Am Sonntagmorgen ging ein lang anhaltender Regen über Brüssel nieder. Die Nässe hing an den offenen Fenstern, und die Luft im Zimmer war frisch und klar geworden.
Monsieur Haslinger öffnete die Augen. Ihm war kühl, und er sah, dass die Bettdecke nicht über ihm lag, sondern halb zu Boden hing. Er zog sie hoch, bedeckte Brust und Bauch, blickte auf die Uhr, drehte sich von der Seite auf den Rücken und dachte daran, dass Madame Janssen nicht wusste, dass er Pfarrer war, und dass er es ihr gleich sagen musste, um Missverständnisse zu vermeiden.
Der Wind schlich durch den Vorhangspalt. Er war frisch und streifte sein Bein, das unter der schlafwarmen Bettdecke hervorragte. Er zog es ein, blickte zur Seite.
Auf dem Tisch stand die gerahmte Mutter Jesu. Sie sah ihn an. Er wandte sich ab und lauschte dem Regen. Es war ein gleichmäßiges Rauschen. Das Naturgeräusch besänftigte seinen inneren Takt, der wegen des bevorstehenden Besuchs bei Madame Janssen aus dem Rhythmus geraten war.
Gott sei Dank war es nur ein Brunch und kein Abendessen. Ein Essen und Gespräch am Vormittag war nicht so intim, dachte er mit aufgeregter Vorfreude.
Er stand auf und stellte das Radio an. Ein Nachrichtensprecher sagte etwas von China und vom Krisentreffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Er wechselte den Sender und fand Musik von Gregory Porter, dessen Stimme sich im Zimmer auszubreiten begann.
Er kannte den Text und sang mit, während er das Bettzeug richtete. Er straffte das weiße Leintuch, faltete die Bettdecke, schüttelte das Kissen auf und spannte die Tagesdecke darüber. Anschließend ging er ins Bad und duschte.
Das Wasser fiel von oben klar auf ihn herab, und immer wieder reckte er sein Gesicht dem sauberen Wasserstrahl entgegen und wusch sich seinen unruhigen Schlaf aus den Augen. Würde heute etwas ins Rollen kommen, was sich nicht mehr einfangen ließe?
Er trocknete sich ab, rasierte sich nass, gab Rasierwasser auf seine Wangen, kämmte sein volles graues Haar zu einem Scheitel und betrachtete sich im Spiegel. Wie schnell doch das Vergängliche seinen Zustand wechselte, dachte er und ging neugierig einen Schritt näher an das Glas heran. War an ihm etwas begehrenswert? Vielleicht seine blauen Augen, die könnten einer Frau gefallen.
Mit dem Handtuch um die Hüften ging er zum Schrank, um sich anzukleiden. Er zog seinen dunkelblauen Anzug heraus, den er vor Jahren gekauft hatte, hielt ihn vor sich, streifte mit der Hand über den Stoff, der leicht zerknittert war, entfernte ein paar Flusen und probierte ihn an.
Er hatte ihn lange nicht getragen, und weil er abgenommen hatte, war das Sakko an den Schultern zu breit und der Hosenbund zu weit. Außerdem war der Schnitt nicht tailliert, wie bei den modischen Anzügen heutzutage.
Er blickte an sich hinab. Konnte er so gehen? Madame Janssen war eine weltgewandte Frau mit einem auffälligen Kleidergeschmack. Machte er sich damit lächerlich?
Er zog den Anzug aus, hängte ihn zurück in den Kleiderschrank und zog an, was er gern trug – ein weißes Hemd, eine schwarze Baumwollhose und das Leinensakko. Es war ohnehin nur ein Nachbarschaftsbesuch. Er musste ihr nicht zeigen, dass er ein begehrenswerter Mann war, der sich gut anzuziehen wusste, oder dass sie eine begehrenswerte Frau war, für die er sich besonders sorgfältig kleidete.
Fertig angezogen, blickte er auf die Uhr. In fünf Minuten waren sie verabredet. Er könnte losgehen, aber er setzte sich stattdessen auf den Stuhl, weil in Brüssel Pünktlichkeit als unhöflich und Unpünktlichkeit als höflich galt. Schweigend saß er da und wartete. Fünf Minuten später schloss er die Tür hinter sich.