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Nach einem weiteren besonders heißen Tag musste Monsieur Haslinger mitansehen, wie die Hitze die Blumen von Madame Janssen quälte. Jede Pflanze wirkte staubtrocken. Alles dörrte vor sich hin. Auch der schmächtige Zitronenbaum sah aus, als wäre sein Leben bereits verdunstet.

Er blickte in den Himmel. Würde es heute noch regnen? Eine einzige Federwolke konnte er sehen. Sie stand regungslos am blauen Himmel. Die würde sicher verschwinden, ehe sie zu einer Schauerwolke ausgewachsen war, dachte er.

Monsieur Haslinger ging in sein Zimmer, zog aus der Tischlade sein Notebook und suchte im Internet die Telefonnummer von Madame Janssen. Er fand sie nicht, nur eine Mailadresse. Kurz spielte er mit dem Gedanken, ihr zu schreiben, doch das erschien ihm zu langwierig, schließlich wusste er nicht, ob und wann sie die E-Mail las und ob es überhaupt ihre aktuelle Adresse war.

Eine Weile drehte sich Monsieur Haslinger gedanklich im Kreis, dann zog er sich die Schuhe an, verließ das kühle Haus, lief die glühende Straße entlang und bog wenig später um die Ecke, Richtung Madame Janssen. Vor der Haustür, im Schatten des Flieders, verschnaufte er und dachte nach: Was, wenn sie tatsächlich zu Hause war? Was würde sie denken? Dass er die Blumen als Ausrede schützend vor sich hielte?

Er klingelte und wartete.

Nichts.

Er klingelte nochmals.

Wieder nichts.

Dann lauschte er.

War etwas zu hören?

Nichts.

Im Haus gab es eine zweite Wohnung. Vielleicht wusste der Nachbar mehr?

Er klingelte dort und wartete.

Abermals nichts.

Wer könnte ihre Telefonnummer haben? Ihm fiel niemand ein, und er wollte schon gehen, als jemand die Tür öffnete. Eine junge Dame trat heraus. Sie trug schwarze Kleidung und roten Lippenstift, der dunkel auf ihrem Mund schimmerte. Er kannte sie vom Sehen. Sie war ihm in der Nachbarschaft mehrmals stumm über den Weg gelaufen. Früher hatte sie lange dunkle Locken gehabt, jetzt waren ihre Haare kurz geschoren, das überraschte ihn, aber es stand ihr gut.

»Bonjour, Mademoiselle, wissen Sie, wo ich Madame Janssen finde?«

Die junge Dame starrte ihn an. Sie hatte einen blassen Teint und sah müde aus, als wäre sie soeben aus dem Bett gekrochen. Ohne zu grüßen, zuckte sie mit den Schultern. »Keine Ahnung. Zu Hause?« Sie deutete auf die Türklingel.

»Nein. Sie öffnet nicht.«

»Dann weiß ich es auch nicht.«

»Haben Sie ihren Wohnungsschlüssel?«

»Sind Sie ein Freund?« Sie sah ihn skeptisch an.

»Ein Freund?«, fragte er nach.

»Ja, ein Freund!«

Monsieur Haslinger war überrascht von der Frage. Was war er eigentlich für sie? Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Freundschaft wäre übertrieben. Dafür war alles zu jung. »Ein Nachbar«, sagte er.

»Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich hab ihren Schlüssel nicht.«

»Jemand anders vielleicht?«

»Warum wollen Sie hinein?«

Als Monsieur Haslinger die Frage hörte, kam es ihm eigenartig vor, den Schlüssel einer fremden Frau für eine fremde Wohnung zu fordern, weil die Blumen auf der Terrasse Wasser benötigten. Auch die Tatsache, dass er Madame Janssen vermisste und sich sorgte, war wohl kein überzeugendes Argument, um das Betreten der Wohnung zu rechtfertigen. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nur gesehen, dass ihre Blumen Wasser benötigen, also dachte ich, Sie könnten sich darum kümmern.«

Die junge Dame sah ihn ungläubig an, ohne etwas zu sagen. So verharrten sie einige zähe Sekunden, ehe sie sich umdrehte und überprüfte, ob die Tür tatsächlich ins Schloss gefallen war. Es war eine Geste des Unwohlseins. Monsieur Haslinger erkannte das, lächelte um Entschuldigung und sagte: »Trotzdem danke.«

Zu Hause setzte sich Monsieur Haslinger auf den Balkon. Die heiße Luft wog schwer, genauso wie der Wunsch zu wissen, wo Madame Janssen war, warum sie sich seit dem Brunch nicht meldete, warum sie ihre Blumen nicht umsorgte. Er wusste, dass mit den Wünschen die Unzufriedenheit kam. Dass man nicht reif war zum Glücklichsein, die Seele keine Ruhe fand, solange man Wünsche jagte. Er wusste aber auch, wie schwer es war, wunschlos zu sein und das Leben in diesem Moment so zu akzeptieren, wie es sich vor einen stellte.

Irgendwann begann sich der Himmel zu bewegen. Ein Wolkenhaufen schob sich an der Sonne vorbei. Ein Wind kam auf, der die Esche streifte. Monsieur Haslinger hörte die Blätter rascheln und sah, dass sich über ihm etwas formierte und zu Größerem quoll. Nichts Bedrohliches, nur die Schatten, die zügig vom Wind über die Dächer getrieben wurden, waren etwas großflächiger geworden.

Eine Stunde später wurde es aber noch dunkler, der Wind noch böiger, und es begann zu regnen. Monsieur Haslinger sah, wie die Tropfen auf ihre verdorrten Blumen fielen. Er war dankbar dafür, aber nicht wunschlos glücklich.