Es war kurz vor acht, als ich den Brief zurück in die Tasche steckte. Die Sonne spitzelte gerade über die Berge und warf ihr erstes Licht als warmen Schein durch die beiden Fenster, als ich um neun Uhr mein Zimmer verließ und zur Lobby hinunterging. Herwig Berger stand bereits an der Rezeption und wartete auf mich. Als er mich sah, kam er mir entgegen. »Guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Kommen Sie, ich habe alles vorbereitet. Ich habe frische Kipferl und Semmeln besorgt.« Er zeigte auf eine Einkaufstüte. »Brötchen, wie man bei Ihnen sagt.«
Er war gut gelaunt und offensichtlich erleichtert. Wir stapften die kurze Strecke zu seiner Wohnung vorbei an tiefverschneiten Autos und schaufelnden Menschen. Der Schneefall der vergangenen Tage hatte die Stadt und die ganze Landschaft in ein in Watte gepacktes Märchenland verwandelt. Auf allem lag gut ein Meter bauschig fluffiges Weiß.
Herwigs und Marias Wohnung lag auf derselben Höhe wie mein Hotelzimmer und bot denselben Fernblick. Die Sonne stand nun frei über dem Bergkamm und füllte den Raum mit blendendem Schein. Der Küchentisch war bereits gedeckt. Eine volle Kanne Filterkaffee verströmte den bitter-süßlichen Duft geschnittenen Holzes, und während Herwig das frische Gebäck in einen Korb legte und die Butter aus dem Kühlschrank holte, stellte ich mir Marias Leben vor ihrer Flucht vor. Wie konnte man hier unglücklich werden? War es nur der Schnee, der die Ecken und Kanten, den Makel und Unrat des Lebens verdeckte? War es der Schnee, der die Welt zum Leuchten brachte und im wahrsten Sinne den Rest ausblendete? Ich beobachtete Herwig bei seinen Bewegungen durch die Küche und stellte ihn mir als Liebhaber vor. Was ich dabei spürte, gefiel mir. Er war ein wenig wie die Schneelandschaft draußen. Weich, hell und geheimnisvoll. Ein Mann zum Hineinfallen und Versinken. Wahrscheinlich war es genau diese Eigenschaft, welche Maria zu schaffen gemacht hat. Sie wuchs am Widerstand. Herwig sei wie Valium, hat sie einmal gesagt und erzählt, dass sie die Droge anlässlich einer medizinischen Untersuchung einmal verabreicht bekommen hat. Der Zustand phlegmatischer Glückseligkeit sei, solange er angehalten habe, zwar angenehm gewesen, aber im Nachhinein habe sie ihn bedrohlich gefunden. Auf meine Frage, warum, hatte sie bitter lächelnd gemeint: »Weil ich mich daran gewöhnen würde, mich mit der Welt zufriedenzugeben.« Ich gab zurück, dass es dazu kein Sedativ brauche und sie es sich leisten könne, ein bisschen weniger streng mit sich und der Welt zu sein.
Herwig Berger warf einen prüfenden Blick auf den Küchentisch und schien zufrieden. »Kommen Sie, setzen wir uns.« Er hielt mir einen Stuhl hin, von dem aus man das Fenster im Blick hatte. »Marias Platz. Und davor der meiner Mutter. Von hier aus konnten sie den Horizont sehen.« Er goss mir eine Tasse Kaffee ein und bemerkte dann erschrocken: »Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gefragt, ob Sie Kaffee trinken. Wenn Sie lieber Tee hätten, kann ich natürlich welchen machen.«
»Nein, lassen Sie. Ich bin nicht wählerisch. Aber darf ich Sie etwas fragen? Aus Marias Brief geht hervor, dass Sie alleine zurückgefahren sind. Haben Sie Ihren Vater wirklich auf dem Heiligen Berg zurückgelassen?«
»So ist es. Es blieb mir auch nichts anderes übrig. Ich hätte ihn nicht umstimmen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Für mich war es wie eine Reise ins Herz der Finsternis. Eine Reise ins Mittelalter und in die Vergangenheit. Mein Vater war sich seiner Sache sicher und schien auch nicht verwirrt oder sonst irgendwie ferngesteuert. Der religiöse Film, der dort abging, machte ihm nicht zu schaffen.«
»Wie lange ist das her?«, fragte ich.
»Dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe? Etwas mehr als zwei Monate werden es sein. Nachdem er mir seinen Entschluss mitgeteilt hatte, bin ich noch zwei Tage geblieben. Ich hatte auch Gelegenheit, mit dem Abt zu reden. Er versicherte mir, dass alles seine Richtigkeit habe und mein Vater wisse, worauf er sich einlasse. Man nehme ihn für eine Probezeit in die Klostergemeinschaft auf. Nach einem Monat wollte man weitersehen. Der Abt bot auch mir an, noch eine Weile zu bleiben. Doch im Gegensatz zu meinem Vater war ich nicht bereit für einen so radikalen Rückzug von der Welt da draußen, und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass er mich gebraucht hätte. Er strahlte eine Fröhlichkeit aus, die mich an längst vergangene Zeiten erinnerte. Und so habe ich mich von meinem Vater verabschiedet mit der Ahnung, ja der Gewissheit, ihn wohl nie mehr wiederzusehen. Seither habe ich keine Nachricht von ihm. Auch der Brief, den ich ihm geschrieben habe, blieb unbeantwortet.
Ich sehe ihn noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Mein Vater trug eine bodenlange Arbeitsschürze über seiner Hose, als wir uns ein letztes Mal umarmten. Zwei Mönche schleppten eine Matratze über den Klosterhof, einer bestrich den Stamm eines Orangenbaumes mit Kalk gegen das Ungeziefer. Ich fragte ihn, ob er denn jetzt auch an die Auferstehung glaube. Er lachte und meinte, es würde für die Welt hinter dem Vorhang keinen Unterschied machen, ob wir uns darüber Gedanken machten oder nicht. Wenn es sie gäbe, gäbe es sie unabhängig davon, ob wir an sie glaubten oder nicht. Dann ging er hinüber zu Nikolas und half ihm dabei, mit einer Spachtel die verwitterte braunrote Farbe von der Außenmauer der Kirche abzuschaben. Für das bevorstehende Fest der Panagia, der Allerheiligsten Gottesmutter Maria, sollte das Katholikon frisch gestrichen werden und in neuem Glanz erstrahlen.
Mit diesem letzten Bild vor Augen wanderte ich entlang der staubigen Straße, die wir wenige Tage zuvor mit dem Lastwagen heraufgefahren waren, nun wieder tal- und heimwärts. Immer wieder drehte ich mich um, so lange, bis das Kloster hinter den Bergen außer Sicht war. Dann stellte mein Kopf die Weichen meiner Gedankenströme neu, und auf einmal war mir Maria ganz nah. Immer wieder ließ ich sie in den Fluten untergehen, und immer wieder tauchte sie aus ihnen auf. Ich war so in mich gekehrt, dass ich eine falsche Abzweigung genommen haben musste. Während sich meine Gedanken in fiktiven Zwiegesprächen mit meiner Frau verloren, waren auch meine Beine vom Weg abgekommen. Die Straße hatte sich nach und nach zu einem Pfad verengt, und dieser führte mich in einen Wald von Kastanienbäumen. Eichelhäher kreischten ringsum, und der Duft hunderter Zyklamen begleitete mich, während meine Füße über den weichen, von wilden Maroni übersäten Waldboden schritten. Nach vielen Stunden erreichte ich die Hauptstadt der Mönchsrepublik. Es war natürlich keine Stadt, eher ein Dorf mit vielleicht zweihundert Einwohnern. Im Vergleich zu den Klöstern jedoch eine unvermutete, ja irritierende Weltlichkeit. Geschäfte, Autos, zwei Gasthäuser, Bier, Coca-Cola … Es gab sogar so etwas wie ein Gästehaus. Ich war erschöpft, hatte seit dem Vortag nichts gegessen und war seit meinem Aufbruch bei keinem Brunnen vorbeigekommen. Nachdem ich zwei Flaschen Bier der treffenden Marke Mythos getrunken und eine mit Kartoffel gefüllte Teigtasche gegessen hatte, war es zu spät geworden, um den Hafen, geschweige denn ein Schiff zu erreichen, das mich zurück in die Himmelsstadt, zurück in meine Welt hätte bringen können. Ich fragte im Gästehaus, ob sie noch ein freies Bett für mich hätten. Dieses hatte jedoch nur zwei Zimmer, wovon beide belegt waren. Man empfahl mir, zum nächstgelegenen Kloster zu gehen. Es liege an der Ostküste, eine Gehstunde entfernt. Ich könne es noch vor der Dunkelheit erreichen, wenn ich mich gleich auf den Weg mache.
