Weit nach Mitternacht saß Monsieur Haslinger am Esstisch und las ein Buch. Das Licht in seinem Zimmer war gedämpft. Nur die kleine Tischlampe leuchtete, deren alter Leinenschirm einen warmen Lichtkegel auf die eng bedruckten Seiten warf. Er las viel über Kenia und die afrikanische Vegetation. Alles schien ihm klug, bedeutsam und schön. Eine Passage unterstrich er mit Bleistift. Dass die Samen des Affenbrotbaumes jahrelang im Boden verweilen konnten, ohne dass sie keimten oder abstarben, fand er besonders interessant.
Nach der letzten Zeile klappte er das Buch zu, strich mit der Hand über den Einband und lächelte zufrieden über die neuen Erkenntnisse.
Erst jetzt, als er aufstand und die Lampe ausknipsen wollte, sah er den Nachtfalter. Er schwirrte an der Innenseite des Leinenschirms umher. Offensichtlich fand er den Ausgang nicht.
Monsieur Haslinger besah das Geschöpf: den Flügelschlag, die fadenförmigen Fühler, das Mundwerkzeug, die Streifen an den Beinchen und die einzigartige Flügelzeichnung. Als das Tier zur Ruhe kam, ergriff er es mit einer fürsorglichen Handbewegung, ging auf den Balkon, streckte seine offene Hand in den Nachthimmel und blickte dem Falter hinterher.
Es war eine schöne Sommernacht. Die Stadtluft floss in angenehmen Wogen über den Hinterhof. Keine Menschenstimmen waren zu hören. Nur die letzte Tram knarrte in der Ferne. Ansonsten war es still. Monsieur Haslinger blickte sich um. Er konnte nichts Besonderes sehen, nur bewegungslose dunkle Bläue. Kein einziges Fenster war erleuchtet, und es sah aus, als würde die gesamte Nachbarschaft tief und fest schlafen.
Außer Madame Janssen. Bei ihr ging das Licht an, und ein Lichtstrahl fiel durch einen Türspalt in ihr Wohnzimmer. Er füllte die Dunkelheit mit etwas Helligkeit, und Monsieur Haslinger glaubte ein paar Möbel zu erkennen und die Silhouette einer Person, die durch den Raum geisterte.
Aufmerksam betrachtete er das Geschehen. Er sah ein weiteres Licht angehen und konnte die schmale weiß gestrichene Holztreppe erkennen, die hinauf in die obere Etage führte. Er sah das Licht wieder ausgehen und eins in einem anderen Zimmer angehen. Das hell erleuchtete Fenster war von einer Gardine verhangen, aber dahinter konnte er einen Standspiegel sehen und einen Schrank erahnen, und manchmal sah er auch einen unbestimmten Schatten entstehen und wieder verschwinden. Was konkret geschah, erkannte er nicht.
Bis im Wohnzimmer die Deckenbeleuchtung anging und das grellgelbe Licht auf Madame Janssen fiel. Mit ungezwungenen Bewegungen schritt sie durch den Raum.
Nackt.
Ohne einen Stoff auf ihrer Haut.
Für einen kurzen Moment sah Monsieur Haslinger sie hüllenlos: ihre langen Haare, die zu einem Knoten hochgesteckt waren, ihren Nacken, den entblößten Rücken, die rundlichen Hüften, den kurvigen Po und ihre kräftigen Beine. Ein warmes Empfinden begann in ihm zu kreisen.
Sie trat aus seinem Blickfeld. Irritiert stand er da. Ihm gefiel, was er gesehen hatte, aber ihm gefiel nicht, dass er es gesehen hatte. Schließlich war es nicht sein Recht, eine nackte Frau ohne ihre Zustimmung zu betrachten.
Er ging ins Zimmer, schloss die Balkontür und zog den Vorhang zu. Hinter dem Vorhang verharrte er, noch immer glücklich über den Anblick, aber unglücklich über sein Starren und darüber, dass er der Verführung nicht sofort widerstehen konnte.
Er knipste die Tischlampe aus, ging zu Bett und versuchte zu schlafen. Doch ohne dass er es wollte, hatte er die Bilder vor Augen. Ständig sah er Madame Janssen nackt durchs Zimmer schreiten. Er drehte sich von einer Schlafposition in die andere, immer wieder. Der Anblick hielt ihn lange wach.