15

Er trat vom Regen in ihr trockenes Haus. Ein Tropfen rollte noch über seine Stirn, als Madame Janssen die Wohnungstür öffnete und ihr leuchtendes Lächeln zu ihm drang. Er nahm sein Gastgeschenk von der rechten in die linke Hand und streckte die frei gewordene Hand Madame Janssen entgegen. »Bonjour!«

Sie ignorierte seine Distanziertheit. »Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte sie, legte die Hand auf seine Schulter und küsste ihn unaufgeregt herzlich auf die Wange, sodass er sich wünschte, sie würden in Paris leben, wo man sich zur Begrüßung zweimal küsste, nicht einmal wie in Brüssel.

»Sie riechen gut«, schob sie hinterher.

Monsieur Haslinger wurde verlegen, weil er in den letzten sechzig Jahren nicht auf die Idee gekommen war, dass ihm ein Geruch anhaften könnte, den Frauen anziehend fanden. Instinktiv schnupperte er an seinem Kragen. Was hatte er für einen Geruch? Er roch doch nach nichts. Was meinte sie? War es die Seife? Vermutlich das Rasierwasser.

Madame Janssen schloss die Tür. »Behalten Sie die Schuhe ruhig an.«

»Die sind ganz nass.«

»Egal.«

Sie ging voraus in den Wohnraum. Der war schmal und lang wie das ganze Haus, dabei lichtdurchflutet und mit einer weiblichen Note gestaltet. Es gab moderne Möbel und Bilder mit vielen hellen Farben, die aus dem Raum einen persönlichen Ort machten.

Monsieur Haslinger blickte sich um und fühlte sich sofort wohl. »Vom Blumensamariter«, sagte er und hielt ihr den Elefantenfuß entgegen, den er extra in einen eleganten grauen Steintopf umgepflanzt hatte.

Madame Janssen lachte entspannt. »Merci!«

Bevor sie die Pflanze annahm, berührte sie den Stamm, als wollte sie ihn streicheln.

Er sah sie dabei an. Die Klarheit ihres Blickes, der unglaublich blasse Teint, der sich an den Wangen rosa färbte, ihre hoheitsvolle Haltung, ihre Würde, ihre Schönheit.

Sie brachte den Topf in die Küche. Noch im Gehen fragte sie: »Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?«

»Gern.«

»Welchen trinken Sie?«

»Schwarztee?«

»Ich habe Schwarztee aus Tansania. Ich hätte aber auch Rooibostee aus den südafrikanischen Zederbergen.«

Monsieur Haslinger überlegte. »Rooibos, bitte«, sagte er, weil er in Anwesenheit der herzlichen Gastgeberin unvermittelt begann, Abwechslung als etwas Schönes zu empfinden, als etwas, was er unbedingt kosten sollte.

Madame Janssen stellte den Elefantenfuß ins Licht, das durch die Tür fiel, die straßenseitig auf einen winzigen Balkon führte. Monsieur Haslinger blickte kurz auf den blühenden Flieder, dessen Spitzen sich an das schwarze Eisengeländer klammerten. Dann beobachtete er Madame Janssen. Sie ging in die Küche und goss Wasser in einen Kocher. Die Hüften lehnte sie dabei gegen die Anrichte, die Falten ihres langen Kleides fielen verspielt zu Boden und tanzten darüber hin und her.

Strahlend schön sah sie aus, dachte Monsieur Haslinger und überlegte, wie er ihr ein Kompliment machen konnte. Er suchte nach Worten. Doch es fiel ihm nicht leicht, da ihm die Gewohnheit fehlte. Er wollte ihr Aufmerksamkeit und Anerkennung zeigen, fürchtete aber, dass ihm etwas Banales entschlüpfte oder gar eine zu gewagte Avance, die sie und ihn in Verlegenheit brächte und zu der er sich nicht zu verhalten wüsste.

Er schwieg und ging durch den Wohnraum, betrachtete das Bücherregal, einen Geigenkoffer und eine bunte afrikanische Holzmaske, die halb fröhlich, halb grimmig von der Wand starrte. Wirklich beeindruckt war er von den unzähligen Kakteen. Überall standen sie. Manche hatten einen flachkugeligen Körper von kaum einem Zentimeter Durchmesser. Manche wuchsen aufrecht und aufstrebend, manche kriechend und hängend. Alle hatten Dornen, nur ein sehr alter Kaktus hatte sie bereits abgeworfen.

Madame Janssen trat zu ihm. »Mögen Sie Kakteen?«

»Sie sind genügsame Überlebenskünstler. Das gefällt mir.«

»Viele mögen die Dornen nicht.«

»Bei etwas Stacheligem fällt es uns schwer, den Nutzen zu durchdringen. Wenn man ihren wahren Wert aber erst einmal kennt, ist es leicht, sie zu lieben.«

»Da haben Sie recht.«

»Die größten Dornen verwendete man früher als Grammophonnadeln.«

»Tatsächlich?«

»Wussten Sie das nicht?«

»Nein.«

Monsieur Haslinger entdeckte in ihren Augen Interesse und Wertschätzung für sein Wissen, und weil er glücklich war, dass sich zwischen ihnen ein lockeres Gespräch entspannte, erzählte er mehr von den Dingen, die er über Kakteen wusste.

Dabei stellte sich zwischen ihnen eine angenehme Balance ein. Und ganz gelöst und noch mitten im Reden, setzten sie sich an den schön gedeckten Tisch.

Er sagte: »Danke für die Einladung.«

Und: »Es ist wirklich schön bei Ihnen.«

Dann begannen sie zu essen.

Es gab Croissants, Pistolets, Confiture, Käse und Butter. Auch eine Flasche Champagner stand auf dem Tisch. Madame Janssen goss ihnen ein. Sie stießen an und tranken und aßen und redeten.

Zwischendurch blickte Monsieur Haslinger einmal durch das Fenster auf seinen Balkon mit den blühenden Geranien und erfreute sich an der neuen Perspektive. Ansonsten betrachtete er Madame Janssen. Wie sie ihre Lippen beim Reden bewegte. Wie sie ihre Serviette an den Mund führte, bevor sie trank. Wie sie nach jedem zweiten Bissen das Besteck auf dem Teller ablegte, um alles langsam und genüsslich zu erschmecken, ehe sie das Besteck wieder aufnahm.

»Darf ich nachschenken?« Ihre Gläser waren leer, und Madame Janssen griff zur Champagnerflasche. Monsieur Haslinger nickte, und sie goss nach. Zuerst sein Glas, dann ihres. Sie tat es etwas ungeschickt, und beide schlürften eilig den überquellenden Schaum vom Glas. Dabei sahen sie sich an und lächelten, und er war verblüfft, wie außergewöhnlich charmant sie war und wie sie sein Interesse weitaus mehr weckte, als es andere Frauen in seinem Leben jemals getan hatten.

Dass er ihr unbedingt sagen wollte, dass er Pfarrer gewesen war, hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits vergessen.