Der Weg führte steil zur Küste hinunter. Die Landschaft im Osten der Halbinsel war rauer, dunkler, abweisender, der Welt draußen noch ferner. Das Kloster war ein mächtiger, mehrstöckiger Bau, der einen Innenhof umschloss. Auf seinem Wehrturm flatterte die gelbe Fahne mit dem byzantinischen Adler, und an einem Balkon hing ein Transparent. Als ich näher kam, konnte ich es entziffern: »ΟΡΘΟΔΟΞΊΑ Η ΘΑΝΑΤΟΣ«, »Orthodoxia i Thanatos«. Aus Köhlmeiers Erzählungen der griechischen Mythologie erinnerte ich mich, dass Thanatos ein Gott des Todes war. Die Übersetzung musste wohl lauten: Orthodoxie oder Tod. Ein entsprechend ungutes Gefühl begleitete mich, als ich an der Pforte klopfte und mein Visum vorzeigen musste, auf dem mein katholischer Glauben vermerkt war. Aber niemand machte irgendwelche Umstände daraus, und ich bekam ein Bett im Schlafsaal zugewiesen. Der Raum war fast zur Gänze mit Pilgern belegt. Ihre Füße, Socken und Schuhe verströmten trotz offener Fenster einen derart strengen Odeur, dass mir der Atem stockte. Nachdem ich mich meiner Schuhe entledigt und bettfertig gemacht hatte, musste ich mir jedoch demütig eingestehen, dass sich mit meiner Anwesenheit die Luftqualität noch einmal verschlechtert hatte. Es war die Nacht der Schnarcher. Ein Orchester ungestimmter Kontrabässe, garniert mit Gefurze und Gezischel, zerrieb jeglichen erhabenen Gedanken und auch die Hoffnung auf baldigen Schlaf. Allein durch die Dachluke blinzelten tröstend ein paar Sterne und gaben Hoffnung auf einen Tag danach. Auf die Auferstehung, wenn man so will.
Am nächsten Morgen blieb mir gar nichts anderes übrig, als den Gottesdienst zu besuchen, denn ich wollte das anschließende Frühstück nicht verpassen. Über eine Stunde stand ich zwischen all den Mönchen und Pilgern und wurde mir meiner Fremdheit in diesem Umfeld bewusst. Indem ich ihre Rituale nachahmte und mitmachte, wurde ich zum Heuchler. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, nicht der einzige zu sein. Es musste doch außer mir noch andere geben, die nur so taten, als ob sie an den heilbringenden Effekt dieser Handlungen glaubten. Selbsthypnose, fuhr es mir durch den Kopf. Dann erinnerte ich mich der letzten Worte meines Vaters: Für die Welt hinter dem Vorhang macht es keinen Unterschied, ob wir an sie glauben oder nicht.«
Herwig Berger trank einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse und griff nach einem Gebäck. Nachdem er es halbiert hatte, bestrich er jede Hälfte zuerst mit Butter und dann mit Konfitüre und reichte sie mir.
»Vielleicht sind Religionen im Grunde ja so etwas wie Placebos«, fuhr er fort. »Um unsere Glaubensfähigkeit zu mobilisieren. Aber leider gibt es selbst bei wirkstofffreien Verabreichungen auch die Möglichkeit einer negativen Reaktion. Man nennt es den Nocebo-Effekt. Die Geschichte ist voll davon. Es kommt immer auch auf den Arzt an, der die Medizin verabreicht. Oder im Fall der Seelsorge auf den Priester. Wenn sie im Namen Gottes zum heiligen Krieg und zum Kreuzzug aufrufen, kommt am Ende Leid heraus. Es gibt keine Religion, die frei von zwielichtigen oder moralisch zweifelhaften Charakteren ist. Je fundamentaler die Ausrichtung, desto mehr Wirrköpfe.«
Ich nahm einen Bissen vom Brötchen. Der Aufstrich schmeckte sauer, aber gut. »Was ist das?«, fragte ich ihn. »Rote Ribisel, Marias Lieblingsmarmelade. Von ihr selber eingekocht. Sie war der Meinung, gekaufte Ribiselmarmelade tauge nichts. Und ich muss ihr recht geben.«
»Haben Sie damals, als Sie vom Heiligen Berg zurückgekommen sind, versucht, mit Ioannis Kontakt aufzunehmen?«
»Nein. Ich habe mich in den Volvo gesetzt und bin in einem durch nach Hause gefahren.« Er stutzte und sah mich an, und ich ärgerte mich über meine Neugier und bereute es, diese Frage gestellt zu haben.
