Vom Hôpital Saint-Pierre in der Innenstadt, wo er ehrenamtlich deutschsprachigen Patienten seelischen Beistand geleistet hatte, ging Monsieur Haslinger zu Fuß nach Hause. Er spazierte nach Porte de Hal, vorbei an den Resten der mittelalterlichen Stadtmauer, querte die Ringstraße und marschierte die Chaussée de Waterloo hinauf nach Saint-Gilles. Die Straße war steil und lang, doch er ging ohne Pause und blieb erst an der Barrière stehen, wo der Verkehr von sieben Straßen hektisch in einen Kreisverkehr mündete. Während er an der Ampel wartete, blickte er verwundert auf eine Statue, die in der Mitte des Rond-Point auf einem Steinbrunnen stand. Es war eine barfüßige Wasserträgerin. Ihr Haar war verhüllt von einem Kopftuch, und ihr Gesicht hatte weibliche schöne Züge.
Die Ampel sprang von Rot auf Grün. Erstaunt, dass ihm die Statue zuvor nie aufgefallen war, ging er hinauf bis nahe an den höchsten Punkt von Brüssel. Am Rathausplatz, im Schatten der Platanen, machte er Rast. Durch die Baumkronen betrachtete er den neugotischen Prachtbau und die vier goldenen Engel unter dem Kuppeldach des Uhrturms. Als das Glockenspiel zu läuten begann, sah Monsieur Haslinger auf die Uhr und ging weiter nach Ixelles, wo er wohnte.
Zehn Minuten später betrat er sein Haus. Über hundert Jahre war es alt, und oberhalb der Holztür gab es ein kleines rundes Fenster aus buntem Glas. Von dort fiel Licht auf die schmale Treppe, die ihn hinauf zu seiner Einzimmerwohnung führte. Er schloss die Tür auf, legte den Schlüssel ab und setzte sich auf einen Stuhl – erschöpft vom Spaziergang, aufgewühlt von der Seelsorge, aber auch glücklich darüber, dass er heute gebraucht worden war.
Nach einem Moment der Erholung streifte er die Schuhe ab und raffte sich auf, um die Blumen zu gießen und zu Abend zu essen. Er stellte seine Budapester auf die Schuhmatte, legte die Schuhspanner ein, ging zur Balkontür, schob den Vorhang beiseite, als – in dem Moment doch überraschend – er in seiner alltäglichen Bewegung innehielt.
Er sah die Nachbarin auf der Terrasse. Sie lag in einem Liegestuhl, neben einem Zitronenbaum, der schmächtig aus der Erde ragte. Auf einem Beistelltisch stand ein halb leeres Sektglas. Die Ärmel ihrer Bluse hatte sie bis weit über die Ellbogen geschoben, die Hosenbeine nach oben gestülpt, Schuhe und Socken ausgezogen, sodass Monsieur Haslinger ihre nackten Arme und Füße erkennen konnte. Sie las kein Buch, auch keine Zeitung. Sie telefonierte nicht, sie lag einfach da.
Ihre Gelassenheit rührte ihn. Der Anblick schien ihm der perfekte Ausklang für seinen Tag. Es erinnerte ihn daran, warum er als Pfarrer im Ruhestand der Seelsorge nachkam. Er erweckte etwas zum Leben, so dachte er, und in dieser Frau strahlte nun dieses zum Leben Erweckte auf ihn zurück.
Lächelnd löste er seinen Blick von ihr und beschloss, die Blumen auf seinem Balkon nach dem Abendessen zu gießen, um ihre Ruhe nicht mit dem geräuschvollen Öffnen der Tür und seiner Anwesenheit zu stören.
Aus der Schublade nahm er ein Tischtuch, breitete es über dem Mahagonitisch aus, holte einen Teller, Silberbesteck und ein Kristallglas aus der Altwiener Vitrine, stellte das Geschirr ab und prüfte, ob alles hübsch zusammenpasste. Danach ging er in die Küche, holte Baguette vom Vortag, Comté und eine Tomate, dazu eine Flasche Blauer Zweigelt aus der Wachau, die er bei seinem letzten Heimatbesuch aus Österreich mitgebracht hatte. Im Sitzen betrachtete er die Zutaten, sog deren Duft ein und sprach ein Tischgebet, in dem er sich leise für die Aufgabe bedankte, die seinen Tag mit Sinn bereichert hatte. Dann begann er zu essen.
Während er aß, fiel die Sonne ins Zimmer. Das heiße Licht funkelte im Glas und brannte auf seinem Rücken. Es dauerte nicht lange, bis er sein feuchtes Hemd an der Rückenlehne fühlte und sich nach Frischluft sehnte.
Er legte Gabel und Messer beiseite, tupfte mit der Serviette seine Stirn trocken und überlegte, ob er die Balkontür doch öffnen sollte. Unschlüssig saß er da und streifte mit der flachen Hand über das Tischtuch, unter dem das rotbraune und schön gemaserte Mahagoniholz schimmerte. Schließlich erhob er sich und schielte durch die Gardinen.
Die Nachbarin lag noch immer im Liegestuhl. Er sah ihren Kopf mit den schlohweißen langen Haaren. Schön und anmutig sah sie aus, wie eine Dame, die mit sich und der Welt zufrieden war. Monsieur Haslinger setzte sich wieder und aß weiter, damit sie noch länger diese Ruhe ausstrahlen konnte.