Die Stadtvilla von Madame Amsberg wirkte verwahrlost. Der Rosenbusch am Eingang war rigoros abgeschnitten worden. Die Fassade neben dem Säulenbalkon hatte Risse und dunkle Streifen vom Feinstaub. Auch die Milchglasscheibe in der Haustür, die hinter kunstvoll geschwungenem Gusseisen auf vergangene Pracht hinwies, hatte einen Sprung, der sich im weiten Bogen von oben bis ganz nach unten zog.
Monsieur Haslinger betrachtete das Haus, bis die Haushälterin die Tür öffnete.
»Ah, Meneer Pastoor. Welch eine schöne Überraschung. Kommen Sie rein.«
Er betrat die Eingangshalle, umfasste mit beiden Händen warmherzig ihre Hand und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden.
Ehe Noor zu Wort kam, klang schon die raue Stimme von Madame Amsberg aus dem Salon.
»Wer immer es ist, schicken Sie ihn nach Hause! Ich will niemanden sehen.«
Die Haushälterin rollte mit den Augen. Monsieur Haslinger lächelte. Er freute sich auf das Gespräch mit Madame Amsberg, einer starken Frau, gegen die sich bereits ihr Mann nur schwer behaupten konnte – und der war ein millionenschwerer Geschäftsmann gewesen.
»Es ist Pastoor Haslinger, lieve Dame!«
»Den schicken Sie nicht weg.«
Noor ging voraus. Monsieur Haslinger folgte ihr in den Salon, wo Madame Amsberg im Rollstuhl saß. Sie sah gealtert aus. Das grob geschnittene Gesicht war matt und braun befleckt, die Stirn überzogen mit Schuppenflechte, und in ihre Wangen gruben sich tiefe Falten, die aussahen wie schmerzhafte Risse.
»Goedendag, Madame Amsberg«, sagte er.
Angestrengt lenkte die flämische Witwe den Rollstuhl in seine Richtung. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern.«
»Mit Milch?«
»Wenn es keine Umstände macht?«
»Noor! Bringen Sie uns bitte Kaffee! Und vergessen Sie nicht wieder die Milch!«
Die Haushälterin entfernte sich. Madame Amsberg sah ihr abschätzig hinterher. »Sie kennen ihren Kaffee. Der schmeckt wie Kanalwasser. Die lernt es nie.«
Monsieur Haslinger überhörte die Stichelei, schließlich war er oft hier gewesen, als ihr gläubiger Gatte im Sterben lag. In den Monaten hatte er Madame Amsbergs Liebesfähigkeit und den herzlichen Kern unter ihrer harschen Hülle kennengelernt.
»Setzen Sie sich doch.« Madame Amsberg steuerte auf den Sofatisch zu und deutete auf die ausgesessene Lederbank, auf der Monsieur Haslinger Platz nahm und sich umblickte.
Seit seinem letzten Besuch hatte sich nicht viel verändert. Dieselben Möbel standen an derselben Stelle. Dieselben Bilder hingen an denselben Haken. Nur das Original von René Magritte hatte jemand von der Wand genommen, ohne es durch ein anderes Bild zu ersetzen.
»Meneer Pastoor. Langweilt Sie das Rentnerleben so sehr, dass Sie bereits Ungläubige besuchen?«
Monsieur Haslinger lachte. »Madame Amsberg, Sie wissen doch, es gibt keine Ungläubigen.«
»Ja, ja, ja …«
»Wir alle sind gezwungen zu glauben.«
»Das hatten wir schon«, antwortete sie und wischte mit einer abweisenden Handbewegung den Ansatz einer philosophischen Diskussion von sich.
Noor kam zurück. Sie stellte ein silbernes Tablett mit zwei Kaffeetassen, Milch und Zucker auf den Marmortisch. Nachdem sie gegangen war, begann Madame Amsberg zu flüstern. »Die erbt nichts, wenn ich einmal tot bin. Das bekommt alles das Tierheim.«
Monsieur Haslinger verzog keine Augenbraue und tat auch sonst nicht überrascht. Er goss Milch ein und trank einen ersten Schluck, in aller Ruhe, denn er wusste, dass es die Unwahrheit war. Als er die Tasse abgestellt hatte, sagte er: »Ich weiß, dass Sie ein guter Mensch sind.«
Madame Amsberg grummelte, als ob das Wort »gut« zu sehr nach Weihwasser riechen würde.
Er hörte es und fragte: »Wie geht es Ihnen?«
»Wie soll’s mir schon gehen? Ich kann nicht laufen und bei der Hitze auch nicht schlafen.« Sie griff zur Tasse und führte sie zittrig an ihre Lippen. Sie roch kurz am Kaffee, rümpfte die Nase und stellte die Tasse wieder ab, ohne getrunken zu haben.
»Und wie geht es Ihrer Seele?«
»Meiner Seele?«
»Ja, Ihrer Seele.«
»Hm.« Madame Amsberg begann nachzudenken. Ihr Blick ging durch ihn hindurch, und Monsieur Haslinger beobachtete, wie sich ein sanftmütiger Schleier über ihr Gesicht legte, ganz leicht.
»Nach meinem Mann …«, sagte sie und neigte ihren Hals zur Seite, als würde sie von der Vergangenheit träumen, »… hatte ich niemanden mehr in meiner Nähe. Am Anfang wollte ich nicht, später wollte ich, konnte aber nicht. Jetzt bin ich einsam, und das Gefühl bringt mich langsam um.«
Beim Reden war ihre Stimme leise, und ihre Angriffslust wirkte gestillt. Doch ehe Monsieur Haslinger antworten konnte, richtete sie sich auf, als würde sie den Moment der Schwäche von sich schütteln und als wäre alles nicht der Rede wert. »Haben Sie jemanden?«, fragte sie. Auch ihre knorrige Stimme war zurück.
»Ich bin Pfarrer, Madame.«
»Papperlapapp! Heutzutage hat doch jeder Pfarrer eine heimliche Geliebte oder einen Geliebten. Einen Mann, eine Frau – und die Abartigen ihre Mutter. Erzählen Sie also keine Märchen, Pastoor Haslinger.«
Monsieur Haslinger wusste, dass sie recht hatte, und er wusste, wie sie über sein Gelübde dachte. Deshalb sah er sie freundlich an und fuhr in leichtem Ton fort: »Madame, ich habe den Weg als Pfarrer gewählt und bin mit der Entscheidung glücklich.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie sind doch ein kluger und attraktiver Mann. Die Frauen mögen Sie. Außerdem wissen Sie doch, wie unsinnig das Zölibat ist«, sagte sie schulmeisterlich.
Monsieur Haslinger sah sie an, und Madame Amsberg wartete auf seine Antwort. Offenbar hoffte sie, dass er die Stille mit einem Geständnis durchbrach. Kurz überlegte er sogar, von seiner neuen Nachbarin zu erzählen. Doch er schwieg und lächelte, und Madame Amsberg akzeptierte widerwillig sein Schweigen, obwohl sie beide wussten, dass darin ein starkes Mitteilungsbedürfnis verborgen lag.