Auch der nächste Abend endete für Monsieur Haslinger in seinem ruhigen Hinterhof. Ein sanfter Wind blies. Er trieb polsterartige Wolken von der Nordsee über die Bürgerhäuser und gut gepflegten Gärten. Monsieur Haslinger stand auf dem Balkon. Er atmete die Meeresluft, hörte die Baumkronen rascheln und ließ einen fürsorglichen Blick über seine Blumen streifen. Er besah die Fuchsie, die sich an das Spalier krallte. Die lila Zauberglöckchen, die in einer Blumenampel von der Decke baumelten. Und die buschigen Geranien, die farbenfroh über das Balkongeländer hingen.
Am Boden, in Tontöpfen, eng gereiht auf den marokkanischen Zementfliesen, standen die Margeriten. Er kniete sich nieder, klaubte eine Raupe von einer Blüte und zupfte vertrocknete Blätter von den Stielen. Dann nahm er eine Gießkanne, ging in die Küche, hielt sie unter den kühlen Wasserstrahl, kam zurück, kniete sich wieder nieder und goss die trockene Erde. Sobald er sich bewegte, spürte er die Tageshitze, deren Rest hartnäckig zwischen den Hausmauern stand. Lächelnd lauschte er den Amseln. Sie zankten in der Esche, die sich in der Hofmitte in den Himmel streckte.
Nach einer Weile traten Menschen ins Freie. Zuerst war französisches, dann flämisches Gemurmel zu hören. Es kam aus der Richtung, in der die Wohnung der neuen Nachbarin lag. Monsieur Haslinger überlegte, ob sie es war und ob er aufstehen, sich zeigen und sie höflich grüßen sollte. Doch er tat es nicht. Er wollte nicht aufdringlich sein. Stattdessen goss er weiter seine Pflanzen, entfernte dürre Blütenblätter, düngte die Erde und überprüfte jeden Zentimeter nach Ungeziefer.
Als er die Begonie ein zweites Mal goss, erkannte er, dass er nicht bei der Sache war, sondern in Gedanken bei der Frau. Er wusste, dass allein ein Blick auf ihre Terrasse seine Unkonzentriertheit beenden konnte, deshalb richtete er sich unauffällig auf, drehte sich zur Seite und warf einen beiläufigen Blick hinüber. Die Nachbarin war nicht zu sehen. Ihre Terrasse war leer und die Tür verschlossen. Das Gemurmel kam von der Dachterrasse nebenan.
Für einen Augenblick blickte er in ihre Wohnung. Viel war nicht zu erkennen. Ein marmornes Kaminsims, ein Bild mit abstrakten dicken Pinselstrichen und eine Stehlampe, die sich elegant über ein Sofa bog. Sein Blick schweifte über ihre Terrasse. Dort standen Blumen in vielen Töpfen, die in Material, Farbe und Form aufeinander abgestimmt waren. Alle standen in der Sonne, nicht verteilt nach den Lichtbedürfnissen der Pflanzen.
Aus der Distanz versuchte er ihren Zustand zu erahnen, und ihm war, als ob einige bereits durstig die Blätter hängen ließen. Hoffentlich gießt sie bald, dachte er und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.
Wenig später begann es zu dämmern. Er fühlte die angenehme Kühle auf seiner Haut und blickte auf die Flecken der Abendsonne, die auf den Fassaden der Bürgerhäuser leuchteten. Manche waren blutorange, andere strahlend gelb. Dabei war die Sonne nicht mehr zu sehen und der Himmel über den Dächern bereits ins Malvenfarbene übergegangen.
Leicht erschöpft ging er ins Bad, wusch sich die Hände und zog sich aus. Die Baumwollhose und das weiße Hemd hängte er ordentlich über den Herrendiener, dann duschte er und zog seinen Schlafanzug an. Vor dem Schlafengehen ging er in die Küche, kochte Tee aus frischer Minze, setzte sich mit der Tasse auf den Balkon, zwischen seine prächtigen Blumen, und blickte in den Hinterhof.
Viele Fenster waren erleuchtet, dahinter bewegten sich Menschen, unterhielten sich, lebten miteinander. Die zweistöckige Wohnung der neuen Nachbarin war dunkel und wirkte leer. Hoffentlich kommt sie bald nach Hause und kümmert sich um ihre Blumen, dachte er noch mehrmals, bis er ausgetrunken hatte und ins Bett gegangen war.