem Zähneputzen bescherte ihm lustige Bilder zum Einschlafen, und an den Wochenenden versüßte er sich mit einer erhöhten Dosis so manchen Kinobesuch. Filme wurden nämlich seine Leidenschaft. Nicht nur, weil er dazu in die Stadt fahren musste und damit Nora nahe sein konnte, sondern auch, weil ein schlechter Film im schlimmsten Fall nach zwei Stunden vorbei war, während einem schlechte Bücher eine ganze Woche oder länger vermiesen konnten.
Nora konnte ihn nicht immer dabei begleiten, aber doch oft genug, dass fast so etwas wie Normalität in ihre Beziehung Einzug hielt. Auch oder vielleicht gerade, weil Sex mangels geeignetem Rückzugsort wegfiel und durch Popcornessen aus einer gemeinsamen Tüte ersetzt wurde. Wäre da nicht das klandestine Momentum gewesen, hätten sie selber glauben können, sie seien ein Ehepaar. Sein schönstes Kinoerlebnis war der Film »Love and Mercy«. Nicht jeder Streifen war ein großes Kunstwerk, aber Wig musste Nietzsche recht geben: »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.« Und »Love and Mercy« war so ein Werk. Ein Song daraus ging ihm tagelang nicht mehr aus dem Kopf:
Wouldn’t it be nice to live together
In the kind of world where we belong?
[…]
Happy times together we’ve been spending
I wish that every kiss was never ending