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Mit dem Bedürfnis, unter Menschen zu sein, verließ Monsieur Haslinger seine Wohnung und ging auf den Markt. Im Leinensakko spazierte er die Rue Franz Merjay hinunter, vorbei am Café Chez Franz und weiter zum Place du Châtelain, wo er zwischen den eng gereihten Marktständen durch die Menschenmenge schlenderte. Er betrachtete Schnittblumen aus Gent, die in großen Kübeln schön präsentiert wurden. Er kostete Trappistenkäse aus Antwerpen und genoss die vielsprachigen Stimmen der Händler, die sich zu einer heiteren Klangwolke vermengten.

Neben einer Crêperie nahm er Platz auf einer Parkbank und beobachtete das Treiben. Ein alter Mann mit Hut ging langsam an ihm vorbei. Ein Händler packte zusammen und schob die leeren Kisten auf einen Sackkarren. Ein junges Paar in Sommerkleidung setzte sich neben ihn. Sie umarmten und küssten sich und flüsterten einander ins Ohr. Unvermittelt musste er über das Alleinsein nachdenken und darüber, dass man sich auch unter vielen Menschen einsam fühlen konnte.

»Monsieur Haslinger!« Jemand rief seinen Namen und riss ihn aus der Versunkenheit.

Er drehte sich um und sah den berühmten französischen Autor, der in seiner Straße wohnte, dessen Namen er sich aber partout nicht merken konnte. Der bullige, braun gebrannte Mann mit Glatze führte seinen Hund an der Leine und kam zu ihm.

»Kein Pfarrdienst heute?«

»Ich bin doch schon emeritiert, ich arbeite nur noch ehrenamtlich im Krankenhaus, wenn es Sprachbarrieren gibt und mein Freund mich darum bittet.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Und? Wie gefällt Ihnen das Pensionistenleben?«

»Sehr gut«, sagte Monsieur Haslinger, obwohl er das Gefühl hatte, zu viel Zeit zum Nachdenken zu haben, als würde sein Leben ohne Arbeit gerade etwas ins Wanken geraten.

»Möchten Sie eine Erdbeere?« Der Schriftsteller hielt ihm eine Tasse hin. »Die sind aus Wépion.«

Monsieur Haslinger nahm eine, betrachtete sie, biss hinein und genoss den süßen, reifen Geschmack.

»Nicht so bescheiden. Greifen Sie zu.«

Er nahm eine zweite, die ein noch intensiveres Aroma hatte. Eine Weile plauderten er und der Schriftsteller über das ungewöhnlich heiße Wetter, das man in Brüssel normalerweise in Tagen zählte, nicht in Wochen, so wie in diesem Jahr. Dann ging der stolze Mann weiter, und auch Monsieur Haslinger drehte eine zweite Runde.

Am Ende des Marktes, an der Kreuzung, blieb er stehen und ließ einen Bus vorbeifahren. Dabei fiel sein Blick auf einen Müllsack an der schattigen Rückseite eines Gemüsestandes. Der Sack war nachlässig zusammengebunden, oben ragten die kahlen Äste einer Birkenfeige aus der Öffnung. Und weil Monsieur Haslinger nicht mitansehen konnte, wie Menschen wertvolles Leben wegwarfen, kniete er sich auf den Pflasterstein und öffnete den Knoten. Der Müll stank abscheulich. Monsieur Haslinger rümpfte die Nase, griff hinein und begann vorsichtig an einem Ast zu zupfen. Das Wurzelwerk war verhakt. Der Blumenstock löste sich nicht, und für einen Augenblick war Monsieur Haslinger über die Menschen verzweifelt, die keine Muße mehr hatten, ihre Pflanzen zu pflegen.

Einen sanften Ruck später war die Birkenfeige befreit, und fürsorglich murmelte er beruhigende Worte für sich und das Pflänzchen. Er wollte gerade aufstehen, um es nach Hause zu bringen und einzupflanzen, als jemand neben ihn trat.

Noch auf Knien blickte er hoch und sah die neue Nachbarin, die ihn mit herzlicher Freude beobachtete.

Monsieur Haslinger sah sich selbst durch ihre Augen, wie er zwischen Gemüseresten und Kaffeefiltern am Boden kniete und mit einer Pflanze sprach. Um ihr zu beweisen, dass er sehr wohl wusste, wie man sich benahm, stand er auf, grüßte sie höflich und bat um Verzeihung, dass er ihr nicht die schmutzige Hand reichen konnte.

»Sie haben schöne Blumen«, sagte die Frau in reinem Französisch.

Monsieur Haslinger war sich unsicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Trotzdem hielt er sein Fundstück, die kahle Birkenfeige, ins Sonnenlicht, sodass sie beide den Schatz betrachten konnten. »Gefällt sie Ihnen?«

Sein Gegenüber lachte auf. »Ich meinte die Geranien auf Ihrem Balkon.« Sie benutzte ihre Worte, als wollte sie ihn mit einer Feder kitzeln. Das Lächeln blieb in ihren Augen, und Monsieur Haslinger verstand, dass sie ihn ein wenig auf den Arm nahm. Er beschloss mitzuspielen.

»Chère Madame«, sagte er, »man macht sich nicht über einen alten Spinner lustig.« Noch im Reden stellte er das Pflanzengerippe zu Boden, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und begann sich die Finger zu säubern.

»Sind Sie denn einer?«

»Was?«

»Na, ein alter Spinner.«

Monsieur Haslinger musste lachen. »Hin und wieder. Sie etwa nicht?«

»Doch, doch, immer wieder einmal«, sagte sie nun auf Flämisch, weil sie wohl seinen deutschen Akzent wahrnahm und dachte, er sei Flame.

Ein kurzer Moment der Stille entstand. Er nutzte ihn, um die Frau aus der Nähe zu betrachten. Sie war groß, nur wenig kleiner als er. Ihr Gesicht war klug und kaum geschminkt. Ihr selbstbewusster Blick schien anzudeuten, dass sie sich auf der ganzen Welt zu Hause fühlte und sie Dinge erlebt hatte, die andere Menschen nur aus dem Fernsehen kannten. Ihre Augen waren tiefblau, genau wie seine. Er fand etwas Weiches in ihnen, einen Zartsinn, den er sofort mochte.

Die Stille drohte zu lang zu werden, und er sprach weiter, auf Französisch, weil sein Flämisch weniger schön klang. »Die Geranien sind auch Zeugen meiner Spinnerei. Ich fand sie vorletzten Winter schneebedeckt auf der Chaussée de Waterloo, neben dem englischen Teegeschäft.«

»Ein Blumensamariter. Wie nett«, legte sie eine kleine Spitze in ihre Worte, nur um sie im Anschluss sofort zu entschärfen. »Na ja, Ihre Spinnerei ist zumindest lobenswert.«

»Ihre etwa nicht?«

Sie lachte. »Leider nicht immer«, sagte sie. Ihr Ton hatte sich geändert. Er war ernster geworden.

Monsieur Haslinger hätte sich gern weiter unterhalten und ein jähes Abschiednehmen vermieden, doch seine Nachbarin reihte sich bereits in den Strom der Passanten ein und verschwand so spontan, wie sie aufgetaucht war.