»Warum? Hätte ich das sollen?«
Ich hielt seinem Blick nur mit Mühe stand und biss in das Gebäck. Nachdem ich den Bissen mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, sagte ich, so beiläufig wie möglich: »Maria und ich haben eine Weile dort gewohnt, und ich glaube, dass sie ein paar Sachen bei ihm deponiert hat, bevor wir zu seinem Großvater gefahren sind. Einen Rucksack, den sie auf der Heimreise abholen wollte.« Aber ich sah es in seinen Augen, der Same war gesät. Jetzt konnte ich nur verhindern, dass er gleich aufging, und brachte die Polizei ins Spiel. »Was ist eigentlich mit diesem Inspektor, von dem Sie mir erzählt haben? Wie hieß er noch einmal? Schüller? Vielleicht kann er sich der Sache annehmen?«
»Haben Sie eine Adresse?«
»Nein, aber ich könnte beschreiben, wie man hinkommt.« Herwig verschwand und kam mit seinem Laptop zurück, startete Google Maps und drehte den Bildschirm zu mir: »Können Sie mir auf der Karte zeigen, wo Ioannis’ Wohnung ist?« Ich behauptete, im Kartenlesen nicht sehr geschickt zu sein, was der Wahrheit entsprach, und sagte: »Es war oben am Berg, unterhalb einer Festungsanlage. Wenn Sie mir die zeigen, kann ich mich vielleicht orientieren.«
Für Herwig Berger und die Internet-Suchmaschine war das eine leichte Übung. Er tippte etwas in das Suchfeld — »Meinen Sie das Heptapyrgion?« —, und wenig später lag der Stadtteil vor mir. Er zoomte hinein und scrollte über die Häuserzeilen. Da war es. Auf dem Satellitenbild konnte man sogar das Sofa auf der Terrasse erkennen. Ich gab vor, mir meiner Sache nicht sicher zu sein, und zeigte auf den ganzen Häuserblock. »Hier irgendwo müsste es sein.« Er machte einen Screenshot, speicherte ihn ab und beließ es zu meiner Erleichterung dabei. Er räumte den Computer zur Seite und fragte, ob ich noch etwas Kaffee haben möchte. »Gerne.«
Während er uns nachschenkte, überlegte ich, ob es sehr indiskret wäre, ihn zu fragen, ob er inzwischen Vater geworden sei. Er hatte meine Gedanken erahnt und kam mir zuvor.
»Wenn Sie den Brief gelesen haben, dann wissen Sie ja von meiner Beziehung zu Nora. Wahrscheinlich hat Maria mit Ihnen auch darüber gesprochen. Das Kind ist vor zwei Wochen zur Welt gekommen. Es ist ein Mädchen und heißt Ylva. Nach ihrer Großmutter.«
»Und wie fühlt es sich an, Vater zu sein?«
Er schaute mir lange in die Augen, bevor er mir eine Antwort gab. »Ich bin wahrscheinlich gar nicht der Vater.«
»Was …? Wer ist es denn? Oh, tut mir leid. Das ist mir herausgerutscht. Es geht mich wirklich nichts an. Entschuldigung.«
»Ist schon in Ordnung. Nora hat einen Freund, und es ist zugegeben für alle Beteiligten das Beste, wenn er der Vater ist und nicht ich.«
»Aber war das nicht Ihr großer Traum? Maria hat mir erzählt, Sie wollten sogar ein Kind adoptieren.«
»Ja, es war ein Traum, aber ein Traum, in dem auch Maria vorgekommen ist. Wir hätten es uns verdient. Aber es geht nicht immer gerecht zu im Leben. Das mit Nora ist etwas anderes. Wir waren fasziniert voneinander, das heißt, wir sind es noch immer, ich jedenfalls. Dann folgte das Verliebtsein mit dem Verlangen nach körperlicher Bindung. Und ja, am Ende schlich sich sogar der Kinderwunsch ein. Aber es war uns beiden bewusst, dass wir das nicht durchstehen würden. Sollte ich entgegen aller Wahrscheinlichkeiten doch der Vater sein, wird es ein Geheimnis bleiben. Für alle. Weder Nora noch ich streben einen Vaterschaftstest an.«
»Und Noras Freund?«
»Er weiß nichts von unserer Liebe.«
Herwig stand auf und begann den Tisch abzuräumen.
»Ich muss jetzt los. Bis vier Uhr habe ich Unterricht und dann noch eine Konferenz. Ich werde erst gegen sieben nach Hause kommen. Wollen wir danach essen gehen? Sie sind natürlich eingeladen. Das Hotel ist bis morgen gebucht. Über das Wochenende ist es leider ausgebucht. Aber ich kann versuchen, ein anderes zu finden. Oder wenn es Ihnen nichts ausmacht, steht Ihnen mein Gästezimmer zur Verfügung. Ich wollte es für meinen Vater herrichten. Aber der braucht es ja nicht mehr.«