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»Im Ernst?« Doktor Hoffmann blickte überrascht.

Monsieur Haslinger sah den Unmut seines Freundes, doch er bestand auf seinem Plan. Gutmütig zwängte sich sein Freund also hinaus auf den schmalen Balkon, wo zwei Stühle und ein Klapptisch aufgestellt waren. Der stämmige Mann fand kaum Platz in dem engen Spalt zwischen Tisch, Stuhl, Blumentöpfen und Geländer. Als er sich setzte, stieß er mit dem Knie gegen das wackelige Tischgestell. Dabei fielen Figuren vom Schachbrett, und er stöhnte leise, weil er nicht wusste, wie er sich bücken sollte, um sie wieder aufzuheben.

Monsieur Haslinger kam ihm zuvor. Er hob die Figuren vom Boden auf und setzte sich zu ihm, mit Blickrichtung auf die Terrasse von Madame Janssen. In einer Hand hielt er eine gekühlte Flasche Champagner. Kurz besah er das Etikett, dann öffnete er den Drahtverschluss und drückte mit beiden Daumen den Korken fest nach oben, damit es extra laut knallte.

»Veuve Clicquot!« Doktor Hoffmann staunte.

»Warum nicht?«, sagte Monsieur Haslinger und zweifelte kurz, ob er mit dem teuren Getränk nicht übertrieben hatte.

»Gibt’s was zu feiern?«

»Nein. Ich hatte nur Lust darauf.« Monsieur Haslinger füllte zwei Rotweingläser, weil er keine passenden Champagnergläser hatte. Ein Glas reichte er seinem Gast. »À ta santé, mon ami.«

»Santé!« Doktor Hoffmann trank und stellte sein Glas ab, für das er kaum Platz fand. Dann nahm er einen weißen und einen schwarzen Bauern, versteckte sie unter dem Tisch in je einer Hand und ließ seinen Gegenspieler auf eine der geschlossenen Fäuste tippen. Monsieur Haslinger bekam Weiß. Er machte schnell den ersten Zug, und auch Doktor Hoffmann zog rasch, weil sie beide die obligaten Eröffnungszüge spielten.

Nach dem fünften Zug erzählte Doktor Hoffmann eine gewagte Geschichte aus dem Krankenhaus, über die er selbst herzhaft lachte. Monsieur Haslinger spielte lieber in konzentrierter Stille, doch weil das Lachen seines Freundes so schön laut über den Hof schallte, war er glücklich.

In der Mitte ihrer ersten Partie begann der Champagner zu wirken. Monsieur Haslinger bekam Lust auf Musik und legte eine Schallplatte auf. Jazzmusik umspielte den Balkon wie warme Meeresluft. Schwungvoll setzte er sich zurück auf den Balkon und warf einen Blick auf die Terrasse von Madame Janssen, insgeheim darauf hoffend, von ihr beobachtet zu werden. Doch er sah sie nicht, obwohl ihre Terrassentür offen stand.

Monsieur Haslinger tat den nächsten Zug, und je leerer die Flasche wurde, desto öfter blickte er hinüber. Und je öfter er hinüberblickte, desto unverständlicher wurde ihm die Partie. Irgendwann waren die Holzfiguren in einem Wirrwarr verflochten. Er konnte nicht mehr nachvollziehen, was er oder gar Doktor Hoffmann beabsichtigte oder wer von beiden sich im Vorteil befand.

»Schach.«

Monsieur Haslinger reagierte nicht.

»Schach!«, wiederholte Doktor Hoffmann, etwas lauter als zuvor. Dabei hob er sein Gesicht mit dem breiten Kinn und sah, dass Monsieur Haslinger nicht bei der Sache war. »Wieso blickst du ständig da rüber?« Leicht verärgert über die Teilnahmslosigkeit seines Freundes, drehte sich Doktor Hoffmann um. »Was ist da?«

»Nichts.« Monsieur Haslinger blickte wieder auf das Schachbrett, und Doktor Hoffmann gab sich mit der Antwort zufrieden. »Ich sehe kein Schach.«

»Mit dem Springer auf g6.«

Erst jetzt erkannte er die Bedrohung für seinen König, wusste aber nicht, wie er sich aus der Situation befreien sollte. Und weil sein Wille zu gewinnen schwach war, überlegte er nicht lange und zog den Bauern auf der d-Linie von Schwarz auf Weiß.

»Revanche?«, hörte er umgehend fragen und wusste, dass er matt gesetzt wurde.

Sie bauten die Figuren neu auf. Doktor Hoffmann zündete sich zwischendurch eine Zigarre an, ließ den Rauch durch den Mund entweichen und sah zu, wie er innig mit der Abendluft verfloss. Als er sich wieder den Figuren zuwandte, riskierte Monsieur Haslinger einen weiteren Blick. Aber auf der Terrasse gegenüber war noch immer nichts zu sehen, und dieses Nichts brannte wie der Zigarrenrauch in seiner Brust.

Die zweite Partie begann. Beide spielten konzentriert. Auch Monsieur Haslinger spielte diesmal präzise und mit Überlegung. Doktor Hoffmann wurde immer leiser, fluchte sogar einmal, nahm schlechte Züge zurück, und mit der Fortdauer des Spiels bekam sein Selbstbewusstsein leichte Risse. In einer entscheidenden Phase war es Monsieur Haslinger sogar gelungen, den Bauern der b-Linie bis auf das vorletzte Feld zu bringen; er brauchte nur noch einen Zug, um seine Dame zurückzugewinnen. Es war eine offenkundige Chance, und ihm war mulmig. Ein letztes Mal studierte er seine Position, konnte jedoch nichts finden, was gegen eine Bauernumwandlung sprach.

Er blickte in das Gesicht von Doktor Hoffmann, um sich zu vergewissern. Der saß still da, die Augen unsicher auf das Brett gerichtet, als würde er jeden Moment verlieren. Monsieur Haslinger war beruhigt, zog den Bauern auf b8 und wollte ihn bereits gegen seine Dame tauschen – da schrie Doktor Hoffmann auf: »Maaaatttt!«

Eilig zog er seinen Springer auf c6 und brach in einen kraftvollen, überschlagenden Jubel aus. Im ganzen Hinterhof war er zu hören. Auch von Madame Janssen. Sie stand amüsiert in der dunkelroten Abendsonne und lächelte grüßend herüber. Monsieur Haslinger sah sie und lächelte zurück, denn plötzlich war ihm der Jubel über seine Niederlage willkommen, um dieser wunderbaren Frau seine Lebenslust zu beweisen.